Nira und der Kristall des ewigen Wassers. Elchen Liebig

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Название Nira und der Kristall des ewigen Wassers
Автор произведения Elchen Liebig
Жанр Учебная литература
Серия
Издательство Учебная литература
Год выпуска 0
isbn 9783347082724



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die meiste Zeit des Tages verbrachte sie draußen. Sie sprang auf ihr Bett und kramte vorsichtig ihr kleines, gezacktes Tröpfelblatt aus ihrer Hosentasche und platzierte es auf die Kommode. Sie war drauf und dran, es sich unter die Zunge zu legen, weil sie Durst verspürte. Doch durch die Kräuterschule wusste sie, dass man das Tröpfelblatt nur wenige Male verwenden konnte, somit hob sie es sich lieber für einen späteren Zeitpunkt auf. Sie zog ihre Schuhe und ihre Hose aus und krabbelte unter ihre Bettdecke, die ihre Mamo vor Kurzem aus vielen bunten Stoffresten genäht hatte. Geduldig und munter wartete sie darauf, dass ihre Eltern und ihr großer Bruder das Haus verließen, um sich auf den Weg zu Großpapo zu machen. Währenddessen grübelte sie darüber nach, wo ihr kleiner Hund Berry wohl steckte. Denn er war nach der Versammlung auf dem Dorfplatz plötzlich verschwunden. Das war sehr ungewöhnlich, denn ihr kleiner Freund war immer in ihrer Nähe. Musste sie sich um ihn Sorgen machen? „Ach, ich glaube nicht“, murmelte sie leise vor sich hin. Sie schmunzelte, als sie ihn gedanklich vor Augen sah. Er ging ihr bis zu den Knien und sie liebte sein kurz gelocktes, weißbraunes Fell, was sich kuschelig anfühlte. Seine kleinen Schlappohren, wovon das rechte Schwarz war und sich aufstellte, wenn er sich besonders viel Mühe gab, um etwas zu erlauschen, sahen immer lustig aus. Nira kicherte leise vor sich hin, weil sie auch daran denken musste, dass Berry oftmals die Wörter verdrehte und dabei die witzigsten Sätze herauskamen. „Vielleicht ist es ja gut so, dass er nicht weiß, was ich heute Nacht noch vorhabe. Er wäre bestimmt nicht damit einverstanden gewesen.“ Nira wurde aus ihren Gedanken gerissen, als sie die Haustür zuklappen hörte. „Ja … haha. Sie sind weg!“, murmelte sie erfreut. Sie wartete eine Weile und horchte, ob nicht doch jemand im Haus war. Nein, es herrschte absolute Ruhe und sie konnte sich jetzt auf den Weg machen. Nira sprang aus ihrem Bett und zog sich für ihren nächtlichen Ausflug an. Im Dunkeln hüpfte sie in ihre geliebte kurze braune Hose, denn Röcke, wie sie alle Mädchen trugen, waren ihr ein Graus. Sie schlüpfte in ihre weichen Schuhe und zog ihren dunkelgrünen Kapuzenwollpullover über, damit sie eine Kopfbedeckung für ihren auffälligen Lockenschopf hatte. Oft genug hatte sie sich über ihre störrischen Haare aufgeregt. Egal wie sie sie kämmte, die dichten Locken wanderten immer dahin, wo sie nicht liegen sollten. Als ob das allein nicht schon reichte, denn alle Snowlies hatten rote Haare, nur sie war die Einzige im Dorf, die durch ihren weißblonden Lockenschopf auffiel, sodass man sie von Weitem sah. Sie hatte sie von ihrem Großpapo geerbt, seine waren jedoch mittlerweile hell ergraut. Sie nahm es in Kauf, dass es natürlich viel zu warm unter der selbst gestrickten Wolle werden würde, aber sie befürchtete, vielleicht erkannt zu werden, sollte sie jemandem begegnen. Sie kletterte leise die Holztreppe herunter und verließ das Haus. Unwohlsein spürte sie in ihrer Magengegend, als sie auf der lautlosen Straße stand. Ihr war mit einem Mal klar, dass sie sich bisher noch nie allein getraut hatte, nachts durch das Dorf zu ziehen. Und mit dem Bewusstsein, dass unter der Gemeinde wohl ein Dieb weilte, wurde das Gefühl im Magen nicht besser. Sie schaute zum Himmel hoch und stellte erleichtert fest, dass der Mond wie eine helle, gelbe Laterne herab schien, als wäre das letzte Strahlen der Sonne an ihm haften geblieben und somit die Dunkelheit ihr eigenes Licht bekam. Sie machte sich auf den Weg und während sie die Straße schleichend hinter sich ließ, hörte sie aus den halb geöffneten Fensterläden hier und da schlummernde Geräusche. Besonders aus dem Haus der dicken Frau Gresselhüpf ertönte so ein unüberhörbares Schnarchen, dass man annehmen konnte, sie würde in dieser Nacht einen Pokal für die lauteste Schnarchmusik bekommen. Nira musste sich sehr zusammen reißen, um nicht laut zu kichern, und hielt sich vorsichtshalber die Hand vor den Mund. Gleich hatte sie es geschafft. Es waren nur noch ein paar Schritte, um links in die Süd-Ost-Straße abzubiegen, ein kurzes Stück geradeaus, bis die Südstraße begann und dann war es nicht mehr weit, um zum Haus ihres Großpapos zu gelangen. Nira versuchte, sich daran zu erinnern, wann sie das letzte Mal bei ihm war und stellte fest, dass es schon viele Tage her sein musste. Sie nahm sich vor, öfter ihren Großpapo zu besuchen. Ihr Magen begann wieder vor Unbehagen zu drücken und ihr Atem kroch laut in ihre Ohren. War es die Stille um sie herum? Nira schaute etwas ängstlich zurück. Niemand war weit und breit zu sehen. Sie zog die Kapuze vorsichtshalber noch tiefer ins Gesicht, obwohl ihr die Wärme unter ihrem Pullover bereits einen feuchten Rücken bescherte. Nira überquerte die schmale Südstraße und lief geduckt auf das Haus ihres Großpapos zu. Ein breiter Rosenbogen lud zum Betreten seines Grundstückes ein. Sie ging hindurch und folgte den schmalen und von kleinen Buchsbäumen umsäumten Gehweg, welcher geradewegs zur Haustür führte. Rechts davon begrüßte ein prachtvoll ovales Holzschild auf einem Pflock die Besucher. Der leuchtende Schein des Mondes ließ darauf mittig den Buchstaben „B“ und die geschwungenen Verzierungen drumherum goldig glänzen, was jeden wissen ließ, dass hier der Bürgermeister wohnte. Niras kleine Hand strich mit Stolz flüchtig über das Schild. Sie liebte und bewunderte ihren Großpapo. Er wirkte beruhigend auf sie, obwohl er mit Disziplin und einer gewissen Strenge das Dorf regieren musste. Für Spiele und Streiche war er für Nira immer zu haben und so manch gemeinsamer Unfug blieb für sie beide geheim. Nira sah auf, als sie seine vertraute Stimme aus einem geöffneten Fenster hörte. Sie erkannte sofort, aus welchen Räumen es kam. „Aha! Sie sitzen wie immer in seinem Besprechungszimmer. Dachte ich's mir doch“, sagte sie kaum hörbar. Sie schlich geschwind an der Hauswand entlang und sah dabei im Mondlicht die Umrisse der Blumen im Garten, die vertrocknet ihre Köpfe bis zum Boden hängen ließen. Nira schaute zu den hohen Gräsern, die sich seitlich des Hauses zierten und sich immer im Wind wogen. Auch sie bogen sich kraftlos der Erde entgegen. „Oh… Großpapo, wie traurig. Dein Garten ist auch so vertrocknet“, flüsterte Nira. Sie fragte sich kurz, wie lange die Wassernot wohl noch andauern würde, während sie lautlos ans geöffnete Fenster ging. Sie stellte sich auf ihre Zehenspitzen und als sie mit ihren blauen Kulleraugen ins Innere des Raumes Luschen wollte, erschrak sie, als sie plötzlich den Rücken ihres Großpapos vor sich sah. Unruhig hatten sich seine Arme auf dem Rücken niedergelassen, die rechte Hand hielt die linke und seine Finger gingen immer hin und her. Nira mochte kaum atmen. Damit hatte sie eben nicht gerechnet. Sie blieb regungslos am Fenster stehen, aus Angst ihr Großpapo könnte sie bemerken. Dabei lauschte sie gespannt seinen Worten, die sehr erregt klangen. „Ihr wisst genau, dass ich das Kind ungern auf so eine gefährliche Reise schicke, aber Nira ist nun mal die Einzige aus dem Dorf, die es schaffen könnte!“ Großpapo entfernte sich vom Fenster und Nira hatte jetzt freie Sicht über das ganze Zimmer, das spärlich mit ein paar Kerzen beleuchtet war. „Hä? Wieso sprechen sie über mich? Was soll ich schaffen?“, fragte Nira sich verwundert. Sie sah ihre Mamo, ihren Papo, ihren Bruder Jo und ihre Tante Nele an Großpapos großen, runden Holztisch sitzen. „Diese Reise ist viel zu gefährlich, Großpapo“, redete Jo dazwischen. „Lass mich anstelle von Nira gehen. Sie ist viel zu jung und unerfahren. Sie weiß nichts von dieser fremden Welt!“ Niras Mamo schluchzte ständig und schnäuzte laut in ihr Taschentuch. „Jo hat recht. Ich bitte dich, lass ihn lieber gehen. Er ist groß und kräftig und Nira? Sie ist doch noch ein Kind!“, flehte Mamo und schnäuzte wieder weinend in ihr Taschentuch. Tante Nele, die links von ihr saß, ergriff tröstend ihren Arm. Großpapo stützte sich mit seinen Händen am Tisch ab und holte tief Luft. Er nickte verständnisvoll mit seinem Kopf, bevor er wieder zu seiner Familie sprach. Es war schwierig für ihn, ihnen zu erklären, dass es keine andere Lösung geben würde. „Ja, ich weiß, aber ihr wisst doch, dass nur Auserwählte dorthin gelangen können.“ Er blickte zu seinem Enkel. „Mein lieber Jo, ich finde es sehr ehrenvoll von dir, dass du anstelle von Nira gehen möchtest. Mir wäre es auch lieber, aber der Wald wird sich für dich nicht öffnen und einen anderen Weg gibt es nicht zur nördlichen Welt.“ Großpapo machte eine kurze Pause, bevor er weitersprach, und Jo schaute ihn etwas aufmüpfig an. „Jo, lass mich es erklären“, fuhr Großpapo fort. „Ich erzählte dir mal von dem Ereignis, was sich in deinem Elternhaus zutrug, damit du weißt, warum ich jetzt so handeln muss!“ Jo nickte und senkte den Blick. Er hatte die Geschichte nie ernst genommen, die sein Großpapo ihm jüngst offenbart hatte. Und ausgerechnet jetzt sollte sie wahr sein? „Ich weiß Jo, du hast mir nicht wirklich geglaubt. Aber deine Eltern sind Zeugen und können es dir bestätigen. Das alte Weib verkündigte in jener Schneenacht, dass nur Nira nach meiner Amtszeit als Auserwählte die vier Welten betreten darf, wenn wir hier in Not sind. Auch gab sie ihr die Gabe, mit Tieren und Pflanzen zu sprechen, was für die Reise sehr wichtig ist. Ja … die Alte kommt immer, wenn es an der Zeit ist. Jo, es tut mir leid. Nur Nira ist in der Lage, uns einen neuen Wasserkristall aus der nördlichen Welt zu holen“, sagte Großpapo und seufzte