Wie die Sonne in der Nacht. Antje Babendererde

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Название Wie die Sonne in der Nacht
Автор произведения Antje Babendererde
Жанр Учебная литература
Серия
Издательство Учебная литература
Год выпуска 0
isbn 9783401807621



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integriert.

      »Mein Ururururgroßvater bekam Ende des achtzehnten Jahrhunderts vom spanischen König Land am Rio Grande zugeteilt und seitdem lebt meine Familie in Pilar«, erzählte Ronnie stolz. »Einst hat uns Spaniern das ganze Rio-Grande-Tal gehört, aber die Anglos nehmen uns mehr und mehr von unserem rechtmäßig zugeteilten Land weg.«

      Ich runzelte die Stirn und wollte ihn fragen, ob er im Geschichtsunterricht nur mit einem halben Ohr zugehört hatte, denn dass die Spanier dieses Land zuvor den Indianern weggenommen hatten, schien er vergessen zu haben. Doch dann besann ich mich. Ich wollte nicht streiten und uns den Abend damit verderben.

      Nach dem Essen fuhren wir zur Adobe Bar im Hotel. Die Tex-Mex-Band spielte gut gelaunte Musik und Ronnie und ich tanzten sogar. Ich versuchte, die Gedanken an Nils fortzuspülen, und Ronnie unterstützte mich großzügig dabei, indem er dafür sorgte, dass ich einen Margarita nach dem anderen trank.

      Ich war schnell ziemlich beschwipst, und als Ronnie mich nach einem Tanz küsste, wusste ich nicht, ob meine weichen Knie von seinem Kuss kamen oder von den extra starken Margaritas.

      Kurz vor Mitternacht führte Ronnie mich zu seinem Lowrider, und erst an der frischen Luft merkte ich, wie betrunken ich tatsächlich war. Nicht gut, Mara. Immer wieder sagte ich mir, dass ich Ronnie am Tor verabschieden würde und ihn keinesfalls ins Haus lassen durfte – jedenfalls nicht an diesem ersten Abend.

      Später konnte ich mich nicht mehr daran erinnern, wie er dann doch im Haus und wir zusammen auf der breiten Ledercouch im Wohnzimmer gelandet waren. Ronnie mit seinem Footballergewicht auf mir, seine Hände unter meiner Bluse. Er rammte mir seine Zunge in den Mund. Hände und Zunge forschten begierig, drängend.

      Ich hatte das Gefühl, Karussell zu fahren, erdrückt zu werden, nicht mehr atmen zu können – alles gleichzeitig. Und überhaupt: Ronnie Salazar mit seinem albernen Lowrider und der Pomade im Haar war überhaupt nicht mein Typ. Er hörte sich zu gerne reden, lachte zu siegessicher und hatte zu dicke Muskeln. War ich wirklich so bedürftig, dass ich das nicht schon früher gemerkt hatte?

      Mein Körper sträubte sich gegen ihn. Ich strampelte und versuchte, Ronnies Hände wegzuschieben, aber seine Handgelenke waren kräftig und seine Pranken schienen auf meinen Brüsten zu kleben. Aus meiner Kehle kam ein wütendes Gurgeln, als Ronnie plötzlich mit offenem Mund erstarrte und sein Gesicht einen leicht verzerrten Ausdruck bekam. Er schien nicht mehr zu atmen, während ich es endlich wieder konnte.

      Die Atmosphäre im Raum hatte sich mit einem Mal verändert, das spürte ich, trotz meines vom Alkohol vernebelten Hirns. Ronnie hob ganz langsam den Kopf. Sein Bizeps neben meinem Gesicht zuckte und auf einmal sah ich blankes Entsetzen in seinen braunen Augen.

      »Maldita mierda!« Mit einem sportlichen Satz war er von mir herunter und auf den Beinen. »Du tickst doch nicht ganz richtig, Mara.« Mit erstickter Stimme murmelte Ronnie noch ein paar spanische Flüche, dann hörte ich eilige Schritte und wie die schwere Haustür hinter ihm ins Schloss fiel. Er war weg und ich gab einen erleichterten Seufzer von mir.

      Offensichtlich war Ronnie Salazar es nicht gewohnt, dass ein Mädchen ihn verschmähte, nachdem er es in seinem Lowrider herumgefahren, zum Essen eingeladen und geküsst hatte. Noch dazu eines, das so betrunken war wie ich. Seinen Kuss nach dem Tanz hatte ich erwidert (ich hatte viel zu lange nicht mehr geküsst), aber das hieß doch nicht, dass er über mich herfallen durfte wie ein brünstiger Gorilla.

      Ich zog meine Bluse wieder über den Bauch, setzte mich auf und schnappte laut nach Luft. Nur ungefähr drei Meter von mir entfernt stand jemand … stand etwas.

      Eine hellbraune Löwenmähne, gebleckte weiße Reißzähne in einer blutroten, langen Schnauze, aufgestellte Ohren. Aus zwei schrägen Augenhöhlen funkelte ein schwarzer Blick.

      Vor Schreck war ich wie gelähmt, doch mein Herz raste und meine Gedanken wirbelten haltlos. Hatte Ronnie mir etwas in den letzten Drink geschmuggelt, um mich gefügig zu machen? Sah ich Gespenster?

      Nein! Das Wesen, halb Mensch halb Tier, war kein Geist. Es war real, absolut real. Ronnie hatte es auch gesehen, deshalb war er abgehauen, dieser elende Feigling.

      Schlagartig war ich nüchtern im Kopf.

      Normalerweise hing die alte Katchina-Maske in Davids Zimmer an der Wand. Sie war eins von seinen Lieblingsstücken, das Geschenk eines alten Picuris-Medizinmannes. Katchinas verkörperten Ahnengeister, waren Mittler zwischen Menschen und Göttern, hatte David mir erzählt. »Die Seele des Katchinas schläft in der Maske. Und wenn jemand sie aufsetzt, erwacht sie zum Leben.«

      Dieser Kojote-Katchina war sehr lebendig, und ich spürte die geheimnisvolle Ausstrahlung, die von ihm ausging. Jetzt nahm ich auch wieder den leichten Geruch nach Salbei und Zirkusmanege wahr.

      Ich biss mir auf die Unterlippe. Mein Blick wanderte über die dreckverschmierte Brust des Halbwesens, schwenkte nach rechts zur hässlichen Wunde im Oberarm, weiter zu den löchrigen Jeans, durch die braune Haut schimmerte, bis auf die nackten Füße. Offensichtlich war der zweite Schuh nun auch noch abhandengekommen. Jedenfalls gab es nicht den geringsten Zweifel, wer da vor mir stand.

      Natürlich fürchtete ich mich vor ihm. Ich wäre verrückt gewesen, wenn ich es nicht getan hätte. Der Typ konnte ein Dieb, ein Stalker, ein mieser Perversling sein. Oder, was am Wahrscheinlichsten war, ein entlaufener Irrer.

      Lauf!, rief eine Stimme in meinem Kopf, doch der Alkohol kreiste immer noch in meinem Blut und mein Körper befolgte die Befehle, die das Hirn ihm gab, einfach nicht. Die Gedanken in meinem Kopf verhedderten sich heillos.

      Auf einmal ließ er die Maske sinken.

      Strähniges schwarzes Haar bis über die Schultern, ein dunkles, aber sauberes Gesicht, mit breiten Wangenknochen und leicht schrägen schwarzen Augen, die zu sagen schienen: Ich will dir nichts tun.

      Aber mit dieser Deutung konnte ich natürlich auch gewaltig schiefliegen.

      Selbst aus meiner sitzenden Perspektive erschien mir der Indianer nicht sonderlich hochgewachsen, und besonders kräftig war er auch nicht. Seine Jeans hingen ihm tief auf den Hüften, als wären sie zwei Nummern zu groß. Unbeweglich stand er da, wie festgewachsen auf den roten Saltillofliesen. Ich schätzte ihn auf achtzehn oder neunzehn, und er sah einfach viel zu gut aus für … verdammt, Mara!

      Mir war durchaus klar, dass man Gut oder Böse besser nicht am Aussehen oder Blicken festmachen sollte. Doch so, wie der Junge da stand, barfuß und ohne Kojotemaske vor dem Gesicht, wirkte er kein bisschen Furcht einflößend, sondern genauso verschreckt, wie ich mich fühlte. Das hielt mich davon ab zu schreien.

      Ich holte einmal tief Luft und beschloss, cool zu bleiben. Aber in meinem Kopf ratterten die Fragen: Wie zum Teufel hatte er mich gefunden? Und wie war er ins Haus gekommen? Was wollte er hier? Und vor allem: Seit wann war er da?

      Das Puzzle war simpel und fügte sich schnell zusammen: Die merkwürdigen Geräusche im Haus in der vergangenen Nacht, die halb leere Bonbonschüssel, der Handabdruck auf dem Spiegel, die feuchte Zahnbürste, der Geruch nach Salbei und Zirkus – der Fremde war schon seit gestern im Haus, das war die verblüffende Erkenntnis. Also wusste er auch, dass ich allein war, nun da Ronnie feige die Flucht ergriffen hatte.

      Wieder kam Panik in mir hoch, und ich hatte Mühe, sie in Schach zu halten. Suchte nach Spuren von Wahnsinn oder Bösartigkeit in den Augen des Jungen. Doch nada – da war nichts Verrücktes oder Bedrohliches zu finden, nur eine Mischung aus Misstrauen und Neugier.

      »He du!«, brachte ich schließlich mit leicht hysterischer Stimme hervor.

      Der Indianer starrte mich an, als wäre ich das Fabelwesen.

      Schließlich fasste ich mir ein Herz und stand auf. Wer er auch war: Wir hatten eine Zahnbürste geteilt und er hatte mich vor Ronnie Salazar gerettet, da würde er mich jetzt wohl kaum umbringen. Wie ein Drogensüchtiger kam er mir auch nicht vor, und mein Instinkt sagte mir, dass er kein Dieb war. Denn wenn er hier war, um zu stehlen, hätte er den ganzen Abend Zeit dazu gehabt, ein paar ungeheuer wertvolle Dinge einzupacken und sich damit