Wie die Sonne in der Nacht. Antje Babendererde

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Название Wie die Sonne in der Nacht
Автор произведения Antje Babendererde
Жанр Учебная литература
Серия
Издательство Учебная литература
Год выпуска 0
isbn 9783401807621



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Er flog auf den schmiedeeisernen Gartentisch und begrüßte mich mit »Hola, guapa!« – Hallo Hübsche!

      Ich musste lachen, und Zambo bekam ein paar Brocken von meinen Schokoladenkeksen, die er genüsslich verspeiste. Als die Sonne sank, wässerte ich Lucias kleinen Gemüsegarten und ihre Blumen, was mich für eine Weile von meinen trübsinnigen Gedanken ablenkte.

      Gegen Abend wurde es kühl draußen, und ich ging ins Haus, wo mich die Stille in ihre Arme nahm. In den vergangenen zehn Monaten waren die Räume des Adobe-Hauses von geschäftigem Leben und den Stimmen meiner Gastfamilie erfüllt gewesen. Jetzt hatte ich das Gefühl, als würden Davids gesammelte Masken an den Wänden und die bunten Katchina-Figuren auf den Regalen mich anstarren und fragen, was ich hier eigentlich wollte.

      »Auf euch aufpassen«, antwortete ich ihnen.

      Ich stellte das Radio an und machte ich mir Lucias unübertroffene Hühner-Posole warm – eine Art dicke Suppe mit Hühnerfleisch, gequollenen Maiskörnern, Limetten, Zwiebeln und Chilisoße – und hockte mich damit, eingewickelt in eine Decke, auf die Ledercouch vor den gigantischen Fernseher. Vegetarierin war ich schon seit einem halben Jahr nicht mehr. Ich hatte Lucias Kochkünsten einfach nicht widerstehen können.

      Posole löffelnd, sah ich mir eine Folge Hell on Wheels auf Netflix an, dann ging ich ins Bett.

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      Die Stille im Haus war unnatürlich, die üblichen Morgengeräusche fehlten und davon wurde ich wach. Ich ging hinaus auf meinen Balkon, stützte mich auf die Brüstung und blickte sehnsüchtig hinüber zu den Bergen, über denen in diesem Moment die Sonne aufging. Ihr Licht erfüllte die Landschaft nach und nach mit Farben.

      In diesen Bergen hatte ich zusammen mit Nils wandern gehen wollen. Von der Highschool aus hatten wir im Herbst eine Art Kennenlernwoche in einem Camp bei Tres Ritos veranstaltet, und ich war so begeistert davon gewesen, dass ich das mit Nils unbedingt wiederholen wollte. Doch daraus würde nun nichts werden. Und auch die anderen geplanten Highlights fielen ins Wasser: Los Alamos, White Sands, die Carlsbad-Höhlen.

      Im Nachhinein war ich den Elliots unheimlich dankbar dafür, dass sie in den vergangenen Monaten so viel mit mir unternommen hatten, denn so hatte ich zumindest einiges von diesem faszinierenden Land zu sehen bekommen und dabei auch viel über die verschiedenen Kulturen erfahren.

      Lucia arbeitete als Kunstlehrerin an der Highschool und Davids Herz schlug für die Pueblo-Indianer. Mit seinen unzähligen Geschichten über sie und ihre Urahnen, die sagenumwobenen Anasazi, hatte er es mühelos geschafft, mich für diese Welt zu begeistern.

      Archäologie? Keine Ahnung, vielleicht war das ja was für mich, eine Richtung, die ich später einschlagen konnte. Eigentlich wollte ich schon mein Leben lang Schriftstellerin werden und im Nebenberuf Biobäuerin. Ein eigener Hof, bunte Ziegen auf der Weide, Biogemüse und eine Streuobstwiese hinter dem Haus, auf die ich beim Schreiben blicken konnte.

      Doch ich hatte schnell festgestellt, dass Nils nicht der sesshafte Typ und daher für so ein Lebensprojekt ungeeignet war. Deshalb hatte ich einen neuen Plan gefasst. Ich würde Journalistin werden, mit ihm um die Welt reisen und über die Umweltzerstörung berichten. Ich hatte bereits einige Artikel für unsere Schulzeitung geschrieben und war darin (laut Pa) ziemlich gut.

      »Mit Schreiben kann man kein Geld verdienen«, hatte Ma gesagt, doch Pa hatte mir den Rücken gestärkt.

      »Die erforderliche Neugier liegt dir im Blut, Mara«, hatte er stolz gesagt, als er mitbekam, dass ich in seine Fußstapfen treten wollte. »Und die Dinge auf den Punkt bringen kannst du auch.«

      Inzwischen wusste ich nicht mehr, was ich eigentlich wollte. Alles war wieder offen. Noch hatte ich die zwölfte Klasse und eine Abiturprüfung am Heinrich-Mann-Gymnasium in Erfurt vor mir. Plan A war gewesen, danach ein Jahr lang mit Nils durch Europa zu reisen.

      Wenn du keinen Plan B hast, bist du erledigt, hörte ich Nils sagen. Er hatte immer einen und den probierte er vermutlich gerade aus. Auch für mich musste ein guter Plan B her, und dabei wollte ich mir von niemandem mehr hineinreden lassen, schon gar nicht von meinen Eltern.

      Nachdem ich geduscht hatte, ging ich nach unten, um mir Frühstück zu machen. Das Ticken der Wanduhr und das Brummen des Kühlschrankes schien immer lauter zu werden, und auch die spanische Musik aus dem Radio half diesmal nicht. Das Leben im Haus der Elliots war stets voller Geräusche und Berührungen gewesen und der Gedanke an vier einsame Wochen senkte sich wie eine schwere Decke auf mich herab. Ich überlegte krampfhaft, was ich mit dem Tag anfangen sollte. Und mit dem danach. Und mit allen anderen, die noch folgen würden, bevor mein Flieger ging.

      Vielleicht sollte ich einfach nicht feige sein und den Roadtrip ohne Nils durchziehen. Ein roter Pelz reicht nicht allein, ein bisschen Fuchs musst du schon sein, Mara. Du kannst tun und lassen, was du willst, Mara.

      Hey, zog ich tatsächlich in Erwägung, alleine loszufahren? Was sollte schon passieren? Meine Fahrkünste waren okay, ich hätte ja ohnehin die ganze Strecke fahren müssen. Ich konnte Rosarias kleines Zelt nutzen und war ausgestattet mit unzähligen guten Tipps von David und Lucia, was ich mir unbedingt noch ansehen musste, bevor ich wieder nach Deutschland zurückkehrte.

      Aber ich wollte auch nichts überstürzen, wollte noch einmal drüber schlafen, bevor ich mich endgültig entschied. Und eins war klar: Weder meine Eltern noch die Elliots noch Josefita, die Haushaltshilfe, durften davon wissen, wenn ich mich allein auf den Weg machte.

      Schon der Gedanke an die Möglichkeit eines bevorstehenden Abenteuers holte mich aus meiner Lähmung und beflügelte mich. Der Himmel war strahlend blau, ein weiterer heißer Tag kündigte sich an, und ich beschloss, Nils, so gut es ging, zu vergessen.

      Ich zog meinen Bikini unter T-Shirt und Shorts, packte Sonnenschutz, mein Buch und ein Badehandtuch ein und lenkte den kirschroten Pick-up zur Stadtmitte und von dort auf die Hauptstraße gen Süden. Mein Ziel war eine der Brücken über den Rio Grande, die Camino de las Vacas Bridge bei Pilar, ein beliebter Treffpunkt von Rosaria und ihren Freunden.

      Vorbei an kleinen Banken, Restaurants, Baumärkten und Geschäften fuhr ich bei Musik von Robert Mirabal aus der Stadt hinaus. Nachdem ich den kleinen Ort Ranchos de Taos mit seiner festungsähnlichen Adobe-Kirche hinter mir gelassen hatte, endete nach wenigen Meilen das kahle Hochplateau und die Straße führte in einer felsigen Schlucht hinab, bis sie bei Pilar auf den Rio Grande traf. Der Fluss entsprang in den Rocky Mountains und floss in einer tiefen Talrinne durch New Mexico in Richtung Süden, war auf vielen Kilometern der Grenzfluss zwischen Mexiko und den USA, bevor er dem Golf von Mexiko zuströmte.

      Nach ein paar Meilen erreichte ich Pilar, eine winzige Ortschaft, die ein beliebter Anlaufpunkt für Raftingtouren war. Ich bog rechts ab und folgte, nachdem ich die Häuser hinter mir gelassen hatte, dem Lauf des Rio Grande, dessen felsiges Ufer gesäumt war von Tamariskensträuchern mit fliederfarbenen Blüten, Cottonwoods und wilden Rosenbüschen.

      Nachdem ich drei oder vier kleine Campingplätze passiert hatte und mich der Brücke näherte, sah ich sie schon, die braun gebrannten Jungen, die über der Mitte des Flusses hingen, um sich todesmutig in die schlammigen Fluten zu stürzen – begleitet von den bewundernden Seufzern der Mädchen.

      Ich stellte den Pick-up auf dem kleinen Parkplatz vor der Brücke ab, schnappte meinen Beutel und schlenderte zum Flussufer, wo ich im Gras meine Decke ausbreitete. Hinter den dunklen Gläsern meiner Sonnenbrille musterte ich die Gesichter der anderen. Ein paar kamen mir bekannt vor, aber da war niemand, den ich mit Namen kannte. Die meisten von ihnen waren Hispanics, aber zwei oder drei Weiße waren auch dabei. Ihre roten Körper glänzten von Sonnenöl. Ein Pärchen küsste sich hingebungsvoll und ich musste mich abwenden, weil ich plötzlich Nils vor mir sah mit dieser Jenna – einem wunderschönen Phantom-mädchen mit radikalen Ansichten.

      Ob er ihr auch das Klettern beibrachte? Ihr ein Tattoo verpasste? Verdammt, es wollte mir einfach nicht gelingen,