Wie die Sonne in der Nacht. Antje Babendererde

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Название Wie die Sonne in der Nacht
Автор произведения Antje Babendererde
Жанр Учебная литература
Серия
Издательство Учебная литература
Год выпуска 0
isbn 9783401807621



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verborgenen Felsenhöhlen.

      Vielleicht hatten ja ein paar Anasazi unbemerkt überlebt und der junge Mann war einer von ihnen. Ausgesehen hatte er so – na ja, ausgenommen die ramponierten Jeans natürlich. Oh verdammt, meine Fantasie ging schon wieder mit mir durch und ich rief mich in die Wirklichkeit zurück.

      Über Nacht war mein Entschluss gereift, meine Solotour durchzuziehen. Es war eine Herausforderung, denn ich würde ganz auf mich gestellt sein. Als ich Nils kennenlernte, wollte ich wie er sein. Ich hatte mich an seiner Seite verändert, war mutiger geworden. Doch nun wollte ich vor allem ich selbst sein. Wer das war, würde ich vielleicht auf dieser kleinen Reise herausfinden.

      Ich beschloss, am Nachmittag aufzubrechen. Eine Nacht im Chaco war kein schlechter Start. Das Wochenende war fast vorbei und deshalb hatte ich gute Chancen auf einen der wenigen begehrten Zeltplätze im Canyon. Mein Handy klingelte, es war Ma. Sie erzählte mir, dass meine Oma verwirrt auf der Straße aufgegriffen worden war und sie nun nach einem Heimplatz für sie suchte.

      »Aber wir haben doch genug Platz, jetzt wo Papa nicht mehr bei uns wohnt«, protestierte ich. »Warum kann Oma nicht bei uns leben? Ich kümmere mich um sie, wenn ich wieder da bin.«

      »Wie soll das gehen, Marie-Johanna? Ich arbeite und du bist in der Schule. Oma wäre stundenlang allein, aber sie ist inzwischen so dement, dass sie rund um die Uhr Betreuung braucht. Erst gestern hat sie mir eine Weihnachtskarte geschickt.«

      Mist. Innerlich fluchte ich. Vielleicht hätte ich besser für Oma Inge kämpfen können, wenn ich zu Hause gewesen wäre. Doch statt um Oma Inge kümmerte ich mich um ein fremdes Haus. Ich wollte einfach nicht wahrhaben, dass es für meine Oma keine andere Möglichkeit gab, als ihre letzten Tage in einem Heim zu verbringen. Aber ich kannte auch meine Mutter. Was sie sich einmal in den Kopf gesetzt hatte, zog sie durch, da half aller Protest nicht. Schließlich hatte ich diese Eigenschaft von ihr geerbt.

      »Grüß sie von mir, und sag ihr, dass ich bald zurückkomme und sie besuchen werde.«

      »Erwarte nicht zu viel«, sagte meine Mutter. »Manchmal weiß Oma nicht einmal mehr, dass ich ihre Tochter bin.«

      Ich schluckte und meine Augen füllten sich mit Tränen. In den letzten Monaten war es offensichtlich rapide bergab gegangen mit meiner Oma. Wenn ich erst wieder zu Hause war, würde ich mich um sie kümmern, und ich war sicher, dass sie mich wiedererkennen würde. Schließlich war ich ihre einzige Enkelin.

      »Ist Nils schon da?«, erkundigte sich Ma.

      »Er kommt heute Abend«, log ich. »Ich hole ihn vom Flughafen ab.«

      »Es gefällt mir gar nicht, dass ihr ganz alleine in der Gegend herumfahren wollt.«

      Jetzt bloß nichts anmerken lassen, Mara. »Mach dir keine Gedanken, Mama. Ich bin in New Mexico, hier gibt es nur nette Menschen. Ich kenne keinen Einzigen, der Trump gewählt hat.«

      »Trotzdem tragen alle Schusswaffen mit sich herum.«

      »Du guckst zu viele amerikanische Filme, Mama.«

      »Pass auf dich auf, Liebes!«

      »Klar doch.«

      Sie seufzte. »Ich muss jetzt los.«

      »Tschüss«, sagte ich, legte auf und stieß erleichtert Luft durch die Zähne. Ich hatte meine Mutter angelogen. Wenn herauskam – und es würde herauskommen –, dass Nils gar nicht geflogen und ich ganz allein unterwegs war, würde sie mir das nie verzeihen.

      Egal, ich würde es durchziehen. Mit den Elliots war alles abgesprochen. Josefita, die Haushälterin, hatte einen Schlüssel. Sie würde nach dem Rechten sehen, Pilgrim und Zambo füttern und die Pflanzen gießen.

      Ich konnte ein paar Tage weg sein, ohne dass jemand etwas merkte. Josefita würde ich von unterwegs aus anrufen, damit sie nicht auf die Idee kam, Nils kennenlernen zu wollen. Aber bevor ich aufbrechen konnte, musste ich noch ein paar Dinge erledigen. Ein bisschen Ordnung im Haus schaffen, verderbliche Lebensmittel in die Kühlbox packen, den Kater und den Raben füttern.

      Obwohl Pilgrims Futternapf am Morgen immer leer gewesen war, hatte ich ihn die letzten beiden Tage nicht gesehen. Ich holte das Katzenfutter aus dem Küchenschrank, öffnete die Terrassentür und rief nach ihm.

      Kaum hatte ich die Schüssel mit Trockenfutter gefüllt, kam Zambo angeflogen. Er holte sich einzelne Brekkies und tauchte sie in den Wassernapf, bevor er sie vertilgte.

      »Das ist aber nicht dein Futternapf«, rügte ich ihn.

      »Pendejo«, krächzte er. Dummkopf.

      Ich lachte.

      Schließlich erschien Pilgrim zwischen den Terrakottatöpfen und der Rabe flog schimpfend davon. Dem roten Kater fehlte ein halbes Ohr und sein Katzenkörper war voller Narben. Er war ein Kämpfer. Offensichtlich war er ziemlich ausgehungert – trotz meiner täglichen Futtergaben – und er stürzte sich wie wild auf sein Fressen. Ich ging in die Knie und streichelte seinen knotigen, angespannten Körper, murmelte ein paar Koseworte.

      Als ich mich wieder erhob, stand er plötzlich da, mein geheimnisvoller Stalker – stumm wie eine hölzerne Statue.

      »Ach du Scheiße!«, stieß ich erschrocken hervor. »Musst du dich so anschleichen?«

      Er war kein Junge aus einer meiner Geschichten. Ich roch ihn. Er war echt. Gänsehaut überzog meinen Körper.

      Im Licht der Morgensonne sah er dreckig und verwildert aus und kam mir vor wie ein halb verhungertes Tier. In seinen großen, leicht schrägen Augen lag Bestürzung. Sein misstrauischer Blick wanderte zwischen mir und dem roten Kater, der heißhungrig sein Futter verschlang, hin und her. Keine Ahnung, wieso, aber ich war mir auf einmal ziemlich sicher, dass es nicht der Rabe gewesen war, der Pilgrims Mahlzeiten verputzt hatte. In mir gluckste ein Lachen.

      »Da bist du also wieder«, sagte ich, um die Konversation, auch wenn sie einseitig war, am Laufen zu halten. Auf einmal merkte ich, wie seine Augen unverfroren in meinen Ausschnitt starrten. Verdammt, dachte ich für eine Schrecksekunde, so harmlos, wie ich mir eingeredet hatte, war der junge Mann offensichtlich doch nicht.

      Aber dann wurde mir schlagartig klar, was er anstarrte. Nicht meine Brüste, sondern den Kokopelli. Ich trug den silbernen Anhänger um den Hals, der ihm gehörte. Schnell griff ich mir mit beiden Händen in den Nacken und löste das Band.

      »Ich habe ihn am Straßenrand gefunden, er gehört dir, nicht wahr?« Mit einem aufmunternden Lächeln reichte ich dem Jungen den silbernen Flötenspieler.

      Auf seinem Gesicht zeichnete sich eine ganze Reihe verschiedener Ausdrücke ab, bevor er zögerlich die Hand ausstreckte. Als unsere Finger sich berührten, zuckte er zusammen und ich spürte, wie ein Funke übersprang.

      Dann war der Kokopelli wieder in seinem Besitz.

      Als das Fuchsmädchen ihm zulächelte, fühlte er die Welt unter seinen Füßen wanken. Als ihre Finger die seinen berührten, jagte ein Blitz durch seinen ganzen Körper, der ihn beinah umwarf. Er bekam kaum noch Luft und sein Herz raste, aber seine rechte Hand schloss sich um den Kokopelli, während die Linke instinktiv nach dem Nachtstein in seiner Hosentasche tastete.

      Der Obsidian war noch an seinem Platz, die Apachenträne, die ihn gegen Hexenzauber schützte. Raben kommunizieren nur mit Hexen und das Mädchen hatte eindeutig mit dem Raben gesprochen. Außerdem hatte sie kleine braune Punkte auf der Nase und einen silbernen Ring im linken Nasenflügel, der bestimmt irgendeinen Zauber bedeutete.

      Obwohl sie ihm unheimlich war, fand er Mara schön. Sie war anders, so vollkommen anders. Alles an ihr war fremd und geheimnisvoll. Die eidechsengrünen Augen, die rostroten Haare und die mondweißen Brüste, die er dauernd vor sich sah, seit er Mara gestern eine Ewigkeit lang beim Umziehen beobachtet hatte. Er hatte Angst gehabt, entdeckt zu werden, doch nicht hinsehen war unmöglich gewesen.

      Heute wurden ihre Brüste von einem ärmellosen türkisfarbenen Hemd notdürftig verhüllt, doch das rotbraune Fuchstattoo lugte unter dem