Wie die Sonne in der Nacht. Antje Babendererde

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Название Wie die Sonne in der Nacht
Автор произведения Antje Babendererde
Жанр Учебная литература
Серия
Издательство Учебная литература
Год выпуска 0
isbn 9783401807621



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recht behalten.

      Ich zog mich bis auf den Bikini aus, cremte mich mit Sonnenschutz ein und beobachtete die Jungen beim Springen.

      »Na, wenn das nicht die geheimnisvolle Marihuana aus dem fernen Germany ist …«

      Erschrocken fuhr ich herum. Hinter mir stand Ronnie Salazar, der beliebteste Footballstar der Taos Highschool. Er gehörte zu den Taos Tigers, war ein Halbgott mit milchkaffeebrauner Haut, pomadisiertem Haar und großen weißen Zähnen, dem alle Mädchen zu Füßen lagen. Ronnie war in meinem Englischkurs und hatte sich ganz zu Anfang des Schuljahres mal eine Zeit lang um mich bemüht, doch zu der Zeit hatte ich niemand anderen als Nils im Sinn gehabt.

      Rosaria war zwar der Meinung, Ronnie wäre triebgesteuert und hätte eine Machomacke, aber das musste nichts heißen. In New Mexico waren neunzig Prozent der männlichen Bewohner Machos, und ich war einfach nur froh, dass überhaupt jemand mit mir sprach – es hätte auch ein grünes Marsmännchen sein können.

      »Hi, Ronnie«, sagte ich und blickte zu ihm hoch. »Bist du gar nicht mit den anderen in Montana Bäume pflanzen?« Er trug nur Badeshorts und Flipflops und hatte ein Handtuch um den Hals gelegt. Seine Muskeln und sein Sixpack waren reif für ein Hochglanzmagazin.

      »No – ich muss meinem Dad bei den Raftingtouren helfen. Und du? Bist du ganz alleine hier? Wo ist denn Rosaria?«

      »Mit ihren Eltern in Frankreich, Unis abklappern.«

      Er schlug sich mit der Hand vor die Stirn. »Ach ja, stimmt ja. Hab ich total vergessen.« Ronnie lachte. »Und wieso bist du dann noch hier?« Ich wollte etwas antworten, doch er sagte: »Nein, warte, ich weiß es: Deutschland ist so schrecklich, dass du gar nicht mehr nach Hause willst?«

      Ganz unrecht hatte er damit nicht. »Ich bin Housesitter bei den Elliots, bis sie wieder zurück sind.«

      »Ganz allein?« Anerkennend pfiff er durch die Zähne und seine braunen Augen funkelten neugierig. Mehr gierig.

      Ich hob die Schultern. »War nicht so geplant. Aber mein Freund hat … er hat sich den Fuß verletzt und konnte nicht kommen.«

      Mein Gott, Mara, was tust du? Für jemanden wie Ronnie musste das die pure Anmache sein.

      »Lo siento mucho«, sagte er, »das tut mir leid.« Und nach einer Pause deutete er auf meine Decke. »Kann ich mein Handtuch und den Autoschlüssel bei dir lassen? Ich springe nur schnell und komme wieder.«

      »Ja, klar«, sagte ich betont lässig, »aber nur, wenn du nicht mehr ›Marihuana‹ zu mir sagst.«

      Grinsend warf Ronnie seine Sachen auf meine Decke. Er lief, nein, er stolzierte zur Brücke, hangelte sich am Geländer entlang, und dann stand er dort oben, sonnte sich in der Aufmerksamkeit, die ihm zuteilwurde. Schließlich stieß er sich ab und sprang.

      Die braunen Fluten des Rio Grande rissen ihn mit. Das war Teil des Nervenkitzels: den großen Fluss wieder zu verlassen, bevor einen die Strömung bis nach Embudo trug – oder unterwegs verschlang.

      Ein paar Minuten später saß Ronnie nass und keuchend neben mir. Sein schwarzes Haar glänzte und seine Zähne leuchteten in der Sonne, als er mich angrinste.

      »Cool«, war alles, was ich zu sagen vermochte. Aber ich meinte es auch so. In den Rio Grande zu springen, war definitiv nichts für Feiglinge.

      Ronnie redete drauflos. Ich erfuhr, dass er seinem Vater schon von klein auf in seinem Raftingklub half und er den Fluss und seine Strömungen in- und auswendig kannte. Dass er eine ältere Schwester hatte, die verheiratet war und in Santa Fe in einem Restaurant an der Plaza arbeitete, und dass seine Mamacita die besten Enchiladas im Umkreis von einhundert Meilen machte.

      Ich lächelte. Offenbar kriegte der Tag doch noch die Kurve.

      Eine halbe Stunde später wusste ich so gut wie alles über Ronnie Salazar und vergaß, wie allein ich mich noch vor einer Stunde gefühlt hatte. Ich lachte über seine albernen Machowitze und hoffte, dass meine letzten Wochen in New Mexico vielleicht doch nicht so einsam werden würden, wie es gestern noch den Anschein hatte.

      Doch dann tauchten Ronnies Freunde mit einem aufgemotzten Auto, einem Lowrider, am Fluss auf, und ich merkte, dass er für heute genug Konversation hatte. Jetzt wollte er richtigen Spaß haben. »Vielleicht können wir ja mal was zusammen machen«, meinte er, bevor er sich eilig verabschiedete.

      »Ja, klar.« Mitleid war das Letzte, was ich jetzt gebrauchen konnte.

      Gemeinsam mit dem strömungssicheren Ronnie Salazar wäre ich vielleicht im Fluss baden gegangen, aber alleine schien es mir doch keine so gute Idee mehr zu sein. Also packte ich meinen Kram zusammen und machte mich auf den Weg zurück nach Taos.

      Aus dieser Richtung kommend, war der Aha-Effekt spektakulär. Obwohl ich die Strecke schon so oft mit den Elliots gefahren war, rann mir auch diesmal wieder ein Schauer über den Rücken, als die Straße nach ein paar Kilometern aus der Schlucht heraus auf das weite Taos-Plateau führte. Zur Linken war die Hochebene am Horizont gesäumt von den Jemez Mountains, rechter Hand erstreckte sich ein silbergraues Salbeimeer bis zu den grünen Flanken der Sangre-de-Christo-Berge. In der Mitte gruben sich die schroffen blauschattigen Schluchten des Rio Grande mehr als zweihundertvierzig Meter tief in die kahle Ebene.

      Hinter den Sangre de Christos hing eine schwarze Gewitterwand und in diesem Licht wirkten die hohen Bergkuppen wie Zwerge. Die Sonne ließ das Salbeimeer, das bis an die Straße heranreichte, beinahe violett aufleuchten.

      Etwa eine Meile vor Ranchos de Taos bemerkte ich in der flimmernden Hitze über dem Asphalt eine menschliche Gestalt am rechten Straßenrand, viel zu nah an der Fahrbahn. Vor mir fuhr ein riesiger Coca-Cola-Truck, dessen Fahrer warnend sein ohrenbetäubendes Horn hören ließ, jedoch weder abbremste noch einen Zentimeter auswich, obwohl der Idiot keinen Gegenverkehr hatte.

      Automatisch ging ich auf die Bremsen und blickte dem Truck hinterher, der weiterfuhr und schnell aus meinem Blickfeld verschwand. Der Herzschlag dröhnte in meinen Ohren und meine Fantasie lief auf Hochtouren. Der Asphalt flimmerte, aber sosehr ich auch auf die Stelle starrte, wo die Gestalt eben noch gestanden hatte – da war niemand. Kein Blut auf dem Asphalt, kein Verletzter, nicht mal eine überfahrene Klapperschlange.

      Es gab also nur zwei Möglichkeiten: Entweder hatte ich einen Geist gesehen oder der Truck hatte den Lebensmüden mitgerissen und zwischen die Salbeisträucher geschleudert.

      Ich hätte einfach weiterfahren können, mir selbst einreden, ich hätte einen Geist gesehen, und alles wäre anders gekommen. Doch Oma Inge hatte mal zu mir gesagt, dass jede Entscheidung, die wir treffen, uns zeigt, wer wir sind. Und feige wollte ich ganz bestimmt nicht sein.

      Im Schneckentempo fuhr ich ganz rechts auf dem unbefestigten Seitenstreifen, reckte den Hals über das Lenkrad und suchte den Straßenrand ab. Als plötzlich ein kleiner Rotfuchs aus dem Salbeigesträuch auf die Straße trat, ging ich auf die Bremsen. Der Fuchs starrte den Pick-up mit seinen grünen Augen an, dann trottete er über die Straße und verschwand. Gleich darauf entdeckte ich zwei Füße zwischen den hüfthohen Sträuchern am Straßenrand. Einer davon war ohne Schuh.

      In so einer Situation war ich noch nie gewesen und mein Herz klopfte wie wild. Ich stellte den Motor ab, atmete zweimal tief durch und stieg aus. Der Truck war längst über alle Berge und im Moment weit und breit kein anderes Fahrzeug in Sicht. Zwar hatte ich im vergangenen Herbst einen Erste-Hilfe-Kurs mitmachen müssen, um den Führerschein zu bekommen, befürchtete jedoch, dass ich beim Anblick von Blut in Ohnmacht fallen würde, noch bevor ich mein Wissen anwenden konnte.

      Ein Zurück gab es nicht. Ich würde tun, was ich tun musste, solange ich dazu in der Lage war. Also umrundete ich den Pickup, hielt die Luft an und wappnete mich vor dem Anblick, der mich erwartete.

      Zwischen den Salbeisträuchern lag ein junger Mann mit geschlossenen Augen, und einen furchtbaren Moment lang dachte ich, er wäre tot. Er trug löchrige Jeans und nur einen Schuh, einen perlenbestickten Mokassin. Von der Hüfte aufwärts war er nackt. Seine dunkle Haut war lehm- und rußverschmiert, das lange schwarze Haar grau vom