Von keltischer Götterdämmerung. Die Kelten-Saga. Band 1-3: Anation - Wodans Lebenshauch / Völva - Wodans Seherinnen / Brictom - Wodans Götterlied. Die komplette Saga in einem Bundle. Astrid Rauner

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als gewollt den Kopf zur Seite reißen. Und dort war sie. Ihre blauen Augen vor Schrecken geweitet kniete sie halb im Gras. Der rechte Arm schien nach Aigonn greifen zu wollen, war jedoch mitten in der Bewegung erstarrt. Ihr Ausdruck spiegelte Schockiertheit wider, Unverständnis. Einen Herzschlag lang starrte sie ihm in die Augen, bevor sie stotternd hervorbrachte: „Geht … geht es dir gut?“

      Erst jetzt wurde Aigonn sich bewusst, was soeben geschehen war. Alle Eindrücke der Wirklichkeit schlugen auf ihn ein – das Keuchen, der pochende Schmerz in seinem überbelasteten, verletzten Arm, die gebrochene Rippe. Es raubte ihm ein weiteres Mal den Atem, bevor er sich auf sein Gesäß fallen ließ und einen Moment nach Luft schnappte.

      Die junge Frau hatte sich in der Zwischenzeit wieder gefasst. Zwar lag ihrem Blick noch immer Misstrauen inne, doch ihre Stimme wirkte gefasster, als sie bemerkte: „Du solltest vorsichtiger sein, wenn du so unbedacht einen Platz wie diesen betrittst. Orte bewahren Erinnerungen lebendiger und besser als Menschen. Das hättest du bedenken können!“

      „Das habe ich bedacht.“ Endlich hatte Aigonn seine Stimme wiedergefunden. Unwirsch schüttelte er den Kopf, um wieder Klarheit zu erringen. Dann hievte er sich auf die Beine, während ihm bewusst wurde, dass er vor der Person stand, die er gesucht hatte.

      Auf den ersten Blick war sie die Lhenia, die ihm am Abend der Schlacht begegnet war. Der heilige rote Ocker, der sie zum Geschenk an die Götter machte, war noch immer über ihr ganzes Gesicht verschmiert und bildete einen sonderbaren Einklang mit den rot-blonden, leicht ausgeblichenen Haaren, die kaum schulterlang waren. Ein naturfarbenes Leinenkleid, mit einem dünnen, geflochtenen Ledergürtel auf Taille gebunden, umspielte ihren schlanken, fast mageren Körper, war jedoch über ihren bloßen Füßen dreckverschmiert und beinahe bis zu den Knien eingerissen.

      Sie war es. Auf den ersten Blick hätte sie jeder als die Lhenia erkannt, die sie gewesen war. Lediglich der Ausdruck ihres Gesichts, als wäre ihr Geist plötzlich um Jahre gereift und gealtert, wollte nicht so recht in Aigonns Erinnerung passen – ebenso wie die Stimme, die ihm tiefer erschien. Doch darin konnte er sich täuschen.

      Die junge Frau für ihren Teil schien sich unter Aigonns intensiver Musterung unwohl zu fühlen – überspielte dies aber, als sie ihre Stirn in Falten legte. „Mir erschien es nicht so, als ob du das bedacht hättest. Hast du sie nicht gesehen?“

      Fragend sah Aigonn auf. „Gesehen? Wen?“

      Die junge Frau war überrascht. „Sie, hinter dir, an deinem Hals … wirklich nicht?“

      Verwirrt schüttelte Aigonn mit dem Kopf. „Wen soll ich denn gesehen haben?“

      „Schon gut.“ Sie wandte sich von Aigonn ab. Dieser wollte bereits nachhaken, bevor er an ihrer Gestik erkannte, dass sie keinerlei weitere Erklärung geben würde. Mit einem Kopfschütteln warf er den letzten Rest der Beklemmung von sich ab und vertrieb – diesmal mit Erfolg – die prägnante Erinnerung in einen Winkel seines Kopfes. Ihm kam wieder in den Sinn, weshalb er eigentlich hier war.

      „Lhenia!“ Die junge Frau lief noch einen Schritt weiter, bevor ihr einfiel, dass sie sich angesprochen fühlen musste. Dann drehte sie sich um.

      „Lhenia. Eigentlich habe ich nach dir gesucht!“ Aigonn machte einen Schritt auf sie zu und erforschte ihren Blick, der im Moment lediglich abwartend war. Ihre Augen hatten eine ungeheure Tiefe gewonnen, bemerkte er wie nebenbei. Aigonn konnte sich nicht entsinnen, dies je bei der kaum siebzehnjährigen Lhenia bemerkt zu haben.

      „Wirklich?“ Ihre Entgegnung klang nicht wie eine echte Frage. „Das wusste ich. Und ich hatte eigentlich nicht vor, mich finden zu lassen.“

      „Scheinbar doch. Du brauchst mich nicht zu fürchten. Ich bin allein gekommen. Rowilan, Behlenos und die anderen wissen nicht, dass ich hier bin.“

      Eine Erinnerung schoss Aigonn durch den Kopf. Wahrhaftig. Im Grunde wusste keiner, dass er hier war. Efoh hatte sich mit dem Gedanken abgefunden, dass sein Bruder irgendwann binnen der nächsten Tage den Weg wagen und an diesen Ort reiten würde – und im Grunde hatte Aigonn das selbst geglaubt. Er konnte nicht sagen, warum er sich auf einmal – kurz nachdem er den wenig erfreuten Behlenos damit vertröstet hatte, er könne mit seinen Brüchen kaum reiten und den Männern auf der Suche nicht behilflich sein – doch auf den Weg gemacht hatte. Und etwas Wahres hatte in seinen Worten gelegen: Die Verletzungen hatten ihm den Weg beschwerlich gemacht.

      Doch dies war im Moment nicht wichtig. Die junge Frau antwortete auf Aigonns Bemerkung nicht, sondern duckte sich unter den Sträuchern weg, bis sie auf einer weiteren – jedoch beinahe zugewucherten – Lichtung am Fuße des nördlichen Monolithen ankam. Ein letztes Mal zuckte die Erinnerung vor Aigonns innerem Auge vorbei, eine Leiche, tote Augen. Er erkannte kurz die Stelle, an der die Fackeln im Boden gesteckt hatten, bevor er sich schnell abwandte.

      Die junge Frau lief bis an den Fels heran, lehnte ihren Kopf gegen das golden schimmernde Gestein. Sie stützte sich auf einem Moospolster ab und ihr Blick verlor sich im Leeren.

      „Ich komme aber nicht mit dir“, sagte sie nach einem Moment. „Nicht jetzt.“

      „Warum nicht?“ Aigonn trat ein Stück an sie heran. „Lhenia, glaube mir, ich werde dafür sorgen, dass die anderen dich erst einmal in Ruhe lassen. Sicherlich hat es viel Aufhebens gegeben … Es erwacht ja nicht jeden Tag eine Tote zum Leben, aber … dein Vater freut sich trotzdem über alles, dass du …“

      „Hör auf!“ Ihre Stimme brachte Aigonn zum Schweigen. „Hör auf damit, das hat keinen Sinn!“

      „Lhenia, ich …“

      „SEI STILL, HÖRST DU NICHT?“ Die junge Frau fuhr auf. Ihre plötzliche Reaktion ließ Aigonn einen Schritt zurückweichen, bevor sie ihm entgegenwarf: „Ich bin nicht Lhenia, verstehst du das? Ich bin das nicht! Diese Lhenia, wer auch immer sie gewesen sein mag, ist fort, in die Andere Welt hinübergetreten, um darauf zu warten, dass sie wiedergeboren wird!“ Ihre Stimme verlor an Härte und trug nun einen Hauch Unsicherheit mit sich. „Ich bin das nicht. Und ich weiß auch nicht, wer diese ganzen Leute sind, von denen du redest. Lass mich einfach gehen!“

      Einen Herzschlag lang starrte Aigonn die junge Frau nur an. Wie, als ob es ihm helfen würde zu begreifen, wiederholte er in Gedanken. Sie ist nicht Lhenia … nicht Lhenia … Wer denn sonst?

      „Wer bist du denn stattdessen?“, platzte es aus ihm heraus. Und kurze Zeit später bemerkte er, dass dies die falsche Frage gewesen war. Die Miene der jungen Frau verfinsterte sich. Sie zog sich ein Stück weiter in Richtung eines Strauches zurück und lehnte sich dabei an das riesige Moospolster am Fuße des Monolithen. „Ich fühle, wer ich bin. Wissen werde ich es bald. Ich verstehe zwar nicht, warum ausgerechnet dich das so beschäftigt, aber ich werde es dir sagen, wenn es so weit ist!“

      „Kennst du die Geister, die im Nebel wohnen?“ Aigonn wusste nicht, warum er das auf einmal sagte. Selbst hatte er niemals mit einem Menschen darüber gesprochen. Doch ein Gefühl sagte ihm, dass dies der richtige Weg war. Und die Reaktion der jungen Frau bestätigte ihn. Sie horchte auf. „Die Geister, die nachts und in der Dämmerung als Dunstschwade über den Wiesen schweben? Ich glaube, du kennst sie. Und vielleicht solltest du wissen, dass sie mit mir reden.“

      Die Entschlossenheit in den Augen der jungen Frau hatte zu bröckeln begonnen. Es schien, als ob Erinnerungen in ihren Gedanken aufflackerten. Einen Herzschlag lang wirkte sie angreifbar wie ein Kind, bevor sie fragte: „Was haben die Nebelgeister dir gesagt?“

      „Dass ich nach dir suchen soll, alleine, hier – sonst hätte ich dich wohl nicht gefunden.“

      „Und sonst?“

      „Nichts.“ Die Art, wie Aigonn die Augenbrauen hochzog, verriet Missfallen. „Sie sind nicht sehr gesprächig, musst du wissen.“

      Die junge Frau hielt einen Moment inne. Ihr Blick zeigte, dass der Entschluss, nicht mit Aigonn zu gehen, ins Wanken geriet. Es dauerte lange, bis sie zögerlich sagte: „Ich werde dich ein Stück begleiten.“

      Mehr war es nicht. Und viel mehr sagte sie auch nicht zu Aigonn – ganz