unkaputtbar. Moon River

Читать онлайн.
Название unkaputtbar
Автор произведения Moon River
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783347077645



Скачать книгу

kleines Zimmerchen bekamen die Eltern. Gerade einmal die Betten und eine Kommode fanden darin Platz. Das dritte Zimmer war eigentlich eine Art Eingang, in dem es nur ein kleines Fensterchen gab. Es sollte das Wohnzimmer der Familie sein. Dafür gab es wie damals fast in jedem Haus eine grosse Küche. Muëti und Vati hatten sie vor ihrem Einzug einbauen lassen. In der Küche fand das soziale Leben der Familie statt, sie war Dreh- und Angelpunkt. Rechts neben der Küchentür stand der grosse Schrank mit Glasschubladen und Milchglastüren. Obendrauf lag das Apothekerkästchen. Es sollte eigentlich unerreichbar sein für Susi.

      An der Ostwand, zwischen Spülbecken und Kochherd, stand eine Badewanne. Heisses Wasser aus der Leitung gab es nicht. Mutter musste es in einem riesigen Kochtopf zubereiten. Weil das sehr aufwendig war, gab es einen Schlachtplan für den Badetag.

      Erstens wurde nur am Samstag gebadet, damit man am Sonntag zum Kirchgang sauber war. Zweitens gab es eine genaue Reihenfolge. Als erste durfte Susi baden, weil sie meist nicht allzu schmutzig war und wenn doch, so klein, dass es nicht weiter auffiel in der grossen Wanne. Danach war Mutter an der Reihe. Jürg drückte sich wann immer möglich um Wasser jeglicher Art. Ab und zu musste er dennoch in die Wanne, wenn Mutter sich durchsetzte. Vater sagte, Jürg habe eine Wasserallergie. Wenn das Wasser am Schluss schon ziemlich abgekühlt, kam Vater auch noch in den Genuss eines Bades. Hatte Mutter einen guten Tag, goss sie noch einmal etwas heisses Wasser nach. An allen übrigen Wochentagen war kalte Katzenwäsche in eiskalten Räumen angesagt, denn eine Zentralheizung gab es nicht.

      Als grossen Luxus gab es bereits ein Wasserklosett im Haus. Andere mussten zu jener Zeit noch auf den Hof gehen. Schmal war der Raum, dafür unendlich lang.

      Ja und dann gab es – kein Zimmer mehr für Susi. Kurzerhand wurde ein beinahe zimmerhoher Schrank im Entrée einen Meter von der dicken Sandsteinaussenwand weggerückt. In dem dahinter entstehenden, fensterlosen Hohlraum wurde Susis Bett aufgebaut. Den Abschluss ihres «Zimmers» bildete ein dicker, bodenlanger Vorhang. Susis Habseligkeiten fanden problemlos in einem Schuhkarton unter dem Bett Platz. Ein paar Glaskugeln, hübsche Steine, Tannenzapfen, einige obdachlose Puppenstubenpüppchen, ein Kaleidoskop und ein winziges Fläschchen 4711, das sie von Greti zu Weihnachten geschenkt bekommen hatte.

      Vor dem zu Bett gehen las Mutter immer vor. Susi legte das so aus, dass Mutter sie vielleicht doch ein bisschen mochte. Wenn sie eingeschlafen war, band Mutter Susi am Bett fest, so dass sie sich kaum bewegen konnte. Als sie älter wurde, wollte sie nicht mehr angebunden werden. Mutter begründete die Notwendigkeit damit, dass Susi sich im Schlaf frei strampeln würde mit der Folge, dass sie wieder krank werden würde. Es stimmte, Susi war sehr oft krank. Wenn sie krank war, wurde sie beschimpft. Es waren die Momente in ihrem kindlichen Leben, in denen sie besonders unglücklich war. Sie wurde nicht krank, um andere zu ärgern. Sie wusste überhaupt nicht, weshalb sie oft derart krank war. Sie schämte sich, denn sie wollte ja nicht, dass ihre Mutter sich aufregte. Nicht einmal der alte Kinderarzt konnte sich einen Reim darauf machen, weshalb Susi dem Tod ständig näher war als dem Leben.

      Man sollte immer daran denken, dass Kinder besser hören als man denkt. Auch Susi hörte, wenn ihre Mutter über sie schimpfte, welchen Ärger sie immer machte, wie viel Arbeit und Kummer. Man konnte sie nicht mögen, weil sie frech und unanständig sei und ständig krank. Und wie sie immer aussah… Dabei gab sich Susi alle Mühe, nett zu sein. Das verschonte sie nicht vor den Strafpredigten fremder Menschen, die sie eindringlich ermahnten, doch endlich ein anständiges Kind zu werden und ihre Mutter nicht krank zu machen vor lauter Ärger.

      Susi wusste genau, was alles passieren konnte, wenn man das Soll nicht erfüllte. Tagelang behandelte sie Mutter, als ob es sie nicht gäbe. Sogar viel später dachte Susi noch, sie müsse vielleicht unsichtbar sein. Ob sie in einer Bäckerei endlos wartete, bis sie endlich an der Reihe war oder in der Schule etwas sagen wollte, aber nie aufgerufen wurde, man nahm sie kurzerhand nicht zur Kenntnis. Mag sein, dass es auch Vorteile hatte, denn durch diese Eigenschaft konnte Susi besser beobachten. Niemand schien sie wahrzunehmen und somit auch nicht als sonderlich störend zu empfinden.

      Manchmal aber sehnte sie sich, wie jedes Kind, nach Aufmerksamkeit. Wenn die Knie aufgeschlagen waren und schmerzten, hätte sie sich gewünscht, in den Arm genommen zu werden. Von Mutter. Die Knie wurden versorgt, Susi erhielt ihre Standpauke und dann war sie allein mit ihrem Kummer. Welcher Art er auch sein mochte. Prinzipiell wählte Mutter bei solchen Gelegenheiten zwei Einleitungen: «Ich habe dir gesagt, dass … » Oder alternativ: «Du bist selbst schuld.» Ja es mochte sein, dass sie oft schuld war oder Fehler gemacht hatte. Aber auf der anderen Seite war sie ein Kind, hatte das Recht Fehler zu machen und daraus zu lernen und dennoch getröstet zu werden.

      Noch schlimmer aber war, wenn sie weggegeben wurde. Susi wusste, dass das geschehen konnte. Das erste Mal passierte es, als sie knapp zwei Jahre alt war. Ja, liebe Psychologen, die Erinnerung eines Kindes fängt nicht erst mit sechs Jahren an. Es gibt Ereignisse, die derart einschneidend sind, dass sie viel früher haften bleiben. Susi hatte damals etwas angestellt und musste bestraft werden. Was ihre Untat war wusste sie nicht, dafür war sie noch zu klein. Mutter setzte sie in den Kinderwagen und brachte sie in ein Kinderheim. Den ganzen Weg dorthin schimpfte Mutter mit Susi. Obwohl Susi sich doch freute, dass Mutter mit ihr spazieren ging. Sie konnte die sich anbahnende Katastrophe nicht vorhersehen.

      Mutter überreichte sie einer, in eine blauweiss gestreifte Schwestertracht gekleideten, jungen Frau mit kurzen blonden Haaren. Von Susi verabschiedete sich mit den Worten: «Ich weiss nicht, ob ich wiederkehren werde.» Sie kam nicht mehr. Es hätte schön sein können, denn in dem Heim gab es einige Kinder in Susi Alter. Es gab auch sehr viele Spielsachen. Zu Hause hatte die gut anderthalbjährige Susi keine Spielsachen. Nur ein paar Bilderbücher. Das war‘s. Zu jener Zeit hatte die Mehrheit der Kinder keine Spielsachen. Susi hatte ihre Tiere, die warm und liebevoll zu ihr waren. Bäri, den Appenzellerbläss (Appenzeller Hunderasse), auf dessen Decke sie besonders gerne schlief und aus dessen Napf sie mit Vorliebe mitass. Ausserdem noch Wotan, den schwarzen und rundherum als böse verschrienen Hannoveranerhengst. Mutter hatte schreckliche Angst vor Pferden und Kühen. Vor Wotan besonders. Man schimpfte mit Susi, wenn sie bei ihm war. Wobei sie das nicht verstand. Susi mochte Wotan, Wotan mochte Susi. Er hätte ihr nie etwas getan und wenn er bei anderen Leuten sehr hibbelig war, so war er im gleichen Masse ruhig und vorsichtig, wenn dieses seltsame Wesen zwischen seinen Hufen herumkroch. Susis Vater hatte Bäri in der Zeit gekauft, als Mutter sie zur Welt gebracht hatte. Er und der zukünftige Pate waren auf Tour durch die Stadt und über den Markt gewesen. Werdende Väter durften noch nicht in den Kreisssaal. In dem Heim gab es aber keine Tiere. Leblose Teddybären und ebenso leblose Puppen.

      Man konnte nicht behaupten, dass die Schwester nicht nett gewesen wäre. Sie gab sich redlich Mühe. Die anderen Kinder versuchten sie in ihrem Kreis aufzunehmen. Susi aber wollte nur nach Hause. Sie erbrach die Ovomaltine sofort und ass auch sonst nichts. Nach dem Essen wurden alle in Gitterbetten gesteckt, die dicht an dicht standen. Angebunden wurde sie nicht. Die Gitter waren so hoch, dass an ein Ausbrechen nicht zu denken war und ihre Versuche vergeblich blieben. Susi schluchzte und rief verzweifelt, was wiederum die Schwester erzürnte, weil die Mittagsruhe gestört worden war. Susi wurde ermahnt endlich still zu sein, damit die anderen Kinder schlafen konnten.

      Nur langsam gewöhnten sich Susis Augen an die absolute Dunkelheit in dem Raum. Der kleine Junge im Nachbarbett wollte sie trösten und reichte ihr seine Hand durch die Gitter. Er erzählte, dass es keinen Sinn hätte zu rufen, niemand würde kommen. Es sei das Beste, einfach die Augen zuzumachen und zu warten. Irgendwann würde man wieder Licht machen. Susi konnte nicht schlafen. In ihrer Angst klammerte sie sich verzweifelt an Heiris Hand. Obwohl er in ihrem Alter war, war seine Hand das einzige, das etwas Trost und Wärme versprach.

      Nach einer gefühlten Ewigkeit kam die Schwester wieder. Alle Kinder wurden ausgezogen und nackt in einer Reihe auf Töpfchen gesetzt, wo sie pflichtbewusst ihre Geschäftchen verrichteten. Ausser Susi. Sie sass frierend eine Ewigkeit auf dem Pöttchen. Als das Nachtessen fertig war, wurde sie endlich auch wieder angezogen und durfte mit an den Tisch. Ein Stück Apfel, ein Stück schwarzes Brot, warme Ovomaltine, die sie diesmal gleich stehen liess, ebenso wie die Nudeln mit Rührei. Nach ein paar gemeinsamen Spielen war es Zeit zur Abendandacht. Die Schwester las aus der Bibel vor. Danach wurden alle wieder in die Betten weggeräumt. Heiri gab ihr sogleich