Название | Könnte schreien |
---|---|
Автор произведения | Carola Clever |
Жанр | Контркультура |
Серия | |
Издательство | Контркультура |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783749786794 |
Solange sie denken konnte, hatte sie Kreislaufprobleme und Migräne. Monatelang ging es einigermaßen gut, aber die Schonzeit sollte nicht lange währen. Vor einigen Tagen hatte es wieder angefangen. Meist musste sie sich früh morgens schon hinlegen. Es gesellten sich eine totale Appetitlosigkeit und schreckliche Schwindelgefühle dazu. Ella verlor an Gewicht, sah ausgemergelt aus. Die Brust spannte. Sie erinnerte sich an die große Traurigkeit und innere Leere, die sie verspürte, als sie mit Joachim von einem Tag auf den anderen Schluss gemacht hatte. Er war wie vor den Kopf gestoßen. Ella versuchte, es ihm liebevoll zu erklären, doch sie war entschlossen, dieser Beziehung ein Ende zu setzen. Der Zwiespalt, die Lügen, der Widerstreit der Gefühle brachten sie um. Betroffen und aufgewühlt akzeptierte Joachim ihre Entscheidung. Unter Tränen verabschiedeten sie sich voneinander. In den Wochen danach versuchte sie bewusst, das aufkeimende Gefühl der Ohnmacht zu unterdrücken. Nachts überfiel sie tiefe Trauer. Obwohl beide in derselben Stadt wohnten, gab es keine Zufälle mehr.
Dann kam Martin regelmäßig nach Hause. Wehmütig stellte Ella wieder fest, dass gegenseitige Eifersucht und Misstrauen das Eheleben bestimmten. Nichts hatte sich verändert. Bei verbalen Auseinandersetzungen verprügelte Martin sie weiterhin, hielt sie finanziell kurz, schloss das Telefon ab, damit Ella nur eingehende Gespräche führen konnte. Sie hasste seine Kontrolle. Warum tat er das eigentlich?, fragte sie sich. Ella dachte an die Zeit, in der sie mit diversen Knochenbrüchen und Blutergüssen im Krankenhaus gelegen hatte. Nach diesen gewalttätigen Auseinandersetzungen schämte sie sich für beide. Für das Umfeld hatten sie plausible Lügen parat. Es waren Stürze, die Ella während der Hausarbeit zugestoßen waren. Nach diesen körperlichen und verbalen Auseinandersetzungen kleidete Martin sie äußerst elegant und luxuriös ein. Ella verstand das als Versöhnungs- und Liebesbeweis. Erhobenen Hauptes und mit stolzgeschwellter Brust zeigte sie sich glücklich dem Umfeld. Dieses Täuschungsmanöver gelang hervorragend.
Manche Freunde und Bekannte beneideten Ella und Martin um ihre Partnerschaft. Die Mauern der Lügen hielten dicht. Ella war schon oft zu Ohren gekommen, das man sie heimlich „Frau Saubermann“ nannte. Nicht nur, weil sie ein Putzteufel war, auch wegen ihrer demonstrativen äußeren moralischen Haltung. Die zur Schau gestellte Reinheit, die erotisch zufriedene Ausstrahlung, die Zuverlässigkeit und Unabhängigkeit als Ehefrau und liebende, gar fürsorgliche Mutter blendeten ihr Umfeld, Freunde und Familie. So hoffte sie jedenfalls. Aber wie lange konnte sie dieses Bild aufrechthalten? Ihr war klar, dass sie mit Eigenheim, mit den sichtbaren materiellen Annehmlichkeiten den Neid vieler auf sich zog. Oder war es nur Einbildung?
Ella seufzte und drehte sich im Bett zur Seite. Ihr Name stammte aus dem Spanischen: „Ella, die Kräftige, Gesunde.“ Doch sie war alles andere als das. Die seelischen Grausamkeiten hatten sie mürbe und wütend gemacht. Aber eine Scheidung kam für sie nicht infrage. Die Angst vor dem Alleinsein, der Gedanke an die mögliche finanzielle Not, als gesellschaftlich ausgestoßene, geschiedene Frau das Leben zu fristen, lähmte sie. Aber irgendwie würde sie es schon schaffen. Hoffte sie. Nur keine Blöße oder Schwäche zeigen. Lieber setzte sie die Maske der glücklichen, zufriedenen Ehefrau auf! Der Schein des Seins musste auf jeden Fall gewahrt werden. Über diesen Scherbenhaufen konnte sie einfach nicht gehen. Nahm nochmals einen tiefen Atemzug. Warf noch eine Beruhigungstablette ein und schlief wie bewusstlos. Wie gerädert stand sie morgens auf und betrachtete sich im Spiegel. Strich mit dem Finger über die herabgezogenen Mundwinkel. War das Missmut, den sie jahrelang nicht verlauten lassen konnte? Beugte sich näher an den Spiegel und überlegte: Kann mich sehen. Ja, das bin ich. Aber wer bin ich wirklich? Zischend schlug sie mit flacher Hand in ihr Gesicht im Spiegel und schrie: „Ich hasse dich!“
Kurz darauf die Überraschung! Dr. Richter gratulierte ihr nach einer Routineuntersuchung. „Herzlichen Glückwunsch, Frau Behrmann, Sie sind im vierten Monat schwanger!“ Wenn sie an seine Worte dachte, begann ihr Herz heute noch zu springen. Wie war das möglich? Sie hatte doch ihre Periode! Die fruchtbaren Tage hatte sie vorher berechnet! Hatte sich ein Fehler eingeschlichen? Abends, erst zögernd, aber dann überglücklich, erzählte sie Martin von diesem freudigen Ereignis. Martin reagierte zuerst etwas zurückhaltend, doch nach kurzer Zeit freute auch er sich auf den Familienzuwachs. Alexander jubelte, freute sich riesig. Er war jetzt sechs Jahre alt und Ella erzählte ihm, wie schön es für das neue Baby sein würde, einen so großen, liebevollen Bruder zu haben. Stolz verkündete er es jedem, der es hören wollte. Auch die Familie stimmte jubelnd in den Gesang ein. Die Schwangerschaft verlief problemlos. Nur die Gelüste waren eigenartig. Martin rauchte Zigaretten, der Gestank war ihr verhasst. Im Café und auf der Straße atmete sie tief und genüsslich die Rauchwolken von Zigarren der älteren Herren ein. Liebte den Geruch von Benzin. An Tankstellen hätte sie am liebsten die Zapfsäulen umarmt.
Auch die Kombination von Sauerkirschen und Gewürzgurken stimmte sie freudig. Das war ungewöhnlich. In der ersten Schwangerschaft hatte sie keine bizarren Gelüste gehabt.
1965 war es dann so weit. Lauthals und pünktlich zum Erntedankfest schrie sich Valentina Katharina auf die Welt. Sie hatte Keuchhusten. Im Krankenhaus stand Martin mit einem riesigen Rosenstrauß und einer Perlenkette im Zimmer und nahm Ella und das Baby in Empfang. Zu Hause hatten ihr Ellas Eltern, die Geschwister und Freunde einen liebevollen Empfang bereitet. Aus Dankbarkeit und Demut hätte Ella weinen können. Alles wird gut, sagte sie sich.
Ich war ein quirliges Baby, hielt alle in Atem. Früh merkte man, dass ich wusste, was ich wollte. Schreiend setzte ich meinen Willen durch. Martin war begeistert von seiner kleinen Puppe. Deshalb nannte er mich „Hummel”. Für ihn sah ich aus wie eine Hummel-Porzellanfigur, die er so liebte.
Meinen Namen hatte Ella vorgeschlagen. Irgendwo hatte sie mal die Bedeutung von Valentina, die Mutige, die Tapfere, gelesen. Martin las beeindruckt Monate vorher über Katharina die Große und ihre Taten. Das gefiel beiden. Ella hatte den Namen Alexander ausgesucht. Altgriechisch: Alexandros der, der fremde Männer abwehrt. Der Beschützer. Ihr Prinz und Liebling, den sie nach ihren Wünschen und Idealen erziehen wollte. Martin hatte noch Christopher hinzugefügt, weil Eugen, sein Schwiegervater, zu diesem Zeitpunkt wieder über Columbus las. Die Kombination aus Kämpfer und Eroberer rundete seine Vorstellung von seinem Sohn ab.
Mit dunklen, glühenden Augen, als Kleinkind etwas pummelig und blass mit wilden hellbraunen Locken und niedlichen Grübchen und einem herrlichen Knutschmund zog ich alle in den Bann. Für einige Zeit herrschte eine friedliche, liebevolle Atmosphäre zwischen den Eltern. Ella war schon fast geneigt, an das Gute in ihrer Beziehung zu glauben, doch bald setzten sich die Auseinandersetzungen fort. Nach zwei Jahren stand Ella in einer Telefonzelle, wählte die Nummer der Kanzlei, hörte den Klingelton. Die Sekretärin meldete sich. „Guten Tag, hier ist Ella Behrmann, ich …“
Dann verließ sie der Mut, hängte den Hörer ein und schloss ihre Augen. Lehnte sich versonnen an die Zellenwand.
MARTINS SEITE
Martins Geschwister Irena und Otto kamen zu Besuch nach Deutschland. Sie hatten beide Anfang der Fünfzigerjahre Deutschland verlassen und waren per Schiff in die USA ausgewandert. Damals sahen sie für sich und Deutschland keine Chance. Sie lebten Haus an Haus in San Diego. Bruder Otto hatte auf dem