Könnte schreien. Carola Clever

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Название Könnte schreien
Автор произведения Carola Clever
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783749786794



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und nervös, ob wir auch das für sie Richtige selektiert hatten, empfanden wir das Anziehen als Qual der Wahl.

      Wir waren kurz zuvor aus der Schule gekommen, wollten gerade die Schularbeiten beginnen, da rief Ella uns aus dem Bad zu: „Zieht euch schnell an, wir müssen sofort raus.“ Dann setzte sie noch nach: „Wir machen einen Ausflug und Besuch!“

      „Aber wir haben doch noch gar nicht zu Mittag gegessen“, rief ich hungrig und entrüstet. Alex unterstützte mich. Ella war kurz angebunden und genervt: „Wir holen etwas unterwegs.“

      Aus dem Haus und auf der Straße hatte Ella trotz Pumps einen forschen Schritt drauf und ermahnte uns ständig zur Eile. Leichter Nieselregen hatte eingesetzt. Wir waren beide an ihrer Hand, flankierten sie. Aber um mit ihr Schritt zu halten, mussten wir rennen. Am Bahnhof angekommen, sahen wir schon den Zug auf seinem Gleis einfahren. Ella zog ihren linken Pumps aus, stützte sich auf der Schulter von Alex auf und massierte ihren Hallux valgus – den schräggestellten großen Zeh, dessen Ballen bei ihr seitlich austrat. Eilig stiegen wir ein. Ella, noch völlig aus der Puste, kaufte beim Schaffner die Fahrkarten und saß dann mit geschlossenen Augen im Abteil. Sie wirkte nervös. Ich durfte am Fenster sitzen. Die ganze Zeit hatten wir nicht gesprochen.

      Dann fragte Alex plötzlich: „Mama, fahren wir zum Zoo?“

      „Au ja, zum Zoo“, gluckste ich sofort. Ella sagte ironisch: „Ja so was Ähnliches.”

      Die Fahrt war aufregend für mich, weil die Landschaft so schnell vorbeiflog. Auch die Schiffe auf dem Rhein flogen auf dem Wasser. Die Bäume trugen ein helles Grün.

      In Königswinter stiegen wir aus. In einem Blumenladen kaufte Ella einen kleinen roten Blumenstrauß. Entlang der Hauptstraße schaute sie sich jede einmündende Straße an und las das Straßenschild laut vor.

      Bei der fünften Querstraße sagte Ella: „Drachenfelsstraße, hm … hier ist es.”

      Wir bogen rechts zum Rhein runter, als Ella vor einem großen Hotel plötzlich wie angenagelt stehen blieb, staunte und meinte: „Aha, also hier ist es!“

      Alex bemerkte wie nebenbei: „Mama, ich dachte, wir fahren zum Zoo?“

      Ella antwortete genervt: „Auf diese Frage hatte ich bereits geantwortet, erinnerst du dich? Sei jetzt still und warte ab, hier kannst du etwas lernen.”

      Wir sahen sie fragend an, aber sie gab keine Erklärung. Ihr Blick war auf den Eingang vom Hotel Loreley geheftet. Wir stolzierten zum Empfang. Beim Portier angekommen, sprach Ella mit gedämpfter, freundlicher Stimme.

      „Hallo, guten Tag, ich möchte meinen Bruder Martin Behrmann zum Geburtstag überraschen, er muss hier mit seiner Frau übernachten!“ Sie legte den Blumenstrauß auf dem Tresen ab. Während sie noch sprachen, schauten wir uns neugierig im Foyer um. Ich sah ein Aquarium.

      „Hat Ella eben von einem Bruder gesprochen?“, fragte mich Alex flüsternd.

      „Ich weiß nicht, ich habe nicht zugehört. Guck mal die Fische da im Becken, sind die nicht toll?“, entgegnete ich begeistert. Solche Fische hatte ich mal bei einem unserer Zoobesuche gesehen. Der Anblick einer Schatzkiste mit Perlen und Goldstücken auf dem Boden des Aquariums faszinierte mich.

      Aus heiterem Himmel brach dann die totale Hektik aus. Wir nahmen nicht den Aufzug, der gegenüber vom Empfang lag, sondern Ella sauste in Richtung Treppenhaus und rief: „Schnell, beeilt euch, wir müssen in den dritten Stock.” Sie nahm gleich zwei Stufen auf einmal. Wir hatten Mühe, ihr zu folgen. Es war ein sehr langer Flur. Vor Zimmer 313 blieben wir stehen. Alex und ich sahen uns fragend an. Ella holte tief Luft, hielt den Atem an, während ihr gekrümmter Finger morseartig an der Tür klopfte. Mit verstellter Stimme rief sie: „Zimmer-Service.“

      „Was wollen Sie, wir haben nichts bestellt!“, hörten wir zu unserem Erstaunen Martins Stimme aus dem Zimmer rufen.

      Dann ging alles furchtbar schnell. Ella klopfte erneut. Die Tür wurde plötzlich von einer Frau in Dessous aufgerissen. Schwungvoll schob Ella sie mit der Tür zur Seite und stürzte ins Zimmer mit den Worten: „Ach so sieht dein Geschäftstermin aus! Du Schwein!“

      Wir folgten ihr ins Zimmer. Martin lag auf dem Bett und hatte den Mund weit aufgerissen, aber kein Laut war zu hören. Sechs Augen fixierten ihn. Ungläubig starrte er auf uns drei, die wir wie die Orgelpfeifen aufgereiht vor seinem Bett standen. Alex und ich gingen gleich in Deckung auf dem Boden. Wie ein Knäuel hielten wir uns aneinander fest. Nur für Bruchteile einer Sekunde waren alle sprachlos. Die stickige Luft im abgedunkelten Zimmer ließ mich husten. Mein Blick heftete sich an die Tür. Die wunderschöne Frau sah aus wie meine Schokoladenpuppe Kitty. Wie angewurzelt und die Tür als Schutz vor ihren Körper gezogen, schrie sie gellend: „Ach du Scheiße!“

      Martin, jetzt mit hochrotem Kopf, kochte vor Wut. In seinen Mundwinkeln hatte sich etwas Schaum gebildet. Er sprang vom Bett auf, holte aus und gab Ella, die nichts sagte, aber schon weinte, eine schallende Ohrfeige.

      Wie gelähmt blickte ich Alex an.

      Ella schluchzte und schrie wieder: „Mistkerl, elender Lügner!“ Sie drehte sich um und scheuchte uns mit schwingender Handbewegung hoch. Eilig liefen wir zur Tür, an Schokopuppe Kitty vorbei, den langen Flur entlang. Aus dem Aufzug stieg der Mann vom Empfang mit dem Strauß Blumen in der Hand. Sein Mund war aufgerissen, als wenn er etwas sagen wollte, doch Ella winkte mit entsprechender Handbewegung ab. Er blieb stumm. Wir liefen weiter in Richtung Treppenhaus. Ich spürte diesen Drang im Bauch, musste schon wieder Pipi. In meiner Not zwickte ich mir zwischen die Beine, um das Gefühl zu unterdrücken. In brenzligen Situationen sollte mich dieser Harndrang zehn Jahre begleiten.

      Im Treppenhaus stützte sich Ella am Geländer ab, nahm wieder zwei Stufen auf einmal und rannte zum Ausgang. Draußen auf der Straße humpelte sie in Richtung Bahnhof, während sie uns an der Hand hielt.

      Mit schmerzverzerrtem Gesicht weinte sie immer noch. Alex presste die Lippen aufeinander und hatte den Blick zur Straße gerichtet. Ellas Ellbogen und Hand waren angewinkelt und hochgezogen. Mein Arm war nicht lang genug, um ihrer Hand zu folgen, deshalb ging ich den ganzen Weg, ohne aufzumucken, auf Zehenspitzen. Keuchend erreichten wir wieder den Bahnhof. An der Bahnsteigkante warteten wir nur kurz. Ella führte leise Selbstgespräche und verzog dabei das Gesicht.

      Im Zug fielen wir völlig erschöpft in die Sitze. Ich legte mich über den Schoß von Ella und vergrub mein Gesicht in ihrem Mantel. Mir taten die Schulter und die Füße weh und Hunger hatte ich auch, traute mich aber nicht zu sprechen. Alex regte sich nicht, stattdessen starrte er wie elektrisiert auf den Boden. Drei Tage später im Krankenhaus hat man mir die Schulter wieder eingerenkt. Das tat höllisch weh. Martin hatte mir vorher als Geschenk eine Puppe versprochen. In dieser Erwartung konnte ich den Schmerz ertragen.

      MEINE ELTERN, MEINE WURZELN

      Wahrheit ist nicht immer Realität, und Realität ist nicht immer Wahrheit. Die menschliche Wahrnehmung, geprägt durch das soziale Umfeld, den Glauben, Intellekt, Bewusstseinszustand und Lebenseinstellung, kreiert eine für uns schlüssige Wahrheit. Diese Wahrheit ist dann für uns unsere Realität. Die Realität kann jedoch für andere eine völlig andere sein. Die Brille unserer Wahrnehmung ist verfärbt und wir sehen uns außerstande, eine andere Haltung und Perspektive zu akzeptieren! Aus Erzählungen wusste ich, dass nach 1945 die Menschen mit dem Aufbau ihres Lebens beschäftigt waren. Jeder versuchte – mehr schlecht als recht –, gemäß den ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten ein neues Leben aufzubauen. Einigen war jedes Mittel recht, um sich einen gesellschaftlichen Aufstieg zu sichern. So auch Ella und Martin.

      In den fünfziger Jahren hatte Martin mit Schokolade und Kaffee gehandelt, die aus dem Bestand eines ehemaligen Internierungslagers stammten. Seine Kontaktleute hatten die Ware entwendet und boten sie zum Verkauf an. Martin verkaufte sie weiter an die örtlichen Bäckereien. Die Besitzer schätzten seine Ware, da es zu diesem Zeitpunkt schwierig war, die dringend benötigten Zutaten zu bekommen. Sie mochten seine zuverlässige, charmante Art, seinen witzigen Verkaufsstil und die herkunftsbedingte, ungewöhnliche Ausdrucksweise. Eine Mischung aus fröhlich rheinischer Mundart, gespickt mit Berliner Redewendungen: „Wat, ick