Könnte schreien. Carola Clever

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Название Könnte schreien
Автор произведения Carola Clever
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783749786794



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dann nachgedacht. Bin aber in dem Gedanken hängengeblieben. Unternehme erst jetzt den erneuten schriftlichen Versuch, den Code meiner DNS zu knacken. Mal sehen, was dabei rauskommt! Vielleicht meine zweite Doktorarbeit?

      Es gab Momente in meinem Leben, in denen ich Zweifel hegte und weder an die Macht des Guten noch an mich selbst glauben konnte. Natürlich bin ich nervös und unsicher beim Schreiben, weil ich keine geübte oder gar professionelle Schriftstellerin bin. Doch eine Weisheit, die über meinem Computer an der Wand hängt, hilft mir dabei: „Wenn du etwas haben möchtest, was du noch nie hattest – musst du etwas tun, was du noch nie getan hast!“

      Ja, ich versuche es. Werde hier mein Bestes geben, denn ich will Frauen und vielleicht auch Männer ermuntern, nie, wirklich niemals den Mut zu verlieren. An die Macht der eigenen Kraft und Weisheit zu glauben und die Liebe zu leben!

      UND SO WURDE DAS PÄCKCHEN BEFÜLLT

      Es war eine himmelschreiende Ungerechtigkeit!

      Vielleicht war ich ungefähr sechs Jahre alt. Wir wohnten in einem schmucken Reihenendhaus in einem Stadtteil von Düsseldorf. Mein Vater Martin Behrmann, zu diesem Zeitpunkt 38 Jahre alt, verdiente seine Brötchen als erfolgreicher Handelsvertreter. Bei Hausbesuchen verkaufte er den Leuten Möbel aus dem Katalog, von der Anrichte bis zum Zweiersofa. Für damalige Verhältnisse war sein Vertriebsnetz ungewöhnlich. Studenten liefen in jedem Stadtteil von Tür zu Tür und verteilten seine Hochglanzprospekte in den Briefkästen. Nach dem Lesen der Zeitungsbeilagen forderten potenzielle Kunden seinen Besuch an. Mundpropaganda brachte ihm jedoch den größten Erfolg.

      Meine Mutter Ella, nur ein Jahr jünger, war Hausfrau und Mutter. Sie suchte seit geraumer Zeit Arbeit in ihrem Beruf als Krankenschwester, hatte aber bis dato keinen Erfolg. Es wäre für sie schwierig geworden, Beruf, Kinder, Haushalt und Ehemann unter einen Hut zu bekommen. Sie suchte nicht wirklich.

      An diesem Samstagnachmittag saßen mein Bruder Alexander und ich in der Küche, spielten „Mensch ärgere dich nicht“. Ella stand auf einer Leiter im Flur und wechselte Glühbirnen in der Flurlampe. Es klingelte Sturm. Gleichzeitig hörten wir den Schlüssel in der Haustür klappern. Schwungvoll flog die Tür auf. Martin kam schnaubend wie ein Stier ins Haus. Stieß mit der Türkante direkt an Ellas Leiter, fluchte und schrie: „Wie immer stehst du mir im Weg.“ Sekunden später: „Trägst du eigentlich dein Gehirn im Schlüpfer, oder was? Wie konntest du mich nur so bloßstellen?“

      Ella versuchte, ihr Gewicht auf der Leiter zu balancieren, ruderte mit den Armen und schrie zurück: „Ich bin deine gottverdammten Lügen gewaltig leid.“

      Dann folgte ein Schlachtfest der Worte. Wir verstanden keinen Satz. Das beiderseitige Kreischen zerriss alle Worte. Ella, zwischenzeitlich von der Leiter gestiegen, kam zu uns in die Küche. Sie sah aus wie Ente süßsauer, die wir immer beim Chinesen bestellten. Sprachlos, aber mit scheuchender Handbewegung deutete sie aufs Kinderzimmer. Martin, jetzt ebenfalls in der Küche, brüllte: „Haut ab in euer Zimmer, ich hab mit eurer Mutter noch ein Hühnchen zu rupfen.“

      Wir sprangen von den Stühlen und rannten aus der Küche. Im Kinderzimmer schlossen wir sofort die Tür. Zitternd saßen wir eng umschlungen direkt hinter der Tür und versuchten zu lauschen. Hörten einen wortgewaltigen Schlagabtausch, wobei Martin definitiv der Lautere war.

      Leise begann ich zu weinen. Schniefte in den Pulloverärmel von Alex, meinem geliebten Bruder. Vor lauter Aufregung musste ich wie immer in solchen Situationen Pipi. Aber für nichts auf der Welt wollte ich jetzt das Zimmer verlassen und unterdrückte den Drang meiner Blase. Kniff mir in den Schritt und heulte noch etwas mehr.

      Plötzlich trat diese gespenstische Ruhe ein. Kein Ton war zu hören. Irritiert und ungläubig schauten wir einander an. Alex fragte: „Was, meinst du, ist passiert? Haben die sich vielleicht verletzt?“

      Ich konnte nicht mehr sprechen und zuckte nur mit den Schultern.

      Dann hörten wir Martins lautes Stöhnen. Das Holz vom Bett quietschte. Das Kopfteil schlug rhythmisch gegen die Wand. Sekunden später war es Ella, die in einem stakkatoartigen Grunzen laute Töne von sich gab. Also ich stöhnte nur, wenn ich mir wehgetan hatte.

      Nervös flüsterte ich Alex ins Ohr: „Meinst du, die haben sich verletzt?“

      Alex’ Lippen waren an mein Ohr gepresst, er flüsterte leise: „Vielleicht ringen sie ja?“ Gleichzeitig kaute er vehement an seinen Fingernägeln. Mit einer unglaublichen Geschwindigkeit nagte er los und spukte mit Wucht Nagelstücke und Hautfetzen aus.

      Wir setzten uns aufs Bett. Ich fror, kraterförmige Gänsehaut kroch unaufhaltsam über meinen ganzen Körper.

      Nach gefühlten Stunden flog die Tür auf. Martin sah aus, als wenn er rückwärts durch ein Hühnerloch gekrochen wäre. Die Haare zerzaust, sein gestärktes Hemd an der Brust zerknüllt, stand er strahlend im Türrahmen und meinte: „Wir wollen jetzt zu Abend essen, ihr könnt rauskommen.“

      Dabei hielt er die Tür weit auf und pfiff den Kaiserwalzer. Ella wuselte geschäftig in der Küche, summte und sang das Lied von Hildegard Knef: „Für mich soll’s rote Rosen regnen, mir sollten sämtliche Wunder begegnen …“ Dabei balancierte sie zittrig und etwas unsicher das Tablett mit Geschirr und Besteck, deckte den Tisch im angrenzenden Esszimmer.

      Es gab eine strenge Tischordnung. Am rechteckigen Tisch war mein Platz vor Kopf! Eigentlich die Position des Entscheidungsträgers. Bei uns nicht. Martin hatte ihn mir zugewiesen. Ella stimmte stillschweigend zu.

      Zu meiner Rechten saß Martin, zu meiner Linken hatte Ella ihren Platz. Alex saß neben ihr.

      Später wurde mir diese wundersame Sitzfolge aufschlussreich und professionell erklärt! Die Ordnungen der Liebe gehen bekanntlich von oben nach unten. Am Tisch: erst Vater, dann Mutter, dann Erstgeborener, Zweitgeborener und so weiter. Mir wurde von den Eltern eine Position zugedacht, die mir so nicht zustand. Ich saß wahrlich zwischen zwei Stühlen. Beide benutzten mich für ihre Bedürfnisse. Natürlich geschah das unbewusst. Mal diente ich als Mittler, mal als heiß begehrtes Objekt der Zuneigung. Als Schiedsrichter oder Bindeglied in ihrer Partnerschaft. Wie beim Schach manövrierten sie mich und uns zwischen den Figuren. Um diese Last zu tragen, brauchte ich Schultern wie ein Wasserbüffel. Gott sei Dank war die Last gleichmäßig auf beiden Schultern verteilt, damit ich nicht aus dem Gleichgewicht kam. Körperlich stark, dafür geistig verbohrt, trug ich über Jahre die mit Wut, Hass und Enttäuschung gefüllten Eimer, beidseitig. Eine himmelschreiende Ungerechtigkeit!

      Bei Tisch blieb mir jeder Bissen im Hals stecken. Martin und Ella schienen guter Dinge zu sein, von Zank und Streit war nichts mehr zu spüren. Im Hintergrund konnten wir den Schneewalzer hören. Alex saß in gebeugter Haltung am Tisch. Sein Blick war starr auf seinen Teller gerichtet. Mein Bauch krampfte sich zusammen.

      Ich wollte die Würgeanfälle unbedingt unterdrücken, denn Ella achtete streng auf gute Tischmanieren. Eigentlich war ich bei Tisch eher eine Plaudertasche, aber heute wollte ich auf keinen Fall auffallen, wer wusste schon, was noch passierte, und so stocherte ich weiter lustlos in meinem Essen.

      Am nächsten Tag, als wir aus der Schule kamen, schenkte mir Ella ein Steiff-Tier. Es war ein braunes Stoffhäschen und als Trostpflaster gedacht. Alex bekam den langersehnten Waggon für seine Eisenbahn. Sicher, wir freuten uns, aber diese Geschenke lagen uns auch wie Klumpen im Magen.

      Ein paar Tage danach hörten wir Ella im Büro telefonieren. Das war nichts Außergewöhnliches. Kunden riefen ständig an und Ella machte Termine oder klärte Absprachen. Sie führte das Kassenbuch, machte die Buchhaltung oder fertigte dreidimensionale Zeichnungen für Küchen an. Aber bei diesem Gespräch war sie sehr aufgebracht, hielt den Atem an, wurde rot im Gesicht, drehte die lockigen Nackenhaare mit dem rechten Zeigefinger, immer wieder im Kreis. Nach dem Gespräch lief sie hektisch durchs Haus und suchte ihre Handtasche, obwohl sie da stand, wo sie hingehörte, schminkte sich im Bad, bürstete und toupierte die Haare, zog ihre neuen, totschicken blauroten Pumps an, dazu das passende Kleid mit Mantel. Sie hatte einen erlesenen Geschmack und verließ das Haus nie, ohne dass sie wie aus dem Modejournal perfekt gestylt aussah. Etwas, was sich auf uns übertrug. Morgens reihten wir uns vor Ella auf. Sie unterzog uns einer