Название | Könnte schreien |
---|---|
Автор произведения | Carola Clever |
Жанр | Контркультура |
Серия | |
Издательство | Контркультура |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783749786794 |
Dann an einem eisigen Januarmorgen erblickte Alexander, ihr Prinz und Herzenswunsch, strahlend das Licht der Welt. Er war ein strammer blondgelockter Engel mit leuchtend blauen, neugierigen Augen. Ellas Sonnenschein. In ihrer Familie war sie die Älteste von drei Mädels und hatte als Erste dann gleich einem Stammhalter das Leben geschenkt. Stolz und mit großer Erwartung an ihn präsentierten sie Alexander Christopher.
Ellas Gedanken schweiften zum Umzug von Berlin nach Düsseldorf ab. Martin hatte damals eine neue Anstellung als selbstständiger Handelsvertreter für hochwertige Möbel bekommen. Außerdem lebte hier Ellas Familie. Erst wohnten sie in einer kleineren Wohnung in einem Außenbezirk von Düsseldorf. Aber bald schon hatte Martin andere Pläne für sich und seine Familie.
Sonntags beim Frühstück erzählte er ihr: „Nachts träume ich von riesigen Wolkenkratzern. Ja, ich will hoch hinaus.“ Seine Wunschliste beinhaltete: finanziellen Erfolg, Unabhängigkeit, geliebt, geachtet und respektiert werden. Ella war begeistert. Zu lange hatte Martin das Elend der Nachkriegsjahre gesehen und erlebt. Das sollte sich ab sofort für ihn ändern. In diversen Gesprächen versprach er Ella, alles dafür zu tun, dass es ihnen gut ging.
Ja, das war die Zeit, in der es noch wilden Sex, glühende Schwüre und einen regen verbalen Austausch miteinander gab. Ihre Welt war damals für sie beide in Ordnung. Seine Wünsche und Pläne waren ihr nur recht. Auch sie kannte Entbehrungen diverser Art. Ihr Traum von romantisch zärtlicher Liebe, Glück, Zufriedenheit und finanziellem Wohlstand war ihr Motor für Ehe und Zukunft.
Aber irgendwie hatte sich dann alles anders entwickelt. Wenn sie heute so darüber nachdachte, konnte sie nicht wirklich den genauen Zeitpunkt der Veränderung bestimmen, ab wann sich alles veränderte. Sie vermutete, dass es etwas mit der neuen Karriere von Martin und der gesellschaftlichen Veränderung zu tun hatte. Diese Veränderung war ein schleichender, zähflüssiger Prozess. Der Wandel war kaum zu spüren, aber doch wahrnehmbar. Bei diesen Erinnerungen liefen ihr noch heute Tränen über die Wangen. Sie saß zwar jetzt in diesem schnuckeligen Haus mit weiß umzäuntem, blühendem Garten und einem kleinen Auto vor der Tür. Aber glücklich war sie nicht. Materieller Reichtum sei eben kein Garant für seelische Zufriedenheit, meinte ihre Mutter. Manchmal hätte sie innerlich platzen können. Schamgefühle kamen hoch. Traurig und enttäuscht musste sie sich eingestehen, dass das Kartenhaus ihrer Träume und Wünsche in sich zusammengefallen war.
Oft kam Martin abends erschöpft, schlecht gelaunt, mit blauen Flecken oder Kratzspuren am Rücken nach Hause. Die Erklärungen waren vielseitig. Die körperliche Erschöpfung wegen der vielen schwierigen Kundentermine. Die schlechte Laune, weil es geschäftlich nicht immer so erfolgreich lief. Die blauen Flecken, die aussahen wie Knutschflecken an Hals oder Brust, weil er sich gestoßen hatte. Die Kratzspuren auf dem Rücken erklärte er mit der Metallleiter, die er kurz zuvor mit nacktem Oberkörper aus der Garage getragen hatte. Aber es gab noch andere, diffuse, eigentümliche Umstände, die ihrer Wahrnehmung nicht entgingen. Auch sein Ton und die Haltung ihr gegenüber hatten sich verändert. Körperlich deutlich aggressiver, verbal immer unverschämter gestaltete sich das tägliche Zusammenleben. Wenn sie es so recht bedachte, war sie vorher sehr viel selbstbewusster und fröhlicher gewesen.
Sie schrumpfte wie eine alte Kartoffel seelisch zusammen. Seine Kränkungen hinterließen deutliche Spuren in ihrem Herzen. Ihre gelegentlichen Hass- und Rachegefühle breiteten sich wie ein riesiges Spinnennetz aus. Erschrocken versuchte sie, so gut es ging, diese Gefühle zu verstecken.
Bei wem konnte sie wirklich ihr Herz ausschütten, ohne das Gesicht zu verlieren?, fragte sie sich oft. Diese Scharade, diese Täuschung, wurde für sie und andere schon zu lange aufrechtgehalten. Ihrer Mutter Clara und anderen war es wahrscheinlich auch schon aufgefallen. Jedoch versteckten sie ihre Ansichten vorsichtig hinter einem Schleier von Andeutungen. Ella kommentierte das nicht, nahm es aber innerlich zur Kenntnis.
Neulich bei einem Besuch hatte ihre Mutter ihr ganz beiläufig einen Zettel zugeschoben, auf dem sie vermerkt hatte: „Die Sonne ist wie die Wahrheit, ihr Nutzen hängt ganz davon ab, wie weit sie entfernt ist!“ Kommentarlos hatte Ella den Zettel in ihre Tasche gesteckt.
RACHE ODER LIEBE
Dann an einem sonnigen Dienstag im Mai öffnete sich wohlwollend das Universum, sandte eine rettende, strahlende Lichtgestalt. Ihr Wunsch wurde erhört. Sie wollte schon lange wahr und wichtig genommen werden. Ella konnte sich jetzt noch gut erinnern, wie sie in diesem Zustand der Frustration und Verzweiflung im Café an der Königsallee Joachim Graf von Fizthum getroffen hatte. Bei dieser Erinnerung musste sie zwangsläufig lächeln. Was für ein gut aussehender, humorvoller, eloquenter Typ! Sagenhaft. Es war wirklich eine zufällige Begegnung, als er im Café am Nebentisch Platz genommen hatte. Er suchte die Zuckerdose auf seinem Tisch, schaute fragend zu Ella rüber und sprach sie an. „Entschuldigung, dürfte ich wohl Ihren Zucker nehmen?“ Freundlich lächelnd reichte Ella ihm den Zucker.
„Aber sehr gerne“, stotterte sie.
Darüber kamen sie ins Gespräch. Sofort bahnte sich ein netter, ungezwungener Plausch an, während Alexander unterm Kaffeetisch mit dem Auto spielte. Joachim brachte sie zum Lachen. Eine erfreuliche, willkommene Abwechslung. Sie tauschten Nettigkeiten aus und stellten während des Gesprächs fest, dass beide in Düsseldorf wohnten. Joachim erzählte sofort, dass er verheiratet war und zwei süße Töchter hatte. Er beeindruckte Ella mit seiner offenen, ungezwungenen, höflichen Art. Er verbrachte in diesem Café oft seine verspätete Mittagspause, weil er selten pünktlich aus der Kanzlei kam. Als Rechtsanwalt hatte er zwar immer verbindliche Termine, doch manche Gespräche verlängerten sich je nach Sachlage bis zu einer halben Stunde. Das brachte ihn in Terminnot. Deshalb ging er oft in dieses Café, um abzuschalten.
Joachim lebte mit seiner Familie in einem schicken Anwesen direkt am Rhein. Gerade hatten sie ein neues, größeres Haus gekauft. Aber glücklich war er nicht. Seine Frau war emotional distanziert, bestimmend und fordernd. Er aber sehnte sich nach liebevollen Streicheleinheiten, Ruhe und Harmonie. Er vermutete, dass sie ein Verhältnis mit seinem Freund hatte.
Zuerst gab es keine Verabredungen zwischen den beiden, aber irgendwie trafen sie sich zufällig. Immer wieder. Nach mehreren Monaten wurden feste Verabredungen daraus. Rein optisch hätte Joachim ein Zwillingsbruder von Martin sein können, auch wegen seiner charismatischen, selbstsicheren Art. Er war sportlich von Gestalt, elegant, korrekt gekleidet, hatte welliges, kurzes Haar. Seine dunklen, fast schwarzen Augen waren eingerahmt von langen, seidigen Wimpern. Seine leichte Adlernase hatte etwas Aristokratisches. Die kantigen Gesichtszüge, die überdimensionierten vorderen Schneidezähne und seine Größe verliehen seinem Erscheinungsbild etwas Markantes. Sein voller ausgeprägter Kussmund, die Tiefe seiner Stimme, seine wohlmeinende, sorgfältige Wortwahl hatten auf Ella eine stark erotische Anziehungskraft. Bald trafen sie sich regelmäßig zum Austausch von Streicheinheiten in einem kleinen Hotel außerhalb von Düsseldorf. Der Besitzer war ein langjähriger Freund Joachims. Sie genossen die gemeinsamen Stunden des Zusammenseins. Ella lechzte nach diesen zärtlichen, liebevollen Stunden. Zuerst war es ja tiefempfundene Wut und Wunsch nach Rache, weil Martin sie verbal degradierte und körperlich züchtigte. Doch dann wendete sich das Blatt. Joachims einfühlsames, respektvolles, charmantes Wesen war Balsam für Ellas geschundene Seele. Sie kaufte sexyerotische Unterwäsche, die auch Martin sehr gefiel.
Sie war ja so verliebt!
Nach Monaten allerdings wallte Angst in ihr auf. Emotional lief sie aus dem Ruder. Die Lügen und das Versteckspiel, zuerst willkommen, legten sich jetzt bleiern auf ihre Seele. Sie vertraute sich mit der ganzen Geschichte ihrer Freundin Anita an. Anita hasste Martin und seine selbstgefällige, arrogante Art. Sie beglückwünschte Ella mit den Worten: „Gratuliere, endlich zeigst du Zähne, meine Liebe! Genieß den Sex, lass dich gehen, leb deine Gefühle.“ Aber Ella plagten Gewissensbisse. Anita riet ihr: „Bleib entspannt, meine Liebe, das Leben steckt voller Überraschungen.“
Sie sollte so recht haben. Ella berechnete ihre Periode und schlief an