Название | Könnte schreien |
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Автор произведения | Carola Clever |
Жанр | Контркультура |
Серия | |
Издательство | Контркультура |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783749786794 |
Martin saugte mit geöffnetem Mund die Luft ein. Schnappatmung. Er stand ruckartig von seinem Platz auf, ging in Richtung Flur und setzte seinen Monolog fort: „Ick muss raus hier“, dabei wischte er sich theatralisch über den Mund. „Mit euren bibelfesten Sprüchen macht ihr jegliche gepflegte, sachlich orientierte Unterhaltung zunichte. So eine sprachlich unkultivierte Kommunikation, eine derartig unverschämte Unterstellung, brauche ich sonntags wirklich nicht!“
Martin hatte das Zimmer verlassen. Bei diesem Match oder besser dieser Scharade war ich interessierte Zuhörerin. Wie beim Tennismatch folgte ich akustisch dem Ball beim Aufschlag, zum Netz, ins Aus, saß zwar zwischen Ella und Martin, war aber am Gespräch nicht beteiligt. Dies demonstrierte ich durch meine Haltung. Mit Füßen und Oberkörper wippte ich auf den hinteren zwei Stuhlbeinen, lehnte mich beim Wippen nach hinten und war somit, zumindest körperlich, aus der Schusslinie. Eine Haltung, die ich später öfter einnahm, wenn sich vor mir zwei attackierten und ich nicht involviert sein wollte.
Frustbuch: Sonntag, 26. September. Hasse diese sonntäglichen Tischgespräche. Stimme Ella und Alex in ihren Aussagen zu. Nach diesen Gesprächen verspüre ich immer diesen Druck im Magen. Musste Pipi. Kann mich nachher beim Lesen nicht konzentrieren. Hasse diese Gespräche.
Fragebuch: Was will Martin eigentlich? Dass wir ihm nach dem Mund reden? Er kann ja gern Atheist bleiben, aber wo bleibt seine Toleranz uns gegenüber? Wieso erkennt er nicht, während er auf seinem Atheisten-Stern hockt, dass er wirklich geizig ist? Ist man sich selbst gegenüber blind?
Ist man bei Geiz verblendet? Trägt Geiz zu Arroganz bei? Was nutzt ihm sein Haus, sein Auto, sein Grundstück, sein Geld, der Erfolg? Macht es ihn glücklich? Werde Opa Eugen danach fragen. Der meinte neulich, habe leider den Urheber dieses Spruches vergessen: Wissen ist lächerlich, wenn man über Unwissende lacht! Genau und deswegen werde ich ihn fragen.
DAS GROSSE FEST
Martin war beruflich viel unterwegs und wurde immer erfolgreicher. Ella war oft wütend oder traurig, weil er viele Nächte außerhalb übernachtete. Sein Einsatz und seine Überzeugungen zahlten sich aus. Seine Kollegen im Außendienst, teilweise unverheiratet, genossen ein für ihn tolles Leben. Große Autos, schickes Eigenheim, exotische Auslandsreisen, wechselnde Freundinnen. Martin war eifersüchtig. Nachdem seine Kollegen rauschende Feste gaben, fühlte sich Martin genötigt, sich ebenfalls durch ein Fest zu profilieren. Auch wollte er Ella und uns zeigen, dass sie mit ihrer Geizunterstellung völlig danebenlagen. Er organisierte in einem schicken Tanzlokal in exponierter Lage sein Fest. Dem Besitzerpaar hatte er schon mehrfach Möbel verkauft. Deren letzter Auftrag war eine Saalbestuhlung für fünfhundert Gäste. Martin hatte ihnen einen unschlagbaren Preis angeboten, den sie nicht ablehnen konnten. Im Gegenzug handelte er Sonderkonditionen für sein Fest aus. Schriftlich lud Martin über zweiundvierzig Bekannte und Kollegen ein.
Ella schrieb die Einladungen und freute sich nicht nur auf den Abend. Die Aufmerksamkeit, die sie nun von Martin erhielt, ließ ihr Herz höherschlagen. Martin staffierte sie vom Feinsten aus. Zu diesem Anlass fuhr Martin mit Ella nach Köln zum Shopping. Im Kölner Schaufenster, dem angesagten Modesalon, erhielt Ella das Neueste und Eleganteste, was dieser Laden zu bieten hatte. Großzügig legte er noch einen drauf und investierte in einen todschicken cremefarbenen, knieumspielenden Mantel mit Persianerkragen. Ella platzte innerlich vor Stolz und präsentierte sich charmant vor der Umkleidekabine. Martin war begeistert von dem, was er sah. Er küsste sie. „Mäuselchen, so viel bist du mir wert!“ Er legte eine Sprechpause ein, meinte lakonisch: „Dein dich liebender Geizkragen!“ Peinlich berührt meinte Ella verkniffen: „Aber Süßer, so war das doch nicht gemeint!“
„Schon gut, Ella, habe verstanden. Du hast dich geirrt, wolltest du sagen.“
Ella blieb still, suchte den Satz. Wie hieß es doch: Reden ist Silber, Schweigen ist Gold! Oder sollte sie lieber eine Faust in der Tasche machen? Zu Hause angekommen, drehte sie eine Pirouette nach der anderen und zeigte uns mit stolzer Haltung, welche Spendierhosen Martin anhatte. Martin sahen wir im feinsten englischen Zwirn, zur Krawatte das passende Einstecktuch. Seine Lackschuhe waren auf Hochglanz poliert. Eine willkommene Abwechslung zur sonst täglichen Luis-Trenker-Gedächtnis-Uniform. Alexander und ich freuten uns, dass beide einmal gute Laune hatten.
Am 27. Oktober fand die Party statt. Die Sechs-Mann-Kapelle heizte den Leuten mit Glenn Millers In the Mood schon ordentlich ein. Martin wollte sich nicht lumpen lassen, ließ zur Begrüßung und Einstimmung Champagner und Kanapees auffahren. Er genoss die Aahs und Oohs seiner Gäste, die im aufsteigenden Chor an sein Ohr drängten, wann immer es Nachschub gab. Er erwies sich als echter Charmebolzen, witzig, eloquent, und die Damen waren völlig von ihm hingerissen. Martin roch die testosterongeschwängerte Luft. Er nahm ein mentales Bad darin. Nach dem opulenten Mahl zeigte Martin, was er noch so in den Sohlen hatte. Tanzen konnte er. Auch wusste er um seine Ausstrahlung, bemerkte die bewundernden, schmachtenden Blicke der Damen. Die ganz Forschen drückten sogar ihre Knie gefährlich nah an seine Oberschenkel und Heiligkeit, um die entsprechende Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Das trieb ihm Schweißperlen auf die Stirn, die er hektisch und verstohlen mit seinem weißen Taschentuch wegwischte, weil er nicht den Eindruck erwecken wollte, es sei seine schlechte Kondition, die ihn dazu zwang.
„Du tanzt aber wirklich klasse“, meinte Irene, Lebensgefährtin seines Kollegen aus Bayern.
„Ich war früher Eintänzer in der Fischbratküche“, kokettierte er.
Irene flüsterte ihm etwas Spritziges ins Ohr. Martin riss die Augen auf, strahlte sie an und lief zur Höchstform auf. Bei Ella lief es auch nicht schlecht. Auch sie zog einige Kollegen und Freunde in ihren Bann. Ihre mandelförmigen Augen, ihre Hochsteckfrisur à la Nofretete, die sie zwischendurch immer wieder mit ihren rot lackierten Fingernägeln zurechtzupfte, faszinierten die Männer.
Selig vereint, die Arme eng um Ellas Hals geschlungen, öffnete Martin früh morgens bei der Rückkehr endlich die Haustür. Mehrfach hatte er vergeblich versucht, den Schlüssel ins Schlüsselloch zu lancieren. Dann ging er gebeugt zum Briefkasten hinüber und versuchte rülpsend dort sein Glück. Bei Ella hatte der Alkohol ein leichtes Schielen hervorgerufen und ihr Schwanken erinnerte an eine elegante Hochseejacht auf stürmischer See. Die aufgehende Morgensonne ließ den Tau auf den Blättern der Buche vor der Garage in allen Farben glänzen.
Wir Kinder wurden wach, vernahmen das laute Quieken und Lallen. Ich stemmte mich mit den Ellbogen vom Kissen. Diesmal hörte ich ganz deutlich den Ruf. Es war der Kuckuck!
Ich saß schon zwanzig Minuten im Pyjama am Frühstückstisch, als beide endlich geschniegelt und gebügelt am Tisch erschienen. Alex hatte bereits früh das Haus verlassen. Der gestrige Abend wurde mir in allen Einzelheiten erzählt. Zunächst lief noch alles friedlich.
Aber nur bis Ella beiläufig fragte: „Wer war eigentlich diese attraktive Blonde mit dem pfiffigen Dialekt. Dein Kollege Bach meinte, sie ist die neue Freundin vom Kollegen Sutter aus München. Ich glaub, Renate hieß sie!“
Martin nahm eine gerade Haltung im Stuhl ein. Er schien schlagartig nüchtern zu sein.
„Keine Ahnung, kenn ick nich. Ist mir nicht aufgefallen!“ Dabei verzog er das Gesicht, schnitt eine furchterregende Grimasse, streckte seine weiß belegte Zunge raus. Immer noch genervt: „Komm Schätzecken, komm, lass die Sprüche alle laufen. Spuck sie aus, damit du sie ein für alle Mal loswirst.“
Ella war sprachlos.
Martin machte weiter. „Waaas, dir fällt keiner ein? Kann dir Nachhilfe geben. Habe sie oft genug von dir zu hören bekommen. Hier, nimm den hier: Betrügen und betrogen werden, nichts ist gewöhnlicher auf Erden!“ Er nahm die Arme wieder runter, die er bei diesem Wortgefecht in die Luft geworfen hatte.
„Das sind superschlaue Leute, die deine Sprüche kreiert haben. Die sind nicht von mir!“ Martin nahm den Zeigefinger von seiner Schläfe, an die er sich während seines Ausbruchs getippt hatte.
Ella