Könnte schreien. Carola Clever

Читать онлайн.
Название Könnte schreien
Автор произведения Carola Clever
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783749786794



Скачать книгу

Richtung Erde zog. Ellas sexuelle Aufklärung beschränkte sich auf wenige Worte und Minuten. In der Küche meinte sie beim Mittagessen: „Nun, meine Kleine, jetzt wirst du langsam erwachsen. Jeden Monat wirst du jetzt bluten. Du kannst jetzt auch Kinder bekommen. Sei bloß vorsichtig, wen du in deine Muschi lässt. Halte sie sauber. Wenn du achtsam und enthaltsam bist, ein jungfräuliches Verhalten an den Tag legst, kannst du Kaiser und Könige haben. Sonst erlebst du, wenn Männer die Reihenfolge verändern. Dann kommen Kamele vor den Frauen.“

      Stumm wie eine Mumie saß ich am Tisch, hörte zu, verstand nichts. In meinem Zimmer schlug ich die Bravo auf. Hier gab es Wichtiges zu diesem Thema zu lesen. Anschließend ließ ich mich an meinem Frust- und Fragebuch aus.

       14. September. Ich hätte ja noch so viele Fragen zu diesem Thema, aber ich kann mit Ella nicht darüber sprechen. Spüre, sie ist nicht zugänglich für das Thema. Vielleicht ist es ihr unangenehm?

       Warum ist sie so distanziert? Nicht nur bei diesem Thema. Sind Männer denn wirklich alle so schlecht, kommunikationsunfähig, limitiert witzig, machtbesessen, blind, taub, gewalttätig. Ich meine, wenn das alles stimmt, was sie sagt, dann wird mir himmelangst. Wie soll ich da meinen Prinzen finden?

       Ich könnte schreien!

       Fand ja heute den Spruch von Anita heiß. Die ist ja derart eloquent, witzig, unglaublich spritzig. Sie kann Martin und einige andere männliche Exemplare leiden wie Leprapocken. Liebe ihre Vergleiche.

      Ich kaute am Bleistift, schloss die Augen und überlegte, was Anita genau gesagt hatte. Dann notierte ich: Also, Ella, dir ist doch wohl klar, dass Martin oder die anderen Typen ebenso wenig kommunikationsfähig oder witzig sein können, wie man beim Aufkleber einer Shampoo-Flasche die hohe Kunst der Weltliteratur erwarten kann. Ich fand Anita klasse. Wie eine Bohnenstange hatte ich einen ordentlichen Schuss getan, in wenigen Monaten gleich mehrere Zentimeter zugelegt. Im Verhältnis zur Körpergröße schienen meine Füße doppelt so schnell zu wachsen. Morgens fragte ich meinen Spiegel: „Bin ich Fisch oder Fleisch? Könnte ich beides sein?“ Ich musterte mich kritisch: „Schrecklich, finde mich körperlich wirklich abstoßend.“ Mit der Zeit wurde es schlimmer. An der Bushaltestelle auf dem Heimweg presste ich mit aller Kraft meine speckigen Lippen zusammen. Sie sollten verdammt noch mal nach innen wachsen. Ich wollte unter keinen Umständen aussehen wie Martin, ekelte mich vor seinen überhandnehmenden, schwammigen Küssen. Wenn ich mir irgendetwas wünschte – Lackschuhe, Schultasche, neuer Füller –, kaufte er es nur unter der Prämisse, dass die Rückzahlung in Form von Küssen geschah. Die Anzahl der Küsse legte er vorher je nach Preis des Artikels fest.

       Könnte kotzen und schreien!

      Außerdem beunruhigte mich die steigende Zahl der Männer in meinem Umfeld, jung wie alt, die mir beim Sprechen ausschließlich auf den Mund schauten. Als wenn der Rest meiner Person nicht existierte. Eine für mich beunruhigende Wahrnehmung.

      Eine traurige Nachricht erreichte die Familie. Otto war an Lungenkrebs gestorben! Keiner aus der Familie nahm an der Beerdigung in Kalifornien teil. Martin und Frieda hatten Angst vorm Fliegen.

      Sie fanden das Element Luft, die störenden Luftlöcher während des Fluges, unerträglich. Beide verkündeten:

      „Fliegen ist für den Menschen gefährlich und schädlich, auch wegen der unablässigen Strahlung.“ Ella meinte: „Außerdem hätte uns der liebe Gott Flügel und Federn gegeben, wenn das unser Element wäre.“ Aus Angst waren sich alle einig. Außerdem lief es gerade für Martin wirtschaftlich hervorragend. Diese Geschäfte wollte er sich nicht entgehen lassen, auch, weil er gerade bei seinen Kollegen mit den Verkaufszahlen auf der Überholspur war. Eine Gelegenheit, auf die er schon lange gewartet hatte. Da passte eine Beerdigung nun gar nicht rein. Beim ersten Telefonat mit Irena, die wissen wollte, wann alle kämen, druckste er herum. Beim zweiten Anruf entschied er plötzlich, dass es für Frieda zu anstrengend sei. Dann fügte er noch Ellas Flugangst hinzu. Um die Ausrede zu perfektionieren, informierte er sie, dass ich in der Schule mitten in Prüfungen war, Alexander gerade seine Ausbildung begonnen hatte. Er sagte für alle die Teilnahme an der Trauerfeier ab. Seine Entscheidung nahmen Irena und Schwägerin Barbara Martin sehr übel. Die Beisetzung erfolgte im kleinsten Kreis.

      GIFTIGE SCHÖNHEITEN

      Ella hatte viele schlechte Tage. Ihre vergeblichen Versuche, durch Shopping, Gartenarbeit, Besuch bei den Eltern oder Freundinnen sich zu zerstreuen, ließen sie depressiv und apathisch nachmittags auf der Couch liegen. Ihre Unfähigkeit, ihre partnerschaftliche Situation zu ändern, ihre unerfüllten Wünsche nach sexuellen Streicheleinheiten, die emotionale und finanzielle Abhängigkeit ließen sie bei den geringsten Anlässen in Tränen ausbrechen.

      Neben der Psychologin ging sie zur Heilpraktikerin. Bei einem Besuch in der Praxis von Frau Gräfe ließ sie sich Atropa Belladonna, „die schöne Frau“, für viele als Tollkirsche bekannt, verschreiben. Diesen Tipp bekam sie von einer ihrer Freundinnen. Den griechischen Namen „Schicksalsgöttin“, ein Nachtschattengewächs, fand sie positiv inspirierend.

      Sie hatte gelesen, dass schon im Altertum Frauen es benutzten, um ihre Pupillen zu erweitern, um so den Männern zu gefallen.

      „Vielleicht hilft`s ja“, meinte Ella, während sie Schweißausbrüche, ein hochrotes Gesicht und trockenen Mund beklagte. Ella wusste, dass die Tollkirsche aufgrund ihrer in allen Pflanzenteilen vorkommenden Alkaloide sehr giftig war. Schon geringe Mengen konnten tödlich sein. Ella kamen die Worte der Therapeutin über Frauen in den Sinn. Manche sind wie ihre Pflanzen im Garten: viele hochgiftig, aber traumschön. Wie bei der wunderschönen Engelstrompete oder der attraktiven Hortensie. Sie dienten manch einem als Ersatz für halluzinogene Drogen. Im Samen vom engelsgleichen Goldregen ist das hochgradig wirksame Gift Cytisin besonders ausgeprägt. Sollte das heißen, dass sich hinter traumschöner Fassade ein unerkanntes, sprühendes Gift verbergen konnte? Links neben den Rosen hatte sie die Tollkirsche gepflanzt. Sehr giftig. Sie war sich der halluzinogenen Wirkung bewusst. Hinter die Eibe hatte sie den Blauen Eisenhut gesetzt. Dieser zählt zu Europas giftigsten Pflanzen. Das Rizin im interessanten Wunderbaum, gleich neben der Garage, kann Blut verklumpen.

      O ja, sie hatte sich schlaugemacht. Die Stadtgärtnerei war äußerst informativ und hilfreich bei den Erklärungen und der Selektion der Pflanzen. Ja, es war ein schönes, leichtes Gefühl, manchmal auch etwas schaurig, den Rauch vom Bilsenkraut aus der Feuerschale einzuatmen. So in Trance konnte man herrlich den heimlichen Gedanken nachschweben. Martin, dieser Windhund, sollte sich ja vorsehen! Ihr waren weitere Gerüchte zu Ohren gekommen. Noch war sie verunsichert, denn Gerüchte waren wie Treibgut im Hafenbecken! Auf dem Heimweg führte sie Selbstgespräche: „Tja, das ist ja mal wieder interessant! Eines Tages, wenn es nicht mehr auszuhalten ist – ich oder er! Hm, eine echte Option, diese Pflanzen.“ Die neue Perspektive gab ihrer äußeren Maske den so sehr benötigten Halt. Gelassen, freundlich und beschwingt grüßte sie ihre Nachbarn, hielt einen Höflichkeitsplausch und machte sich singend auf den weiteren Heimweg. Bewundernd sahen ihr die Nachbarn hinterher, tuschelten hinter vorgehaltener Hand am nachbarschaftlichen Zaun. „Was hat die nur für ein Glück: schönes Haus, eigenen Wagen, netten, gutaussehenden Mann, höfliche, freundliche Kinder. Wirklich, manche Menschen haben ein unverschämtes Glück!“

      PLÄNE

      Alexanders berufliche Zielsetzung war ein Ingenieurstudium. Genauer gesagt: Bauingenieur. Martin hatte andere Pläne für ihn und lehnte ein Studium ab. Stattdessen musste Alexander eine Ausbildung zum Hotelkaufmann machen, was ihm so gar nicht behagte. Er hasste es. Bevor es zu diesen Entscheidungen kam, wurden wir alle von Martin ins Wohnzimmer zitiert. Er überraschte uns mit der Nachricht, dass er seine diversen Besuche ohne uns in Österreich dazu genutzt hatte, durch neugewonnene Kontakte vor Ort an einen 1A-Leckerbissen zu kommen. Martin lächelte vielsagend.

      „Ja, ihr Lieben, bald ist es so weit. Habe dieses erstklassige Grundstück an der Angel. Nächste Woche unterschreibe ich die notwendigen Formalitäten. Werde danach ein todschickes Hotel mit Sportgeschäft und Nachtclub bauen lassen! Na, was sagt ihr dazu?“ Unsere Augen waren weit aufgerissen. Völlig ungläubig starrten wir Martin an, waren mehr als sprachlos, geschockt. Ich erholte mich am schnellsten.