Könnte schreien. Carola Clever

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Название Könnte schreien
Автор произведения Carola Clever
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783749786794



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so gut. Das Trinkgeld war mager. Ich beschwerte mich bei Oma Clara. Die meinte, dass die meisten Menschen geizig waren. Das lächerliche Trinkgeld reflektierte ihre Einstellung. Ich sollte es als Lektion verstehen und es selbst bessermachen. Ich hatte mir daraufhin einen Nebenjob gesucht: ein Antiquitätenladen und eine Mode-Boutique in der Poststraße. Herr Metz führte den Antiquitätenladen, seine Frau nebenan die Boutique. Im Fenster hing ein Schild: „Aushilfe gesucht.” Beim Vorstellungsgespräch log ich erst mal und machte mich auf Anraten meiner Freundin Emma zwei Jahre älter, was ich glaubwürdig rüberbrachte, weil ich auf der Fahrt mit der Straßenbahn Ellas Buntstifte im Gesicht kreisen ließ. Abends schmuggelte ich die Buntstifte fein säuberlich zurück in Ellas Kosmetikschrank. Martin nannte es nicht klauen, sondern organisieren. Und der musste es ja wissen.

      Ich wurde in beiden Läden als Springer eingesetzt und war superglücklich, weil ich jetzt wirklich Geld verdiente. Auch der Stundenplan passte: zweimal die Woche nach der Schule. Einmal pro Woche half ich mit Begeisterung in der Praxis von Dr. Weltermann aus. Annas Mutter hatte mir diesen Job besorgt. Der Doc war zufrieden. Er steckte mir immer etwas zu, wenn ich besonders fleißig war. Tiere waren liebenswerte Geschöpfe. Voller Zuneigung und Dankbarkeit zeigten sie ihre Gefühle. Ich spürte ihre Angst in der Praxis, auch vor dem Doc. Während der Untersuchungen flüsterte ich ihnen Mut zu. Ich kannte Angst und spürte sie auch bei Tieren. Dieser Einsatz machte mich total glücklich: endlich andere Menschen und Situationen erleben.

      Ich hatte keine Zeit mehr, um wütende und enttäuschte Gedanken zu hegen. Keine Zeit, um trübsinnig im heimischen Irrenhaus darüber nachzudenken.

      Das Rotlicht-Milieu kaufte in der schrillen Boutique von Frau Metz ein. Es war die reinste Showeinlage, wenn die Mädels im Pulk zum Shopping einliefen. Sie waren herrlich erfrischend und meistens gut drauf. Blubberten und witzelten über Männer, Kleidung und Musik. Kauften Berge von Klamotten und edlen Pumps. Stiefel mit schwindelerregenden Absätzen. Plateausohlen machten aus kleinen Püppchen giraffenartige, langbeinige Mädels. Meist hatten sie einen langhaarigen, muskulösen Schlepper dabei, der ihnen die Tüten und Taschen schleppte. Was für ein Luxus! In der Umkleide plauderten sie untereinander von Kabine zu Kabine. Ich war fasziniert, wie locker sie mit dem Thema Sex umgingen. Sie sprachen von den blöden Frauen, die klaglos funktionierenden Routinesex über sich ergehen ließen, die glaubten, dass ihre Männer auf Reisen oder in Terminen waren. Meist sprachen die Mädels über die absonderlichen Praktiken und Wünsche ihrer Kunden, während sie sich umzogen. Ich hörte von Situationen, die mich geradezu erschreckten oder neugierig machten, und fiel bald in Ohnmacht, als ich hörte, wie viel sie verdienten. Dagegen bekam ich ja einen Hungerlohn!

      Frau Metz, die Chefin, war eine äußerst attraktive elegante Brünette. Sie hatte eine beneidenswerte filigrane Figur. Auf ihrem Po konnte man Läuse knacken, so strotzte er dem Himmel entgegen. Traumbeine, die bis zu den Unterarmen reichten. Eine passende Oberweite, ein makelloser Teint und ein Mona-Lisa-Lächeln. Ihr Mann raste vor Eifersucht. Ständig kontrollierte er sie, beobachtete jeden männlichen Besucher, der den Laden betrat. Oft stürmte er, an seinem Ziegenbärtchen zupfend, schon samstagsvormittags in unseren Laden. Schob sie fordernd küssend rückwärts ins Lager. Schloss die Tür hinter sich zu. Im Laden drehten wir die Musik lauter, damit wir und die Kunden das Stöhnen und Quieken nicht hören mussten. Aber wenn Frau Metz beim Friseur oder Einkaufen war, konnte Herr Metz seine Finger nicht von meinen ebenfalls gutaussehenden Kolleginnen lassen. Er streichelte ihnen über den Rücken und Po, manchmal auch woanders. Er machte ihnen zweideutige Komplimente, die sie kichernd registrierten. Mit manchen ging er Kaffeetrinken. So nannte er es jedenfalls.

       Tagebucheintrag: 21. September. Metz, der Wüstling, mich verschont er. Wahrscheinlich bin ich ihm zu hässlich. Oder soll ich lieber dankbar sein? Keine Ahnung, aber seine roten Haare stören mich, sein siegessicheres, süffisantes Lächeln auch. Fest-

       stellung! Ich dachte immer, Martin in seiner männlich dominanten Präsenz sei ein einmaliges Beispiel, sozusagen eine Laune der Natur. Aber nein, Herr Metz fährt auch mehrgleisig. Ich komme mir dumm und unwissend vor. Frustrierend. Rita, meine Kollegin, meinte: Gewöhn dich dran, so sind sie, die Götter der Schöpfung. Sie schöpfen gern ihre Möglichkeiten voll aus! Entweder bist du dabei oder du läufst hinterher! Sie haben das penetrierende Organ. Wenn sie Lust haben, holen sie es sich, zur Not auch mit Gewalt. Einen Mann kann man nicht vergewaltigen. Die Frau hat doch die doppelte Ar…karte gezogen. Er besorgt sich, was er braucht. Wenn er nicht will, guckt sie doppelt in die Röhre. Erstens lässt er die Frau seine Macht spüren, körperlich, finanziell, manchmal auch emotional. Zweitens entscheidet er ebenfalls, ob sie auch noch unbefriedigt, sexuell frustriert rumläuft.

       Kollegin Petra meinte: Wieso, wenn Frau gesunde Hände und Finger hat, kann sie es sich selbst besorgen! Sie muss nicht auf ihn warten! Verstehe diese Aussagen nicht!

       Fragebuch: Wie viele sind so? Lieber Gott, hilf mir. Suche wohl ein Sonderexemplar, einen, der durch Respekt, Liebe und Aufmerksamkeit brilliert.

      Schaute bei diesem Eintrag auf den Froschkönig, wie er da erhöht mit seiner Krone thronte.

      GEIZ

      Kurz darauf hatte Alexander plötzlich eine Freundin. Er lernte sie in der Berufsschule kennen. Als ich sie später sah, dachte ich zuerst, es wäre Ella in brünett und schlank. Sie hatte eine sagenhafte Ähnlichkeit. Alexander war bis in die Haarwurzeln verliebt. Er arbeitete jetzt lange und gern, da er dadurch ebenfalls dem Irrenhaus entkam, wie er flüsternd betonte. Doch sonntags das gemeinsame Frühstück war laut Martin eine Pflichtübung, der wir Folge zu leisten hatten. Dieses Ritual endete regelmäßig in heftigen Streitgesprächen. An diesem besagten Sonntag beschimpften Alex und Ella Martin als Geizhals. Ich war Zuhörerin. Die Tonlage beider hob sich gefährlich, weil sie angestrengt mit vereinten Kräften ihre Aussage untermalen wollten.

      „Du liebst das Geld. Es gibt dir wahrscheinlich eine Art Glückseligkeit, es zu horten oder zu besitzen“, warf Ella ihm vor. „Deine zwanghafte und übertriebene Sparsamkeit, oder sollte ich es lieber Geiz nennen, ist nicht zu ertragen. Nicht nur wegen dem blöden Hotel in Austria, auch uns und anderen gegenüber. Du kannst wirklich nicht das Leben genießen. Dazu bist du gar nicht fähig. Das zeigt deine Forderung nach Gütertrennung. Das Grundstück und Hotel willst du doch nur in deinem Namen kaufen. Alles einsacken, bloß nichts teilen. Im Falle einer Scheidung liegst du dann zufrieden auf dem nächsten Bergrücken und lachst dich tot. Nein, mein Lieber, den Gefallen tue ich dir nicht.“

      Mit Schmackes köpfte sie das vor ihr stehende Ei, um ihrer Aussage Nachdruck zu verleihen.

      Alex fing den Ball auf, den Ella ihm zuspielte. Während Ella sprach, hatte er sich seine Worte in Gedanken schon vorsortiert und zurechtgelegt, um Martins verbale Attacken zu parieren: „Schon in der Bibel steht, dass Geiz zu den sieben Hauptlastern eines Menschen gehört. Geiz, so steht es dort, ist an sich ja keine Todsünde, birgt aber in sich schon ein gewalttätiges Potenzial, weil manche aus Habgier töten.“

      Martin fühlte sich jetzt persönlich angegriffen und konterte: „Also, bitteschön, heiliger Lazarus, was hat jetzt die Bibel damit zu tun? Baust du jetzt deine Einstellungen auf Bibelsprüchen auf? Es wird ja immer toller hier.“ Und er schlug dabei mit der Faust auf den Tisch. Zu Ella vorgebeugt setzte er eine furchteinflößende Maske auf, meinte dann lächelnd mit sarkastischem Unterton: „Deine Erziehung hat ja wohl gefruchtet, Schätzchen. Dein Sohn untermauert seine Meinung mit frommen Bibelsprüchen.“ Martins Ton kletterte die Tonleiter immer höher. „Wollt ihr damit sagen, ich, Martin Behrmann, sei geizig? Das ist ja eine bodenlose Unterstellung.“

      Alex fiel ihm mutig ins Wort: „Es geht noch weiter. Im Alten Testament wird vor dieser Torheit gewarnt, aber im Neuen Testament verurteilt man den Geiz dann völlig. Da verbietet man sogar den Menschen den Umgang mit Geizigen. Für die Gemeinschaft seien sie schädigend und egoistisch!“

      Ella fiel ihm ins Wort: „Jawohl, das kann ich nur unterstützen.“ Sie übernahm das Gespräch von Alex und verfeinerte seine Aussage. „Du in deinem egozentrischen Zentrum beziehst deine Sicherheit nicht durch Austausch. Dein Geiz basiert auf völligem Misstrauen, weil du dich nur auf dich selbst beziehst. Für dich gibt es keinen Austausch und auch keine Wechselbeziehung. Du grenzt