Название | Könnte schreien |
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Автор произведения | Carola Clever |
Жанр | Контркультура |
Серия | |
Издательство | Контркультура |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783749786794 |
Nach dem Vaterunser sprach ich in Gedanken mit Alex: „Hallo Alex, wünschte, du wärst bei mir. Ohne dich und Cookie ist es hier so einsam. Oma Frieda ist saublöd. Eigentlich sind alle blöd. Hast du neue Freunde gefunden? Hast du ein schönes Zimmer? Wann kommst du zu Besuch?“ Müdigkeit überfiel mich. Kurz vor dem Einschlafen hörte ich wieder das Käuzchen rufen. Opa Eugen hatte mir in dem großen Vogelbuch erklärt, dass ein Kuckuck nur tagsüber ruft, niemals nachts. Diese Erklärung beruhigte mich. Ich vermisste Alex und seufzte. Käuzchen oder Kuckuck, der Ruf war mir unheimlich. Noch verstand ich nicht den Zusammenhang.
In den nächsten Tagen und Wochen rasselten Frieda und ich immer wieder aneinander. Ich wurde immer aufmüpfiger. Frieda erklärte Ella und Martin, dass sie das renitente Kind nicht weiter versorgen oder beaufsichtigen könne, und kündigte ihre Abreise an. Ich war erleichtert, spürte unbewusst meine Macht, Situationen durch Aufgebehren zu verändern. Die Eltern versuchten mit diversen außerplanmäßigen Geschenken, mich zu besänftigen. Ich lehnte jedoch die verlockenden Geschenke ab. Frieda konnten sie ebenfalls nicht umstimmen und sahen sich vor einem Problem. Oder vielleicht doch nicht? Der Klassenlehrer hatte am Elternsprechtag darauf hingewiesen, dass ich in der Unterrichtsstunde öfter abwesend aus dem Fenster starrte. Ich schien in eine Traumwelt abzutauchen. Die Deutschlehrerin bemerkte etwas anderes. Neulich sollte ich meinem Aufsatz meine schönsten Ferienerlebnisse vortragen. Ich hatte fünfzehn Seiten abgegeben. Das war bemerkenswert. Ich las und las. Alle waren begeistert und forderten mich auf, die Geschichte noch mal vorzutragen. Beim zweiten Durchgang las ich, ohne umzublättern, eine völlig neue ellenlange Geschichte vor.
„Das ist doch entzückend!“, sagte Ella.
„Mag ja sein. Es zeugt von Kreativität. Aber auch ich sehe die Flucht in eine Scheinwelt“, sagte die Lehrerin.
Ich wurde zu Ellas Eltern, Clara und Eugen, gebracht. Die hatten sich schon vorher angeboten. Aber Martin wollte unbedingt, dass seine Mutter kam. Ihr Besuch war überfällig. Er hatte beides kombinieren wollen. Opa Eugen lag seit Wochen mit schwerer Grippe und beginnender Lungenentzündung im Bett. Seit zwei Tagen war er auf dem Weg der Besserung. Clara war rüstig und guter Dinge.
Beide freuten sich auf meinen Besuch. Sie hatten ein kleines Auto. Clara fuhr mich täglich zur Schule. Wir fanden die Ausflüge herrlich, denn Clara machte auf dem Rückweg immer einen Abstecher zum Kiosk. Dort kaufte sie mir Bonbons und ein großes Schokoladeneis. Ich liebte Oma und Opa, auch weil sie mir abwechselnd aus Der kleine Prinz vorlasen, mein neuestes Lieblingsbuch. Ich selbst las sehr gut, aber Oma Clara war unschlagbar. Sie konnte so herrlich spannend die Geschichten vortragen und brachte mir das Kreuzworträtseln, bei. Außerdem machten wir Ausflüge und viele Besuche in Museen. Oma erklärte mir die Künstler und Bilder. Auguste Renoir war in Büchern eindeutig mein Lieblingsmaler. Versunken starrte ich dann die Bilder an, nahm die Szenen in mich auf. Jeden Abend vor dem Schlafengehen wurde das Vaterunser gebetet. Ich wurde geküsst und gedrückt. Für Alex gab es auch immer ein nettes Wort. Sein Froschkönig wurde auf dem Nachttisch platziert. Alex war bei mir.
Die Großeltern hatten einen herrlich blühenden Schrebergarten. Eugen erklärte mir Pflanzen und wann man die Früchte erntete. Es gab einen Kaninchenstall mit süßen gefleckten Mümmlern. In dieser Idylle erzählten beide dann aus ihrer Kindheit in Russland und Polen. Oma schrieb Briefe in Sütterlinschrift und Opa spielte Schach mit mir. Er liebte die Philosophie, zitierte und kommentierte für mich seine Lieblinge Seneca, Aristoteles und viele andere, deren Schriften er, nach Größen und Farben sortiert, in einer ganz speziellen Ecke in der Bibliothek aufbewahrte. Nur bei Familientreffen, wenn Eugen ein Kaninchen zur Feier des Tages schlachtete, war ich völlig außer mir und schrie aufgebracht: „Wie könnt ihr nur alle so herzlos sein. Ich könnte Freddie niemals essen!” Es roch ekelhaft im Haus. Nach dem Essen leckten sich alle die Finger und schwärmten von Omas Kochkünsten. Verstört, aber stur blieb ich kopfschüttelnd bei Salat und Kartoffeln.
Am darauffolgenden Wochenende holten Martin und Ella mich bei den Großeltern ab. Sie wollten Alex im Internat besuchen und gleichzeitig das neue Auto ausprobieren. Strahlend nahmen sie mich in Empfang. Martin nahm mich auf den Arm, zeigte mit ausgestrecktem Finger auf das neue Auto: „Schau mal, Hummel, hast du schon mal so ein tolles Auto gesehen? Das ist ein Mercedes! Ist der nicht totschick?“
„Und wirklich bequem, komm, steig mal ein!“, sagte Ella. Ich sah die schwarze Karosserie, stieg ein, strich mit den Händen über die cremefarbenen Polster. Es roch leicht chemisch und sehr neu. Traurig verabschiedete ich mich von den Großeltern.
Im Internat war Alex kreuzunglücklich. Der Schulleiter hatte die Eltern informiert, dass er ins Bett nässte, seine Fingernägel immer blutiger wurden und er zu keiner Kontaktaufnahme mit anderen Kindern fähig war. Ständig würde er sich absondern, wurde einsilbig. Im Unterricht war er ebenfalls unbeteiligt und seine schulischen Leistungen ließen nach. Der Aufenthalt kostete Martin viel Geld. Er war ungehalten. Ella verstand das, doch versuchte sie durch Einwände, ihn gnädig zu stimmen. Martin erklärte ihr, für die Zukunft und um im Leben zu bestehen, brauche Alex mehr Strenge und Disziplin.
Ella lenkte ein. „Du hast recht.” Freudestrahlend begrüßten wir uns. Alexander war erstaunt: „Och, bist du aber gewachsen, was isst du denn zum Frühstück? Steaks?“
Ich lachte: „Nein, Obst, denn ich will wie du auch groß und stark werden.” Beim Spaziergang durch nahegelegene Wälder und Wiesen erhöhten die Eltern den Druck auf Alexander, sprachen Drohungen aus: „Wenn du so weitermachst, gibt es kein Taschengeld mehr, und du darfst in den Ferien nicht nach Hause kommen. Unsere Besuche schränken wir auch ein.”
Die Stimmung war gedrückt. Alex ließ die Worte über sich ergehen. Nachdem ich mich verabschiedet hatte, pinkelte er nachts einhändig mit erhobener Faust im Black-Power-Gruß ins Waschbecken.
UMZUG
Das Jahr, das diese schrecklichen Veränderungen gebracht hatte, war vorbei. Alexander kam wieder nach Hause. Gott sei Dank! Martin hatte seinen geliebten Führerschein wieder. Ella hielt in gewohnter Form den Haushalt und die Familie aufrecht. Aber dann nahte die nächste größere Veränderung.
Die Eltern hatten ein neues freistehendes Einfamilienhaus gekauft. Martin war jetzt im gesamten Bundesgebiet erfolgreich tätig. Sie zogen um, von Düsseldorf nach Bonn, an den Fuß des Venusbergs, ein Ortsteil und bewaldeter Hügel. Martin lachte innerlich, fand den Namen Venusberg treffend und ganz nach seinem Geschmack. Ella bestand beim Umzug auf einigen Pflanzen aus dem Garten. Natürlich auch auf den Mönchspfeffer, der bereits eine beträchtliche Höhe hatte, was bei Martin auf völliges Unverständnis stieß. Ella wollte, dass die gewohnte tägliche Müsli-Fütterung blieb. Martins Libido musste gestutzt werden, wusste sie doch, dass bei Naturheilmitteln die Wirkung etwas länger dauerte als bei Chemiekeulen. Ella war traurig, wir Kinder auch. Unsere liebgewonnenen Freunde, das Umfeld, das Haus und die Familie zu verlassen, belegte die Aufbruchsstimmung mit einer körperlich fühlbaren depressiven Schwerfälligkeit. Gleichzeitig spürten wir auch diese innere Neugier: eine gewisse Erwartung auf all das Neue. Nur Martin schien bester Dinge zu sein. Ich wechselte von der Grundschule zum Gymnasium. Unter meinen neuen Mitschülerinnen waren Carmen und Anna, die meine engsten Freundinnen wurden. Zusammen mit Gabi und Emma, die ebenfalls zum Gymnasium wechselten, wurden wir ein genialer Club. Die Mütter hatten sich ebenfalls angefreundet. Wir legten mit unserem täglichen Beisammensein die Basis einer langjährigen fruchtbaren Freundschaft.
Viele Jahre hatte ich Angst vor Dunkelheit, aber seit Alex im Internat war, musste ich das unangenehme Gefühl allein bekämpfen. Auch beim Umzug ins neue eigene Zimmer unterdrückte ich diese aufsteigende beklemmende Enge im Hals und in der Brust. Nur mit Licht schlief ich ein. Meine körperlichen Ausdehnungen wurden ab dem fünfzehnten Lebensjahr sichtbar. Das Schamhaar wuchs. Es offenbarte sich ein aprikosenförmiger und ebenso großer Brustumfang. Die schwerwiegende Oberweite von Ella sollte mir erspart bleiben. Die Periode hatte ebenfalls eingesetzt. Entsetzt kam ich eines Nachmittags mit blutverschmiertem Rock aus der Schule. Schon auf dem Heimweg wunderte es mich, wieso einige