ALICE IM TOTENLAND. Mainak Dhar

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Название ALICE IM TOTENLAND
Автор произведения Mainak Dhar
Жанр Языкознание
Серия Alice im Totenland
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783958351516



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zu robben und zu fliehen, aber etwas hielt sie zurück. Sie sah noch einmal zu dem Kind. Es blickte sie an. In den Augen lag keine Unschuld, keine Liebe, nur der Ausdruck blanken Hasses, der allen Bitern zu eigen war. Das Kind konnte noch nicht einmal laufen, aber krabbelte auf sie zu und entblößte ein paar kaum entwickelte Zähne. Ihr Verstand riet Alice, davonzulaufen, aber sie war wie gebannt von dem Anblick. Dieses kleine Wesen, das sie bei der erstbesten Gelegenheit beißen würde, um sie zu einem Biter zu machen, war trotzdem ein kleines Kind. Ein kleines, hilfloses Kind.

      Dann stürmte ein riesiger, gut zwei Meter großer Biter an ihr vorbei. Er trug einen Schlapphut, und ein Großteil seiner linken Gesichtshälfte fehlte. Er hob das Kind auf und rannte mit ihm zu der nahegelegenen Baumgrenze. Wieder ertönten Schüsse. Dieses Mal war es nicht der charakteristische Knall der Präzisionsgewehre, sondern das abgehackte Rattern von Automatikwaffen. Das konnte nur eines bedeuten – die Soldaten von ZEUS waren bereits am Boden.

      Alice sah nach links, und wie durch ein Wunder erblickte sie ihren Rucksack. Hasenohr musste ihn in dem ganzen Durcheinander verloren haben. Ihr kam die Leuchtrakete in den Sinn, die sich noch darin befand. Sie robbte darauf zu, schnappte sich den Rucksack und zog sich wieder in ihre Deckung zurück. Dort zog sie den Reißverschluss auf und sah mit Erleichterung, dass die Leuchtrakete noch da war. Sie blickte sich um. Hasenohr war nirgendwo zu sehen. Das war ihre Chance. Sie zündete die Leuchtrakete, und das grellrote Licht schoss in den Himmel. Sie sah zu, wie das Signalfeuer über die Baumkronen stieg und hoffte, dass es die Aufmerksamkeit der Soldaten erregen würde, und jemand kommen würde, um sie zu holen.

      Das Leuchtsignal blieb nicht unbemerkt, allerdings anders als erhofft. Zwei Biter kamen schreiend und mit gebleckten Zähnen auf sie zu. Mit Grauen bemerkte Alice, dass sich einer der beiden während der Kämpfe bereits ein Opfer gesucht haben musste, denn sein Mund war mit frischem Blut bedeckt, das auf sein schmutziges, abgetragenes T-Shirt tropfte. Es gab keine Möglichkeit, wegzulaufen, also bereitete sich Alice darauf vor, den Angreifern entgegenzutreten. Der Biter mit dem blutverschmierten Gesicht war zuerst bei ihr. Ein dürrer Mann, dem der linke Unterarm fehlte und dessen Haare zu großen Teilen verbrannt waren. Er schrie und stürzte sich auf Alice. Sie ging in die Hocke, holte ihn von den Beinen und trat dann kräftig gegen die Luftröhre des Bitern. Der Tritt hätte einen erwachsenen Mann auf der Stelle getötet, doch der Biter schrie lediglich und stand wieder auf. Der andere Biter, ein großer Mann, der eine blutverschmierte Weste und Shorts trug, kam ebenfalls näher. Alice stürmte auf ihn zu, duckte sich unter seinen Armen hindurch, drehte sich auf den Fersen um und trat ihm unterhalb seines Knies gegen das Bein. Obwohl das Bein gebrochen war, wusste Alice nur zu gut, dass das einen Biter in Angriffslaune nicht aufhalten würde. Er stand langsam und unbeholfen wieder auf. Alice versuchte davonzulaufen, stolperte aber geradewegs in den ersten Angreifer hinein. Dessen Kopf war in einem scheußlichen Winkel abgeknickt, aber sein Mund stand noch immer offen und schnappte nach ihr.

      Alice schloss die Augen und machte sich auf das Schlimmste gefasst, doch das sollte nicht eintreten. Sie hörte einen lauten Knall, und als sie Augen wieder öffnete, lag vor ihr der kopflose Körper des Biters. Den zweiten Biter, der auf sie zu hielt, ereilte das gleiche Schicksal. Eine Kugel schlug in seinen Kopf.

      Sie sah zu den Baumreihen vor sich und erblickte einen schwarz gekleideten Mann, der mit einem Gewehr im Anschlag auf dem Boden kniete. Er trug die typische schwarze Einsatzkleidung der ZEUS-Truppen, nur ohne Helm, sodass man sein kurz geschnittenes schwarzes Haar sehen konnte, das an manchen Stellen schon etwas ergraute. Er sah sie, grinste und rannte zu ihr.

      Alice wollte ihm mit klopfendem Herzen und der Hoffnung auf Rettung entgegengehen, als drei Biter hinter den Bäumen hervorkamen und sich zwischen sie und den Soldaten stellten. Dem ersten schoss der Soldat aus nächster Nähe in den Kopf, doch dann schlug ihm ein anderer Biter das Gewehr aus der Hand. Alice hatte von klein auf zu kämpfen gelernt, aber noch nie hatte sie jemanden so kämpfen sehen wie diesen ZEUS-Soldaten. Scheinbar unbeeindruckt davon, sein Gewehr verloren zu haben, zog er eine lange Klinge aus seinem Gürtel, sprang in die Luft und trieb das Messer in den Schädel des schreienden Angreifers, der sofort zu Boden ging und nicht wieder aufstand. Nun war der dritte Biter beinahe bei ihm, doch der Soldat rollte sich seitwärts ab, zog eine Pistole und feuerte drei Schüsse in den Kopf des Untoten.

      Zwei weitere Soldaten näherten sich, salutierten, und dem respektvollen Verhalten nach zu urteilen schien der Mann mit den grauen Haaren eine Art Offizier zu sein. Er deutete auf Alice, und die beiden Soldaten schlossen zu ihr auf. In dem Moment brach der riesige Biter mit dem Hut aus dem Unterholz. Er packte den ersten Soldaten und brach ihm mit einem widerlichen knackenden Geräusch das Genick. Der zweite Soldat wollte sein Gewehr auf ihn anlegen, aber der Biter war schneller, biss ihm in den Hals, und der Mann ging zu Boden, während ihm unablässig Blut aus dem Hals schoss. Alice wusste, was als Nächstes passieren würde. Der Soldat zuckte und erstarrte, doch als er wieder aufstand, waren seine Augen die kalten, leblosen Augen eines Untoten. Dann explodierte sein Kopf. Der grauhaarige Offizier hatte es vorgezogen, seinen eigenen Mann lieber umzubringen als zuzulassen, dass er einer der Untoten wurde. Der Biter mit dem Hut wirbelte kreischend herum. Über ein Dutzend Biter strömte nun aus dem Wald hervor und zwangen den ZEUS-Offizier, sich zurückzuziehen. Als sich ihre Blicke trafen, holte er aus und warf Alice etwas zu, bevor er zwischen den Bäumen verschwand, verfolgt von den Bitern.

      Der Gegenstand landete ein paar Meter von Alice entfernt. Sie rannte darauf zu, um ihn aufzusammeln. Im selben Moment erschien Hasenohr mit drei Begleitern. Er packte sie am Arm und zog sie fort. Alice sah verstohlen auf das kleine blinkende Ding in ihrer Hand. Ein Peilsender. Solange sie den bei sich trug, konnten sie sie damit ausfindig machen. Heute war die Flucht misslungen, aber als sie den kleinen Sender in ihre Tasche gleiten ließ, verspürte sie neue Hoffnung.

      Hilfe war unterwegs.

      »Nun, was hast du bei deinem kleinen Ausflug gelernt?«, fragte die Königin beiläufig, so als erkundigte sie sich nach einem Besuch im Museum und nicht nach jenen Geschehnissen, in denen es um Leben und Tod gegangen war. Alice war unsicher, worauf die Königin hinaus wollte. Da erschien der riesige Biter mit dem Hut und stieß eine Reihe kehliger Laute hervor.

      »Wie der Hutmacher mir berichtet, hast du einige Unannehmlichkeiten verursacht, aber wenn dich die heutige Erfahrung eines lehren sollte, dann das: Wir sind nicht dumm. Wir haben dich nicht nach draußen geschickt, um dir eine leichte und bequeme Möglichkeit zur Flucht zu bieten.«

      »Aber warum habt ihr mich dann geschickt? Ich habe genug Kämpfe gesehen, und nichts von dem, was vorhin passiert ist, habe ich nicht schon einmal erlebt.«

      Die Königin wirbelte zornig zu Alice herum und fletschte die Zähne. Für einen kurzen Augenblick fürchtete Alice, dass die Königen sie angreifen würde, doch dann schien sich Dame wieder zu fangen und antwortete mit sanfter Stimme: »Du hast die Dinge wie üblich nur durch deine Brille der Vorurteile gesehen und einfach ausgeblendet, was du nicht sehen wolltest. Du solltest erkennen, was wir sind: eine Gesellschaft. Eine Gruppe empfindsamer Wesen. Wir sind anders als ihr Menschen, aber wir haben das gleiche Recht zu leben. Man kann uns nicht einfach jagen und ausrotten.«

      Da dämmerte es Alice. Sie hätte es sich zwar nie vorstellen können, dass die Biter in einer Art sozialem Netz organisiert waren und hätte sicher nicht drauf gewettet, dass es unter ihnen Eltern mit Kindern gab. Aber das änderte nichts an der Sache. Sie erinnerte sich gut an all die Gräueltaten, welche die Biter den Menschen angetan hatten, und antwortete verbittert: »Ich war dabei, als unschuldige Menschen von Bitern abgeschlachtet wurden. Ich habe gesehen, wie Babys von Bitern gebissen wurden. Ich habe erlebt, wie sich gute, anständige Menschen in blutrünstige Monster verwandelten, nachdem sie gebissen wurden. Tun Sie also nicht so, als wären Ihre geliebten Biter die unschuldigen armen Opfer.«

      Die Königin fauchte, mehr aus Bedauern als aus Wut.

      »Ich hatte gehofft, du würdest deine Meinung ändern und dein vorbestimmtes Schicksal annehmen. Aber wie ich sehe, ist dein Verstand dafür noch nicht bereit. Nun, ich hoffe, du wirst in den nächsten Tagen darüber nachdenken.«

      Der große Biter, den sie den Hutmacher genannt hatte, packte sie am Arm und schob sie grob aus dem Raum. Man brachte sie in ein kleines, dunkles Zimmer und schlug die Tür hinter ihr zu.