ALICE IM TOTENLAND. Mainak Dhar

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Название ALICE IM TOTENLAND
Автор произведения Mainak Dhar
Жанр Языкознание
Серия Alice im Totenland
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783958351516



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nimm Platz, meine Liebe. Und keine Sorge wegen des Hasen. Er hat einen ausgeprägten Beschützerinstinkt, kann aber auch sehr sanftmütig sein.«

      Alice konnte ein abfälliges Räuspern nicht unterdrücken. Der Gedanke, dass jemand einen Biter für sanftmütig halten konnte, schien ihr absurd. Die Königin schien es nicht zu bemerken oder nahm es ihr zumindest nicht übel, also setzte sich Alice auf das Sofa und wartete. Dann drehte sich der Stuhl langsam zu ihr um, und Alice wäre vor Neugier fast vom Rand der Couch gefallen. Schließlich konnte sie einen ersten Blick auf die Königin werfen, und war mehr als enttäuscht.

      Die Königin der Biter sah aus wie die nette Bibliothekarin aus der Bücherei von nebenan, komplett mit grauen Haaren, die zu einem hübschen Knoten zusammengebunden waren, und einer Brille mit getönten Gläsern auf der Nasenspitze, die ein müdes, alterndes, aber freundliches Gesicht einrahmte. Natürlich hatte Alice nie wirklich eine Bibliothek von innen gesehen, aber ihr Gegenüber war alles andere als die furchterregende Regentin, die sie erwartet hatte. Als sich die Königin erhob, konnte Alice an ihrem makellosen Gesicht erkennen, dass sie kein Biter war, aber offensichtlich Inderin, denn sie trug ein Saree, das lose von ihrem schmalen Körper herabhing.

      »Du bist die Königin?«

      Die alte Dame kam lächelnd näher.

      »Ich heiße Protima, aber so hat mich schon sehr lange niemand mehr genannt. Ich denke, in dieser Welt hält man mich für eine Königin, doch wovon, weiß ich selbst nicht so genau. Und nun lass dich ansehen, junge Dame. Wollen wir doch mal sehen, ob meine Untertanen zurecht so aus dem Häuschen waren.«

      Die Königin nahm ihre Brille ab und trat näher heran. Alice fuhr unwillkürlich entsetzt zurück.

      Das Gesicht der Königin mochte makellos ausgesehen haben, wie das eines gesunden Menschen. Ihre Augen aber waren rot, die Pupillen geweitet und leblos. Die Augen einer Untoten. Als sie lächelte, offenbarte sie verkrustetes Blut an den Lippen und in den Mundwinkeln. Alice schrie, aber die Königin presste ihr eine ihrer behandschuhten Hände auf den Mund.

      »Schhhh. Du brauchst keine Angst zu haben, Schätzchen. Noch nicht.«

      Dann packte sie sich eine von Alices Locken und zog fest genug daran, dass Alice das Gesicht verzog.

      »Nun, die blonden Haare sind echt. Als diese Schwachköpfe etwas von einer blonden Alice plapperten, war ich mir sicher, dass sie etwas durcheinandergebracht hatten. Denn wer könnte auch annehmen, in den Ruinen von Delhi ein junges blondes Mädchen anzutreffen?«

      Alice saß wie versteinert da. Die Art, wie die Königin sich ausdrückte, zusammen mit dem fleckenlosen Gesicht, ließ sie noch weitaus furchterregender erscheinen als die blutrünstigsten Biter, denen Alice je begegnet war. Schließlich nahm sie allen Mut zusammen und fragte: »Bist du eine …«

      Sie hatte die Frage noch nicht zu Ende gestellt, da fiel ihr die Königin ins Wort.

      »Eine Untote? Ein Biter? Welche hasserfüllte Beleidigung kommt als Nächstes? Das ist schon immer ein Problem der Menschheit gewesen: Allem, was man nicht versteht oder wovor man sich fürchtet, wird mit Hass begegnet. Denn es ist um so vieles leichter zu hassen und zu zerstören, als etwas verstehen zu wollen.«

      Eigentlich hatte Alice nur »eine von denen« sagen wollen, aber sie hatte zu viel Angst, um die Tirade der Königin zu unterbrechen. Deshalb saß sie einfach nur schweigend da und wartete, was als Nächstes passieren würde. Die Königin setzte sich neben sie auf das Sofa und nahm ihre Brille ab. Durch die Handschuhe hindurch sah Alice nicht die Hände eines gesunden Menschen, sondern gelbliche, verwesende und blutverkrustete Hände, die überall mit offenen Wunden und Bissmalen übersät waren. Als ihr die Königin eine ihrer kalten, harten Hände auf das Handgelenk legte, zuckte sie, doch der eiserne Griff um ihr Handgelenk verhinderte, dass sie sich bewegte. Alice überlegte fieberhaft, ob sie um sich schlagen sollte, aber ein halblautes Knurren hinter ihr erinnerte sie daran, dass Hasenohr immer noch da war und sie im Auge hatte.

      »Schätzchen, du wirst dich sicher fragen, was der ganze Aufriss zu bedeuten hat, oder?«

      Alice bemerkte, dass sich die Gesichtsmuskeln der Königin bewegten. Ihre leblosen Augen zeigten keine Spur von Emotionen, aber sie schien trotzdem so aufgeregt zu sein wie ein kleines Mädchen vor einem Spielzeugladen.

      »Die Prophezeiung. Sie erfüllt sich endlich. Und das bedeutet, dass sich unsere Zeit des Leidens ihrem Ende neigt.«

      Alice hatte keine Ahnung, wovon die Königin redete, und wartete daher, dass sie weitersprach.

      »Verstehst du es nicht? Du musst diejenige sein, von der mir das Buch berichtet hat.«

      »Welches Buch?«

      Die Königin stand auf, beinahe hüpfte sie voller Vorfreude davon. Alice begriff, dass die Königin, ob nun untot oder nicht, einen Sprung in der Schüssel haben musste. Die Königin ging zurück zu ihrem Schreibtisch und wühlte sekundenlang in den Schubladen herum, bis sie schließlich etwas daraus hervor holte, dass in ein grobes Tuch eingeschlagen war. Alice sah, dass Hasenohr sofort auf die Knie fiel, als sie das Päckchen in ihrer Hand hielt. Ihr schossen mehrere Gedanken gleichzeitig durch den Kopf. Seit wann waren geistlose Biter religiös? Wie zum Teufel konnte diese sogenannte Königin halb menschlich und halb Biter sein? Und wie um alles in der Welt war es möglich, dass ausgerechnet sie selbst etwas mit irgendeiner Prophezeiung der verrückten alten Königin zu tun hatte?

      Die Königin stand nun vor Alice, das Päckchen vor sich in den Händen.

      »Weißt du, was das ist?«

      Natürlich hatte Alice keine Ahnung. Außerdem war sie zu jung, um zu wissen, was eine rhetorische Frage war, also schüttelte sie den Kopf. Ihre Reaktion war aber unnötig, denn die Königin befand sich bereits in einem tranceartigen Zustand und redete unaufhörlich weiter.

      »Als die wahnsinnigen Menschen das Feuer herabregnen ließen, habe ich mich in der Kanalisation und den alten Luftschutzbunkern versteckt. Bin von einem Tunnel zum nächsten gegangen. Hast du eine Ahnung, wie lange ich da unten war?«

      Eine weitere rhetorische Frage.

      »Ich versuchte, mein Telefon so lange am Leben zu halten wie nur irgend möglich. Jeden Tag schaltete ich es nur für ein paar Sekunden an, um zu sehen, welcher Tag war und wie viel Uhr. Als es den Geist aufgab, waren es drei Monate. In der Zeit bin ich sieben Mal gebissen worden.«

      Die Königin legte das Päckchen auf dem Sofa neben Alice ab und das Mädchen sah erneut das blutige, geschundene Fleisch ihrer Hände. Wieder wunderte sich Alice, wie sich die Königin ihre Menschlichkeit bewahren konnte, wenn sie doch so offensichtlich von Bitern gebissen worden war. Sie erschauderte bei der Vorstellung, wie furchtbar es gewesen sein musste, allein durch diese Tunnel zu irren, in völliger Dunkelheit, umgeben von wilden Bitern und ohne Essen und Trinken. Unter solchen Umständen hätte jeder den Verstand verloren.

      Die Königin fuhr fort: »Wenn ich nur ein einfacher Mensch gewesen wäre, hätte ich aufgegeben und mich umgebracht, aber wie du sehen kannst, veränderte ich mich zu etwas Neuem. Ich hatte kaum etwas zu Essen, also suchte ich nach Kräutern und Blättern. Und eines Tages fand ich das da.« Sie deutete auf das Päckchen. »Zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, was ich damit anfangen sollte, aber als ich zurück an die Oberfläche kam und sah, was aus der Welt geworden war, begriff ich, dass es womöglich das letzte verbliebene Buch im Totenland war.«

      Die Königin machte eine Pause. Sie ging zurück zu ihrem Schreibtisch, holte ein paar grüne Blätter hervor und kaute auf ihnen herum. Alice hörte, wie Hasenohr in freudiger Erwartung grunzte, und die Königin warf ihm ein paar der Blätter zu, die er gierig verschlang. Alice erkannte die Blätter als Ganja, wie man Marihuana in Indien nannte, und erinnerte sich an die Warnungen der Älteren, nie davon zu essen. Wenn diese Frau, dieser Biter oder was immer die Königin auch sein mochte sich seit Monaten von Ganja-Blättern ernährte, dann erklärte das zumindest, woher die Halluzinationen kamen, denen sie sich offensichtlich hingab. Während Alice ihre Schlüsse zog, wickelte die Königin das Päckchen auseinander und hielt Alice dessen Inhalt entgegen.

      »Das