ALICE IM TOTENLAND. Mainak Dhar

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Название ALICE IM TOTENLAND
Автор произведения Mainak Dhar
Жанр Языкознание
Серия Alice im Totenland
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783958351516



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Sieg führen wirst.«

      Alice sah, dass die Königin ein leicht verkohltes Buch in den Händen hielt. Der Einband zeigte ein blondes Mädchen, dass hinter einem Hasen in ein Loch sprang, und Alice erkannte, dass diese Abbildung die Zeichnung inspiriert haben musste, die sie gesehen hatte. Und es erklärte, warum alle so aufgeregt waren, sie gefunden zu haben. Sie konnte nicht sofort alle Worte auf dem Umschlag entziffern, aber sie erkannte ihren Namen. Die Königin wirkte ein wenig enttäuscht, dass Alice das Buch nicht bekannt vorkam, aber sie wusste auch nicht, dass Alice in ihrem Leben noch kein einziges Buch gelesen hatte, und daher die Geschichte nicht kennen konnte.

      Alice im Wunderland.

      Hunderte von Bitern hatten sich in der großen unterirdischen Halle versammelt und knieten vor ihrer Königin. Sie alle hatten ein unablässiges, anschwellendes Heulen und Kreischen angestimmt, bei dem sich Alice am Liebsten die Ohren zugehalten hätte. Aber Hasenohr hielt ihre Arme hinter ihrem Rücken fest.

      Die Königin wandte sich an ihr Volk: »Seht sie euch an! Die Prophezeiung ist wahr! Sie wird uns zum Sieg führen uns für immer aus der Unterdrückung und den Grausamkeiten der bösen Menschen befreien. Sie wollten nicht mit uns zusammenleben, aber nun haben wir die Chance, ihnen begreiflich zu machen, dass sie uns akzeptieren müssen und wir Seite an Seite mit ihnen leben werden, oder wir einen letzten großen Krieg entfachen werden, um ihnen klarzumachen, dass wir künftig die vorherrschende Spezies auf diesem Planeten sein werden!«

      Die Biter mochten außerstande sein, in einer menschlichen Sprache zu sprechen, aber sie schienen die Königin sehr gut zu verstehen, und es dauerte nicht lange, bis alle in einen Freudentaumel verfielen. Je mehr Alice sah, umso mehr erinnerten sie die Biter an wilde Tiere, und die Königin beendete ihre Rede, indem sie ihnen zurief, sich für ihre Mission um Mitternacht vorzubereiten.

      Sie brachten Alice zurück in den kleinen Raum, der genau genommen ihre Gefängniszelle war. Die Königin erwartete, dass sie ihre Armeen zum Sieg führte, aber wie das genau funktionieren sollte, war ihr schleierhaft. Was konnte ein junges Mädchen schon groß bewirken? Außerdem hatte Alice keinerlei Interesse daran, irgendeine Rolle in den ausgedachten Prophezeiungen der wahnsinnigen Königin zu spielen. Sie konnte nur abwarten, auf eine Chance zur Flucht hoffen, und in der Zwischenzeit schien es die beste Strategie zu sein, mitzuspielen. Ihre Chance kam früher als gedacht, denn später am Abend rief die Königin sie zu sich.

      »Alice, sie sehen mich als ihre Anführerin, aber ich war schon eine alte Frau, bevor ich mich verwandelte. Ich mag gewisse Talente haben, aber die Fähigkeit zu kämpfen und Schlachten zu führen, gehört nicht dazu. Du bist diejenige, die die Führung übernehmen und unseren Kampf fortsetzen muss.«

      Alice hielt es nicht länger aus, und so platzte es aus ihr heraus. »Welcher Kampf? Warum lasst ihr die Menschen nicht einfach in Ruhe? Was haben wir dir getan, dass du uns diese Kreaturen auf den Hals hetzt?«

      Die Königin setzte sich. Ihre Lippen umspielte ein Lächeln, doch ihre Augen waren so leblos wie immer. »Ich gebe dir nicht die Schuld dafür, zu glauben, was du für richtig hältst. Du bist damit groß geworden, nur die eine Seite der Geschichte kennenzulernen. Und wenn ich in meinem Leben etwas gelernt habe, dann wie effektiv und mächtig doch Propaganda sein kann.«

      Sie sah die Skepsis in Alices Augen und fuhr fort. »Ich werde nicht den Versuch unternehmen, dich zu überzeugen, denn mein Wort hat bei dir kein Gewicht. Deshalb wirst du es mit eigenen Augen sehen.«

      Sie nickte, und Hasenohr packte Alice am Arm und führte sie aus dem Raum. Durch ein paar verschlungene Gänge hindurch zog er sie mehr, als dass er sie führte, und dann war sie plötzlich wieder an der Oberfläche. Draußen wurde es bereits dunkel, und um sie herum war dichter Wald. Sie erspähte ein kaputtes Schild und erkannte die Symbole darauf. In ihrem Training hatte man sie mit den Landschaften in der näheren Umgebung bekannt gemacht. Sie befanden sich in der Nähe des Yamunas, eines Flusses, oder was früher einmal ein Fluss gewesen war. Nachdem die nuklearen Feuersbrünste und die anschließenden Kämpfe die Dämme zerstört hatten, war er nur noch ein ausgetrocknetes Rinnsal. Um sich herum nahm sie Bewegungen wahr und sah, dass sich wenigstens ein Dutzend weitere Biter zwischen den Bäumen versteckten.

      Nachdem sie mehr als eine Stunde gewartet hatten, drehte sie sich zu Hasenohr um und fragte ihn, weshalb man sie hierher gebracht hatte, doch er grunzte nur, als wolle er ihr sagen, dass sie die Klappe halten und warten soll. Und dann geschah etwas Merkwürdiges. Eine große Gruppe Biter kam aus dem Wald, hunderte oder noch mehr. Sie alle liefen hintereinander im Gänsemarsch. Ein Anblick, der so gar nichts mit dem Bild der wilden, hirnlosen Rohlinge ohne Sinn für Vernunft und Koordination zu tun hatte, mit dem sie aufgewachsen war. Doch was ihr am meisten die Sprache verschlug, war die Tatsache, dass diese Biter nicht einfach ein wild zusammengewürfelter Haufen auf der Suche nach Menschenfleisch waren, sondern eine soziale Gemeinschaft darstellten. Unter ihnen gab es einige Frauen, und viele davon trugen Kinder. Die Kinder selbst sahen mit ihrer gelblichen Haut und den vielen Wunden und Schwären auf ihren blutverschmierten Körpern aus als wären sie einem Albtraum entsprungen, dennoch waren es Kinder. Alice konnte nicht sagen, ob es sich um Familien handelte, die sich nach ihrer Verwandlung geformt und fortgepflanzt hatten oder ob es Familien waren, deren Bindungen auch dann noch Bestand hatten, als sie selbst ihre Menschlichkeit verloren hatten. Doch so oder so sah sie den unumstößlichen Beweis vor sich, dass es mit den Bitern mehr auf sich hatte, als man sie bislang glauben machen wollte.

      Als die Kolonne näherkam, konnte Alice die Biter in Augenschein nehmen. Wie sie langsam schlurfend, gebeugt, mit eingezogenen Schultern hintereinander hergingen, erinnerten sie weitaus mehr an Flüchtlinge als an umherstreifende Monster. Hasenohr stieß hinter ihr ein Kreischen aus, und zwei Biter vom Kopf der Gruppe antworteten ihm auf die gleiche Weise. Was bezweckte die Königin damit, sie hierher zu schicken? Sicherlich, mit den Bitern hatte es mehr auf sich, als man sie bisher gelehrt hatte, aber nichts von dem, was sie bisher gesehen hatte, konnte sie dazu umstimmen, sich der Königin anzuschließen oder Teil ihrer wirren Prophezeiung zu werden. Nein, für Alice war klar, dass sie die erste Gelegenheit zur Flucht ergreifen würde, die sich bot.

      Genau in diesem Moment hielt die Gruppe an. Ein Großteil der erwachsenen Biter sah hinauf zum Himmel. Ein paar der Kinder begannen zu heulen, ein unmenschliches Geräusch, bei dem sich Alice die Nackenhaare aufstellten. Sie konnte nicht erkennen, warum die Biter sich auf einmal anders verhielten, aber innerhalb weniger Sekunden hatte sich die wohlgeordnete Kolonne in einen aufgescheuchten Haufen angsterfüllter umherirrender Untoter verwandelt. Voller Entsetzen schrien und rannten die Biter durch die Gegend, einige stürzten sogar gegen Bäume und fielen um. Hasenohr war mittlerweile aus seinem Versteck hervorgekommen und stieß ein ohrenbetäubendes Heulen aus, in das die anderen Biter, die sich noch im Unterholz versteckt hielten, mit einstimmten.

      Es erweckte den Anschein, als hätte die Königin Hasenohr und die anderen ausgesandt, um jene Gruppe sicher durch den Wald zu eskortieren. Doch an irgendeine Form von Ordnung war nun nicht mehr zu denken. Die Biter rannten umher, schrien wie wilde Tiere, die die Witterung von Jägern aufgenommen hatten, und eine von ihnen, eine Frau mit einem blutigen und zerschundenen Kind im Arm, kam bis auf wenige Meter an Alice heran. Als sie diese erblickte, funkelte sie Alice mit einem hasserfüllten Blick an und bleckte ihre blutverschmierten Zähne. Sie schien bereit, sich auf Alice zu stürzen, aber Hasenohr kam ihr zuvor, schlug ihr von hinten gegen den Kopf und brachte sie so zu Fall.

      Während Alice noch darüber nachdachte, was das Durcheinander verursacht haben konnte, hörte sie ein vertrautes Geräusch. Rotoren, das Surren sich nähernder Hubschrauber. Sie sah zum Himmel und erblickte mehrere schwarze Helikopter, die sich der Lichtung näherten. ZEUS.

      Der weibliche Biter, den Hasenohr umgestoßen hatte, versuchte gerade mühsam, sich aufzurichten, als ihr Kopf in einem blutigen Schwall explodierte. Alice schrie auf und ging hinter einem Baum in Deckung. Scharfschützen an Bord der eintreffenden Helikopter eröffneten das Feuer. Drei weitere Biter wurden von den Schüssen überrascht, ihre Köpfe zerplatzten durch die Wucht der Einschläge, bevor sich die anderen Biter in die Büsche schlugen. Das Kind, dass die Frau bei sich getragen hatte, lag direkt vor Alices Füßen. Der Anblick, den es bot – das aufgeworfene Gesicht, die blutige Haut, ließ bei ihr keine der Emotionen aufkommen,