Kapitalismus, was tun?. Sahra Wagenknecht

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Francis Mer, der den kürzlich angezeigten blauen Brief aus Brüssel mit der höflichen Bemerkung abtat, sein Land habe eben »beim Sparen einen anderen Rhythmus«. Das war die diplomatische Umschreibung dafür, dass er keineswegs – wie von Brüssel angemahnt – das Haushaltsdefizit in diesem Jahr um 0,5 Prozent zu senken beabsichtigt und auch für 2006 ein Defizit im französischen Staatshaushalt erwartet.

      EU-Wirtschaftskommissar Solbes reagierte darauf, wie er es seit Jahren gelernt hat, nämlich mit Verweis auf Frankreichs nötigen Beitrag, »damit das Vertrauen in den Euro erhalten bleibt und gestärkt wird«. Das Problem ist nur: Seit der Euro unaufhaltsam aufwertet, hätte die europäische Exportindustrie gar nichts mehr dagegen, wenn das »Vertrauen« wieder ein wenig schwächer würde. Es könnte daher passieren, dass Eichels und Schröders »Vodoo-Ökonomie« bald von seinen konservativen Kollegen im Nachbarland ausgebremst wird.

      1. Februar 2002

      Kurzzeitgedächtnis

      Wenn die Konjunktur boomt und mit ihr die Rendite, wird die ökonomische Theorie zum Tummelplatz jener besonders dumpfen Sorte von Marktapologeten, die sich durch ein wissenschaftliches Alzheimer-Syndrom, will heißen: die Abwesenheit von Erinnerungsvermögen auszeichnen. In der Krise dagegen, in die die entfesselten Marktkräfte verlässlich nach gewisser Zeit führen, erhalten wieder jene Rückenwind, die den Kapital-Gesandten im politischen Geschäft genau das vorwerfen, was ihnen zuvor abverlangt wurde: Verzicht auf die Steuerung des betriebswirtschaftlichen Profitkalküls zwecks Erhalt der gesamtwirtschaftlichen Stabilität.

      Dieselbe Debatte findet derzeit in den USA auf der Ebene einer Auseinandersetzung über Ziele und Methoden von Zentralbankpolitik statt. Mit der Spekulationsblase an den Aktienbörsen ist auch jener Mythos geplatzt, der den Namen Alan Greenspan trug. Der umjubelte Held der »Goldenen Neunziger«, auf dessen »glückliche Hand« mancher Wall-Street-Yuppie nicht nur eine Flasche Champagner gelehrt haben dürfte, damals, als die Kurse stiegen und stiegen und man mit etwas Glück in Tagen, ja Stunden Millionen verdienen konnte – Greenspan sieht sich inzwischen mit dem Vorwurf attackiert, er habe die Exzesse an den Finanzmärkten zu lange hingenommen, ohne angemessen zu reagieren. Vorgetragen wird dieser Vorwurf nicht von irgendwem, sondern von namhaften amerikanischen Ökonomen, und auch nicht irgendwo, sondern in den Top-Spalten der renommierten amerikanischen Wirtschaftspresse.

      Zwar wird eingeräumt, dass der amerikanische Zentralbanker immerhin bereits im Dezember 1996 vor einem »irrationalen Überschwang« gewarnt hatte; der Warnung aber – so die Kritiker – seien keine Taten gefolgt. Im Gegenteil, nach der minimalen Zinserhöhung im März 1997 habe Greenspan nur ein Jahr später, als die Aktienmärkte infolge von Asien- und Russlandkrise und nach dem Beinahezusammenbruch des amerikanischen LTCM-Hedge-Fonds das erste Mal ins Taumeln gerieten, sein Liquiditätsfüllhorn wieder generös geöffnet. So konnte die Börsenparty weitergehen und von ihr gesponsert lebte die Reichtums-Illusion der amerikanischen Mittelklasse fort, die sich unverzagt in Konsum und Schulden stürzte, was neben den börseninduzierten virtuellen auch die realen Gewinne von Unternehmen und Banken auf lichte Höhen trieb. Im Januar 2000 erreichte der Dow Jones seinen Gipfel mit einem Wert von 11 722 Punkten. Seitdem geht es abwärts: in der virtual reality der Börsen wie in der realen Wirtschaft und mit Greenspans Ansehen.

      Es ist durchaus wahrscheinlich, dass eine kräftige Zinserhöhung der Fed im Sommer 1998 den ganzen Spuk bereits zwei Jahre früher beendet hätte. Unwahrscheinlich ist, dass die folgende Weltwirtschaftskrise milder ausgefallen wäre als sie jetzt droht. Und noch unwahrscheinlicher ist, dass ein Zentralbanker eine solche Entscheidung im Amt überlebt hätte. Nicht nur eine gewisse Sorte Ökonomen, der ganze Kapitalismus lebt vom Kurzzeitgedächtnis. Jeder nur etwas anhaltende Aufschwung wird zur »New Era« erklärt, die nie wieder endet, weil diesmal alles ganz anders ist. Und wehe dem, der diese Scheinwelt stört, solange sich in ihr gut Geld verdienen lässt. Jeder Crash wird folgerichtig mit dem gleichen verblüfften Entsetzen quittiert, das bald darauf in die wütende Suche nach Schuldigen umschlägt.

      Die Vorwürfe gegen Greenspan gehören ebenso in diese Rubrik wie der öffentliche Pranger für frühere »Star-Analysten« großer amerikanischer Investmentbanken, der die unangenehme Bekanntschaft mit US-Staatsanwälten inzwischen einschließt. Natürlich haben diese Analysten gelogen, natürlich haben sie, in vielen Fällen wissentlich, Tausenden Kleinsparern Aktien von Beinahe-Pleite-Unternehmen als hochlukrative Anlage aufgeschwatzt. Aber das war der Job, für den sie bezahlt wurden. Die öffentlich agierende Analystenzunft an der Wall Street war nie etwas anderes als die Werbekolonne der bankinternen Investment-Abteilung, und ein Blick auf die Hierarchie der Geschäftsbereiche hätte genügt, um bereits vor drei Jahren zu wissen, dass es so war.

      Aber nicht jene Analysten und nicht Greenspan haben die Amerikaner um ihre Spargelder und ihre Alterssicherung gebracht, sondern diejenigen, die die öffentlichen Sicherungssysteme auf jenes armselige Niveau herunterdrückten, das private Vorsorge unerbittlich erzwingt. Und der Keim für die jetzige Krise liegt nicht in falscher Zinspolitik, sondern in jenen Hundelöhnen, die während des gesamten angeblichen »Booms« am unteren Ende gezahlt werden konnten, weil eine nach fünf Jahren auslaufende Sozialhilfe immer mehr Menschen zwang, den Job trotzdem anzunehmen. Verwunderlich ist nicht der jetzige Zustand der US-Wirtschaft, sondern allenfalls die lange Zeitspanne, in der trotz massivster Einkommensumverteilung von unten nach oben das Desaster hinausgeschoben werden konnte.

      Bush schreibt mit dem geplanten Steuersenkungspaket im Volumen von 674 Milliarden Dollar, deren Nutznießer nahezu ausschließlich der reichen Oberschicht angehören, diesen Trend fort. Außerdem bewirkt ein Wegfall öffentlicher Einnahmen in dieser Größenordnung bei gleichzeitig exorbitant steigenden Militärausgaben naturgemäß tiefrote Zahlen im öffentlichen Haushalt, also steigenden staatlichen Kapitalbedarf, der die Renditen am privaten Kapitalmarkt wieder nach oben treiben wird. Ein schwacher Dollar und ein täglich mit mehreren Milliarden zu finanzierendes Leistungsbilanzdefizit wirken ebenfalls in diese Richtung. Mögliche kriegsbedingte Inflation und ein hoher Ölpreis dürften das ihre dazu beitragen, die Fed unter Druck zu setzen, auch die offizielle Zinsschraube wieder nach oben zu drehen, was angesichts des riesigen Schuldenbergs amerikanischer Verbraucher und Unternehmen den verbliebenen Resten ziviler Wirtschaftsaktivität in den Vereinigten Staaten den Todesstoß versetzen kann. Vielleicht, um dann nicht wieder der Buhmann zu sein, hat Greenspan Bushs Pläne dieser Tage öffentlich kritisiert und auf die Folgen hingewiesen. Helfen wird es ihm wenig. Der Kapitalismus hat halt ein Kurzzeitgedächtnis.

      15. Februar 2003

      Wirtschaftskrieg

      Die Demütigung sitzt tief; man schweigt verstimmt. Die Rating-Agentur Standard & Poor’s hat die Kreditwürdigkeit des Stahlkonzerns Thyssen-Krupp auf Junk-Bond-Niveau herabgestuft. Junk Bonds – zu deutsch: Schrott- bzw. Ramsch-Anleihen – begeben in der Regel Firmen mit zweifelhaftem Finanzgebaren, schwer durchschaubarem Geschäftsmodell und überbordenden Schulden, auf deren Fortexistenz man besser nichts verwetten sollte; auch einige Dritte-Welt-Staaten (insbesondere solche mit der sympathischen Eigenheit, Zinszahlungen auf ihre Schulden zuweilen auszusetzen) finden sich in dieser Rating-Rubrik. Gekauft werden derartige Papiere in der Regel von Hedgefonds und anderen Spekulations-Liebhabern, die versuchen, ihr Auf und Ab in schnelle Gewinne umzumünzen. Wer eher langfristige Kuponabschneiderei im Sinn hat, lässt die Finger davon; Versicherungen und Pensionsfonds ist es in vielen Ländern gesetzlich untersagt, das Geld ihrer Anleger für derlei Zeug zu verausgaben. In dieser Gesellschaft befindet sich also jetzt der vor wenigen Jahren fusionierte Traditionskonzern Thyssen-Krupp, Mitte des letzten Jahrhunderts eine der Machtbasen des deutschen Imperialismus, rühriger Hitler-Finanzier, Antreiber wie Profiteur des Weltkriegs-Kurses – und jetzt ein Schrott-Bond, welche Erniedrigung!

      Sicher, Herabstufungen der Kreditwürdigkeit sind in Krisenzeiten nicht selten. Allein 2002 verloren 25 Unternehmen ihren »Investitionsstatus«, darunter elf europäische. Die Folgen für die Beschäftigten sind in der Regel fatal, denn ein Unternehmen, über das das Rating Duopol aus Moddy’s und S & P den Daumen senkt, gerät in einen Kreislauf rigider Sparprogramme, rüder Entlassungswellen und oft genug dennoch weiter wachsender Schulden. Am Ende steht nicht selten die Insolvenz. »Gefallene Engel« – so heißen die Ramsch-Unternehmen in der zartfühlenden Sprache der Börsenhaie – werden meist