Kapitalismus, was tun?. Sahra Wagenknecht

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etwas mit der Höhe der letzteren während der vergangenen Jahre zu tun haben könnte, bleibt tunlichst unerwähnt. (Dabei ließe sich Interessantes über den Kausalzusammenhang zwischen wachsender Mehrwertrate und wachsenden Schwierigkeiten der Mehrwertrealisierung bei einem Ökonomen namens Karl Marx nachlesen. Selbiger Wissenschaftler hat auch das scheinbare Paradox erörtert, dass forcierte Ausbeutung sich unter Umständen gar nicht auszahlt und auch deren Antreiber und Nutznießer am Ende weniger haben. Obwohl mittlerweile fast 150 Jahre alt, wirken seine Schriften irgendwie aktueller als die vor drei/vier Jahren modernen Elaborate der New-Economy-Propheten, die – nicht zum ersten Mal – die Umwertung aller Werte und die Aufhebung aller bis dato geltenden kapitalistischen Entwicklungsgesetze beschworen und auch im linken Spektrum emsige Nachbeter fanden. Aber das nur nebenbei.)

      Inzwischen haben sämtliche Wirtschaftsinstitute ihre Prognose für 2003 nach unten revidiert. Selbst die Bundesregierung erwartet – nach einem kabarettauglichen Streit zwischen Eichel und Clement, in dem letzterer mit dem Argument »Wir müssen Optimismus verbreiten« an der irrealen Wachstumsprognose von 1,5 Prozent für 2003 festzuhalten verlangte – jetzt nur noch ein »Wachstum« von einem Prozent. Offiziell. Im Ernst glaubt wohl auch daran keiner mehr. Denn woher soll’s kommen? Die inländische Nachfrage nach Konsum und Investitionen ist 2002 um insgesamt 1,3 Prozent geschrumpft. Ausschließlich dem um 2,9 Prozent gestiegenen Export ist zu verdanken, dass das Bruttoinlandsprodukt (BIP) mit einem Plus von insgesamt 0,2 Prozent ausgewiesen werden konnte. Diese Zahl macht übrigens auch die Mühe begreiflich, die die Statistiker darauf verwandten, die Inflationsrate trotz spürbarer Teuerung bei Grundnahrungsmitteln und Dienstleistungen in Höhe von 1,3 Prozent einzufrieren. Denn da das reale BIP aus dem nominalen abzüglich Inflationsrate errechnet wird, vermindert jeder zusätzliche Prozentpunkt Inflation die dokumentierte Wirtschaftsleistung. Im Klartext: Bei einer Inflationsrate oberhalb 1,5 Prozent hätte zugestanden werden müssen, was aller Schönwetter-Propaganda zum Trotz ohnehin jeder spürt: dass eine Rezession der deutschen Wirtschaft nicht nur droht, sondern seit einem Jahr Realität ist.

      Und nichts spricht für baldige Erholung. Der private Verbrauch wird 2003 dank Schröders neuer Runde an Sozialkürzungen und sonstigen Zusatzbelastungen, außerdem durch steigende Arbeitslosigkeit, dürre Tarifabschlüsse und be-Hartztes Lohndumping voraussichtlich noch tiefer gedrückt. Die öffentlichen Ausgaben werden zusammengestrichen, wo keine starke Lobby Beibehaltung erzwingt. Das alles stimuliert keine neuen Investitionen, zumal mittlere Unternehmen mit geringer Eigenkapitaldecke immer größere Probleme haben, überhaupt noch Kredit zu bekommen. Und das Ausland? Die Beschäftigten anderer europäischer Länder haben zwar, sofern mit kämpferischeren Gewerkschaften gewappnet, in den vergangenen Jahren höhere Lohnabschlüsse durchgesetzt als hierzulande üblich. Inzwischen aber rollt auch da die Entlassungswelle. Der durchschnittliche US-Verbraucher ist hochverschuldet und bangt ebenfalls um seinen Job. Ein einziges Szenario fällt dem Handelsblatt ein, das Aufschwung verheißen könnte: »Wenn die USA einen Krieg rasch für sich entscheiden, könnte der Ölpreis wie ein Stein zu Boden fallen und die Börsen boomen. Die Weltwirtschaft würde durchstarten, selbst Deutschland könnte sich dann einer Erholung nicht mehr entziehen.« Nun ja, bis zur nächsten Krise und zum nächsten Krieg?

      18. Januar 2003

      Voodoo-Ökonomie

      »Voodoo-Ökonomie« sei das, was Eichel betreibe, donnerte der wahlkampfgestresste niedersächsische Noch-Ministerpräsident Gabriel dieser Tage gegen seinen Parteikollegen im Finanzministerium. Auf Eichels Pfaden sei das Ziel, bis 2006 einen ausgeglichenen Haushalt vorzulegen, nimmer erreichbar, erläuterte er dem Tagesspiegel. Wo der Mann recht hat, hat er recht. Ob allerdings die von Gabriel angeregte Abschaffung des Branntweinmonopols – Einsparbetrag maximal 100 Millionen Euro – Eichel seinem Ziel wesentlich näher brächte, darf bezweifelt werden. Allein die Wiedereinführung der Vermögenssteuer würde das mehr als Hundertfache bringen. Aber da diese Steuer seit des Kanzlers Rüffel auch für Gabriel tabu ist, quält er in Wiederwahlnot seinen und seiner Mitarbeiter Köpfe mit dem Aufspüren von »ungenutzten sinnvollen Einsparpotenzialen« (Gabriel), die Konzernbossen und Geldadel nicht wehtun, ihm, Gabriel, aber auch nicht noch den letzten Arbeitslosen als Wähler verprellen. Der Branntwein-Vorschlag zeigt, was bei derlei Gedankenakrobatik herauskommt.

      Eichel wird die Pöbelei von der halblinken Flanke mit Fassung ertragen haben, denn es kann ausgeschlossen werden, dass er selbst noch ernsthaft an die Ziellinie 2006 glaubt. Weshalb auch? Ursprünglich – formuliert im sogenannten europäischen Stabilitätspakt – hatte sich die Auflage, die öffentlichen Neuverschuldung auf Null zu senken, auf das Jahr 2002 bezogen. Als klar wurde, dass dies an der Realität der europäischen Länder vorbeiging, wurde auf 2004 verschoben.

      Im Herbst 2002 sprach sich erneut bis Brüssel herum, dass Deutschland, Frankreich, Italien und Portugal unverändert tief in den Miesen stecken. Also beschloss die EU-Kommission, die Frist bis 2006 zu verlängern. Es gab ein bisschen Gezänk, aber die Entscheidung stand nie wirklich in Frage. Alles spricht dafür, dass die gleiche Kommission im Herbst 2004 wieder tagen und wieder verlängern wird – so es den Pakt bis dahin überhaupt noch gibt.

      Es wäre allerdings ein Fehler, diese Taktik als Schwäche des Neoliberalismus zu werten. Bezogen auf das Konsolidierungsdogma gilt ausnahmsweise der alte Bernstein wirklich: Der Weg ist das Ziel. Es interessiert das Kapital herzlich wenig, ob die öffentlichen Haushalte dieser Welt hoch oder niedrig verschuldet sind. Der einzig interessierende Punkt ist, ob sie ihren Zins- und Tilgungspflichten nachkommen können. Ob dies bei Fortsetzung der alten Schuldenpolitik für einige europäische Länder mit Einführung des Euro (der die Möglichkeit, Zahlungen notfalls durch Ingangsetzen der nationalen Notenpresse zu leisten, ausschließt) hätte schwierig werden können, mag strittig sein. Inzwischen steht es für kein Land im Euroraum mehr infrage.

      Noch mehr als die allgemeine Zahlungsfähigkeit interessierte das europäische Kapital zu Beginn der Neunziger, als die Gemeinschaftswährung ausgeheckt wurde, allerdings ein anderer Punkt: Die Verbesserung seiner Verwertungsbedingungen. Denn in seinen Augen hatten die westeuropäischen Staaten zu Kalten Kriegszeiten erheblichen Sozialspeck angesetzt – also Dinge wie Kündigungsschutzbestimmungen, Mindestlöhne, kostenlose Bildung und Gesundheitsversorgung, Zahlungen an Arbeitslose, Sozialhilfe usw. – und dieser »Speck« war nach dem Ende der Systemkonkurrenz unter Profitgesichtspunkten überflüssig geworden.

      Eine Politik indes, die sich der Ausrottung all dessen verschrieb, war aus naheliegenden Gründen unpopulär und daher nicht leicht durchsetzbar. Der tiefere Sinn von Maastricht-Kriterien und Stabilitätspakt bestand also darin, den europäischen Regierungen, die ja alle immer irgendwann wiedergewählt werden wollen, die Umsetzung zu erleichtern. Dank der Verträge von Maastricht und Amsterdam konnten sie bei jeder sozialen Brutalität auf einen Buhmann in Brüssel verweisen, der sie – womöglich gegen ihren Willen – zu derartigen Missetaten zwang. Auch wenn es mit der Wiederwahl in vielen Fällen dennoch nicht geklappt hat, hinsichtlich der Missetaten war der Stabilitätspakt europaweit außerordentlich erfolgreich. Wenn er morgen aufgekündigt wird, dann, weil sein eigentliches Ziel in den meisten Ländern erreicht ist.

      In einer rezessiven Lage wie der jetzigen ist die Wahl zwischen der Weiterführung prozyklischer Rotstiftpolitik, die den Unternehmen die letzten Absatzmöglichkeiten ruinieren könnte, und laxerer Handhabe des Verschuldungsdogmas, was dann allerdings auch drakonische Sozialkürzungen nicht mehr gut begründbar macht, aus Sicht der Renditejäger ohnehin eine Wahl zwischen Pest und Cholera. Es ist keine Frage des sozialen Gewissens, sondern eine des Profitkalküls, auf welche Seite man sich dabei schlägt.

      So hofft etwa Jürgen Michels von der Citygroup sogar (zumindest für Deutschland) auf eine Verschärfung der Wirtschaftskrise, da alles andere »die unumgänglichen Strukturreformen« nur wieder vertagen würde: »Die kommen nur, wenn es richtig weh tut«, ließ er sich im Handelsblatt zitieren. Auch der Europa-Chefvolkswirt von Morgan Stanley, Joachim Fels, plädiert ausdrücklich gegen eine konjunkturfördernde Zinssenkung der Europäischen Zentralbank, weil, wie er meint, »zur Disziplinierung der Gewerkschaften eine Rezession nötig« sei. Wenig von solcher Position hält dagegen Daval Joshi, globaler Aktienstratege von Société Générale, der feststellt, dass Absatzprobleme die Kostensenkungen in vielen Unternehmen längst überkompensiert haben. Denn: »In Kontinentaleuropa