Название | Kapitalismus, was tun? |
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Автор произведения | Sahra Wagenknecht |
Жанр | Зарубежная прикладная и научно-популярная литература |
Серия | |
Издательство | Зарубежная прикладная и научно-популярная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783360500397 |
Guido Westerwelle hat wiedermal nichts begriffen. Die bundesdeutsche Kapitallobby braucht keine Lady Thatcher. Schröder und Sommer im Verbund tun’s auch.
15. März 2003
Deflationsgefahren
Wer gerade seine Wochenendeinkäufe erledigt, eine Tankstelle aufgesucht oder in einem Restaurant die DM-kompatible Preisliste studiert hat, mag Ökonomen, die – und zwar zunehmend lauter – vor Deflationsgefahren warnen, einfach nur für weltfremde Idioten halten. Aber so berechtigt dieses Verdikt für viele Bereiche der Mainstream-Ökonomie sein mag, in dieser Frage stimmt es nicht.
Tatsächlich galt Deflation jahrzehntelang als für die Entwicklung kapitalistischer Wirtschaften obsolet gewordenes Phänomen. Während vor dem Zweiten Weltkrieg nahezu jede Krise von fallenden Preise begleitet wurde, die sie ihrerseits verstärkten – eine Rückkopplung, die in der Weltwirtschaftskrise nach 1929 ihre bisher zerstörerischste, aber auch für lange Zeit letztmalige Dynamik entfaltete, stiegen die Preise in den Krisen der Nachkriegszeit in der Regel unverdrossen weiter, am krassesten in den siebziger Jahren. Damals wurde der Begriff der Stagflation geboren. Theoretische Erklärungen dieser neuen Erscheinung wurden gesucht und von unterschiedlicher ökonomischer Warte aus angeboten. Tatsächlich gab es Gründe für die Annahme, dass das Preisniveau im Spätkapitalismus nur noch eine Richtung – die nach oben – kennt. Dafür sprach vor allem die enorme wirtschaftliche Konzentration in den Kernbereichen der westlichen Ökonomien. Konzerne, die über hinreichende Marktmacht verfügen, um auf Nachfragerückgänge statt durch Preisnachlässe durch Verknappung des Angebots reagieren zu können, werden vermutlich diesen Weg wählen. Seit Aufhebung des Goldstandards gibt es zudem keinen im Wertgesetz verankerten Zusammenhang zwischen volkswirtschaftlicher Produktivität und Preisniveau mehr.
All das gilt heute wie vor dreißig Jahren. Die sogenannte Globalisierung – die ja in erster Linie darin bestand, Konzerne über Megafusionen in riesige Global Player zu verwandeln, fit zur Ausbeutung aller ausbeutbaren Ressourcen dieser Welt – hat die Macht über Märkte und Staaten eher noch verstärkt. Wenn der Chef des weltgrößten Stahlproduzenten Arcelor, Guy Dollé, dem Handelsblatt die Strategie seines Konzerns mit den Worten erläutert: »Was mir aber Sorge macht, sind die schwache Nachfrage und die starke Aufwertung des Euros … Deshalb fahren wir schon jetzt unsere Produktion um fünf Prozent im Flachstahl zurück, mit dem Ziel, die Preise besser zu kontrollieren«, spricht er für viele und erübrigt einen Kommentar.
Dass Deflation dennoch alles andere als ein Gespenst aus alten Tagen ist, zeigt das Beispiel Japan. Seitdem Ende der Achtziger jene gewaltige Spekulationsblase, die sich in den Jahren des japanischen »Wirtschaftswunders« auf dem Aktien- wie Immobilienmarkt aufgeblasen hatte, geplatzt ist, lebt das Land im Würgegriff einer Dauerdepression, die durch anhaltende Preisniveausenkungen verstärkt und verschlimmert wird. Die Arbeitslosigkeit, die Japans Wirtschaft vorher kaum kannte, ist erheblich angestiegen, die Einkommen sinken – und zwar überwiegend schneller als die Preise. Die Banken wälzen Abermilliarden fauler Kredite vor sich her; ohne Sozialisierung eines erheblichen Teils der Verluste wäre das japanische Finanzsystem längst kollabiert.
Marktmacht und Preisverfall schließen sich offenkundig doch nicht aus. Ein Grund dürfte sein: Marktbeherrschende Konzerne besitzen nicht nur als Anbieter, sondern auch als Nachfrager gegenüber ihren Zulieferern erhebliches Druckpotenzial, und letzteres wächst noch in der Krise. Hinzu kommt: In den USA und Europa haben zwei Jahrzehnte gewerkschaftsfeindlicher Deregulierungs- und Umverteilungspolitik dazu geführt, dass die von den Neoliberalen wortreich beklagte »Lohnrigidität nach unten« – gemeint ist, dass Nominallöhne normalerweise schwer zu senken sind – in weiten Bereichen nicht mehr existiert. Billigjobs, Outsourcing und Überstunden machen’s möglich. All das befähigt insbesondere Großunternehmen, ihre Kosten erheblich zu reduzieren, was ohne Profiteinbuße Spielräume für Preissenkungen eröffnet. Diese Situation, bei gleichzeitig extrem hoher Verschuldung von Unternehmen und Verbrauchern, enthält alle Potenziale einer Deflationsspirale.
Das Spezielle an der heutigen Lage besteht darin, dass fallenden Preisen in einigen Branchen steigende in anderen gegenüberstehen, weshalb die offizielle Inflationsrate weder das eine noch das andere ausweist. In Bereichen, in denen die Nachfrage relativ unelastisch reagiert, etwa bei Nahrungsmitteln, können unverändert hohe Preise durchgesetzt werden. Auch Öl wird zumindest solange teuer bleiben, wie der Irak den Aggressoren Widerstand entgegenzusetzen vermag. All das (wie auch die steigenden Kriegskosten, die überwiegend der US-Steuerzahler trägt) beschleunigt den Wegbruch der Nachfrage in anderen Bereichen. Auch in Europa ist zusätzlich zu allen sonstigen Problemen mit einer Aufrüstungswelle – Stichwort: Gemeinsame Europäische Außen- und Sicherheitspolitik – zu rechnen, die irgendwer bezahlen muss.
In der ökonomischen Debatte gelten Deflationen in der Regel als schwerer beherrschbar denn Inflationen. Während sich Preissteigungen durch Hochzinspolitik und Sparprogramme in der Regel erfolgreich abwürgen lassen – wenn auch um den Preis Millionen Arbeitsloser und wachsender Armut –, kann Deflationsbekämpfung mittels einer Politik des billigen Geldes leicht verpuffen, wenn die Banken sie zur Sanierung ihrer Margen nutzen und zugleich Kredite knapp und teuer halten. Sinkende Preise erhöhen den Realzins wie auch die Last der Schulden zusätzlich – der privaten wie der öffentlichen – und schränken damit fiskalpolitische Spielräume weiter ein. Dennoch: Kaum ein anderes ökonomisches Phänomen zeigt den Irrwitz der kapitalistischen Verwertungsmaschinerie und das Klasseninteresse, das die herrschende Politik lenkt, so deutlich wie deren Machtlosigkeit gegenüber Deflationen. Ein einziges zinsfrei notenbankfinanziertes Milliardenprogramm, eingesetzt zur drastischen Erhöhung von Kindergeld, Arbeitslosenunterstützung und Renten – und schon wäre jede Deflationsgefahr gebannt. Schröder freilich versucht sich lieber mit dem Gegenteil. Das Ergebnis wird nicht auf sich warten lassen.
29. März 2003
Produktivitätslegenden
»Sozialdemokraten verraten ihre Ideale« grollte vor kurzem eine Tageszeitung in ihrer Titelzeile. Nun ist dieser Sachverhalt nicht ganz neu und hat sich auch leidlich herumgesprochen – seit Schröders letzter Kanzlerrede offenbar sogar bis in die Spitzen der Gewerkschaften. Auch ist der Ausspruch eigentlich ein wenig beschönigend, denn von jemandem, der bereits vor Jahrzehnten seine Großmutter erschlagen hat, in der Folgezeit seine Eltern, Onkel, Tanten und Cousins und kürzlich seine schwangere Ehefrau, würde man vermutlich auch nicht nur sagen, er pflege seine familiären Beziehungen schlecht.
Aber der vermeintliche Beistand kommt ohnehin aus ungewohnter Ecke. Unter besagter Headline – Unterüberschrift: »Niedriglohn« – veröffentlichte nämlich ausgerechnet das Handelsblatt einen langen Artikel, der die wohlbetuchte Leserklientel mit folgender Erkenntnis erschütterte: »Sie [die SPD] verraten … ihre eigene Geschichte. Die Arbeiterbewegung entstand, weil in der industriellen Revolution breite Bevölkerungskreise verarmten. Heute verarmen ebenfalls weite Bevölkerungskreise.« Was auf diese Einsicht in die kapitalistische Verteilungsproblematik folgt, ist allerdings kein Spendenaufruf nach dem Muster: »Liebe Unternehmerinnen und Unternehmer, seien sie großherzig, drücken Sie ihren Billiglöhnern und Leiharbeitern ab und an einen Euro extra in die Hand, sie brauchen es!«, sondern eine kurz und knappe Begründung für besagte Verarmung »weiter Bevölkerungskreise«, und diese Begründung lautet: »Weil ein schlecht gemanagter Sozialstaat den Geringqualifizierten das Recht auf Arbeit raubt.«
Wenn Zynismus eine zivilisatorische Errungenschaft ist, dann sind die Sieger des Kalten Krieges tatsächlich zivilisierter als der östliche Sozialismus es je sein konnte. Der Kapitalismus kämpft für die Freiheit der Unfreien, indem er sie mit Streubomben zerfetzt, und er kämpft für den Wohlstand der Armen, indem er ihnen noch das Letzte nimmt. Wer in dieser Gesellschaft ankommen will, muss begreifen: Wenn BDA-Chef Hundt verlangt, das Arbeitslosengeld am besten ganz zu streichen, betreibt er nicht profitmaximierende Interessenpolitik, sondern engagiert sich für das Recht auf Arbeit. Und Schröders Verantwortung für wachsende Armut rührt nicht daher, dass er soziale Leistungen mit Verve zerschlägt, sondern daher, dass er immer noch nicht alle zerschlagen hat.
Zur Begründung dieser Art