Название | Leopold von Ranke: Historiografische Werke |
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Автор произведения | Leopold von Ranke |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9788027206056 |
Seit der Mitte des Jahrhunderts aber begann eine neue Entwicklung des nationalen Geistes. Wir dürfen nicht vergessen, daß diese doch sehr von jenem Standpunkt ausging, obwohl sie in einem gewissen Gegensatz mit demselben begriffen war. Unbefriedigt, zwar noch festgehalten, aber nicht mehr so beschränkt von dem dogmatischen System, erhob sich der deutsche Geist zu einer poetischen Ergänzung desselben.404
Die Religion ward endlich einmal wieder, und zwar, worauf alles ankommt, ohne Schwärmerei, in ihren menschlichen Beziehungen dem Gemüte nahe gebracht. In kühnen Versuchen ermannte sich die Philosophie zu einer neuen Erörterung des obersten Grundes aller Erkenntnis.405
Nebeneinander, an demselben Orte, wesentlich verschieden, aber nahe verwandt, traten die beiden Richtungen der deutschen Philosophie hervor,406
welche seitdem, die eine mehr anschauend, die andre mehr untersuchend, sich neben- und miteinander ausgebildet, sich angezogen und abgestoßen, aber nur zusammen die Fülle eines originalen Bewußtseins ausgedrückt haben. Kritik und Altertumskunde407
durchbrachen die Masse der Gelehrsamkeit und drangen bis zu lebendiger Anschauung hindurch. Mit einem Schlage dazu erweckt, von seiner Gründlichkeit und Reife unterstützt, entwickelte dann der Geist der Nation selbständig und frei versuchend eine poetische Literatur,408
durch die er eine umfassende, neue, obwohl noch in manchem inneren Konflikt begriffne, doch im ganzen übereinstimmende Weltansicht ausbildete und sich selbst gegenüberstellte. Diese Literatur hatte dann die unschätzbare Eigenschaft, daß sie nicht mehr auf einen Teil der Nation beschränkt blieb, sondern sie ganz umfaßte, ja ihrer Einheit zuerst wieder eigentlich bewußt machte.
Wenn nicht immer neue Generationen großer Poeten auf die alten folgen, so darf man sich nicht so sehr darüber wundern. Die großen Versuche sind gemacht und gelungen; es ist im Grunde gesagt was man zu sagen hatte, und der wahre Geist verschmäht es, auf befahrenen, bequemen Wegen einherzuschreiten. Doch wurde das Werk des deutschen Genius noch bei weitem nicht vollendet; seine Aufgabe war, die positive Wissenschaft zu durchdringen. Mancherlei Hindernisse haben sich ihm dabei entgegengestellt, die aus dem Gange seiner eignen Bildung oder auch andern Einwirkungen entsprangen. Wir dürfen nun hoffen, Geschrieben im Jahre 1832. daß er sie alle überwinden, zu einem vollkommneren Verständnis in sich selbst gelangen und alsdann zu unablässig neuer Hervorbringung fähig sein werde.
Jedoch ich halte inne, denn von der Politik wollte ich reden. Obschon diese Dinge auf das genauste zusammengehören und die wahre Politik nur von einem großen nationalen Dasein getragen werden kann. Soviel ist wohl gewiß, daß zu dem Selbstgefühl, von welchem dieser Schwung der Geister begleitet war, keine andre Erscheinung soviel beigetragen hat wie das Leben und der Ruhm Friedrichs II. Es gehört dazu, daß eine Nation sich selbständig fühle, wenn sie sich frei entwickeln soll, und nie hat eine Literatur geblüht, ohne durch die großen Momente der Geschichte vorbereitet gewesen zu sein. Aber seltsam war es, daß Friedrich selbst davon nichts wußte, kaum etwas ahnte. Er arbeitete an der Befreiung der Nation, die deutsche Literatur mit ihm, doch kannte er seine Verbündeten nicht. Sie kannten ihn wohl. Es machte die Deutschen stolz und kühn, daß ein Held aus ihnen hervorgegangen war.
46. Friedrichs des Großen Ausgang, Rückblick auf seine Staatsverwaltung
Die deutschen Mächte und der Fürstenbund, Werke Bd. 31 u. 32 S. 189-198.
Im Sommer 1786 hatte Friedrich, wie gewöhnlich, einige Freunde bei sich, die er nicht mehr bei Tafel um sich sah, wie er sonst sehr liebte. Er versammelte sie aber zu andern Stunden des Tages, wo denn alle Dinge der Welt besprochen wurden, die politischen Ereignisse, die Erscheinungen der Literatur, Landwirtschaft und Gartenkunst. Seiner Krankheit, obgleich sein Chirurgus ihn täglich besuchte, geschah jedoch nie Erwähnung, denn nur an andre Dinge wollte er denken, nicht an sein hinfälliges Selbst. Eine weitere Beschäftigung gewährte ihm die fortgesetzte Lektüre ausgezeichneter Werke, vornehmlich aus der alten Literatur und Geschichte, nach seiner Wahl, denn er kannte sie alle, in französischen Übersetzungen, die ihm vorgelesen wurden.
Aber das Wichtigste blieb die Vollziehung seines königlichen Amts, dem er, durch Krankheit und Schmerzen nicht unterbrochen, mit voller geistiger Kraft oblag. Er las nach wie vor die eingehenden Berichte seiner Gesandten, die militärischen Rapporte, die Eingaben der Zivilbehörden, Privatschreiben und Bittschriften; alle Morgen bereits halb fünf Uhr erschienen die drei Kabinettssekretäre, um die Antworten des Königs auf die eingegangnen Eingaben, jeder in seinem Fache, aus seinem Munde niederzuschreiben. Gegen Abend mußten sie ausgefertigt sein und zur Unterschrift vorgelegt werden. Noch am 15. August waren die Kabinettssekretäre zur gewohnten Stunde erschienen. Friedrich hatte jene an seinen Legationsrat in Petersburg gerichtete Depesche409 diktiert, mit der vollen Energie seines Geistes. Am Abend zur gewohnten Zeit unterzeichnete er die Ausfertigungen, die ihm vorgelegt wurden; das wurde ihm schon nicht mehr leicht. Und gleich darauf verfiel er in einen Zustand, der zwischen Wachen und Schlafen schwankte, und der ihn den Tag darauf nicht wieder verließ. Am 16. gegen Mittag will man bemerkt haben, daß Friedrich, halb erwacht, seine Kräfte noch einmal zu der gewohnten Arbeit aufzuraffen versuchte. Aber schon war die Krankheit stärker als sein Wille und seine Gewohnheit. Am 17. August, bald nach zwei Uhr morgens, auf seinem Lehnstuhl sitzend, in den Armen eines Kammerdieners, der ihn emporhielt, um ihm das Atmen zu erleichtern, hat Friedrich seinen letzten Atemzug getan; sein Schlummer verwandelte sich in den Schlaf des Todes. Der Minister Hertzberg, der eben in Sanssouci wohnte und noch im letzten Moment herbeigerufen wurde, verließ die Zimmer nicht, ehe der Nachfolger eingetreten war, der am Fuß des Ruhebettes, auf das man den entseelten Körper gelegt hatte, denselben einige Minuten mit wehmütigster Teilnahme betrachtete und sich dann mit dem Minister entfernte, nachdem sie die Zimmer hatten versiegeln lassen. Ein großes Leben, einzig in der Geschichte, war geendet.
Das Regentenleben Friedrichs II. wird durch drei Handlungen erfüllt, die Eroberung von Schlesien, die Erwerbung von Westpreußen, die Aufrechthaltung des deutschen Reichssystems.410 Dadurch hat er seinen Staat zu einer selbständigen Potenz unter den Mächten Europas erhoben und die autonome Stellung errungen, welche die Summe des preußischen Ehrgeizes ausmacht. Alle Welt bewunderte das Resultat; das Staatswesen jedoch, wie es nun während seines Lebens zustande gekommen und wie man es vor sich sah, besaß bereits nicht mehr die Sympathie der Zeitgenossen.
Friedrich hielt sich für den ersten Beamten des Volkes, an dessen Spitze er durch den Zufall der Geburt gestellt sei, verpflichtet alle seine Tätigkeit dem allgemeinen Wohl zu widmen, und deshalb allerdings für verantwortlich, jedoch nicht gerade gegen lebende Persönlichkeiten. Das Gefühl der Pflicht verschmolz in ihm mit der freien Aktion der unbeschränkten Monarchie. Da er das allgemeine Wohl in der Unabhängigkeit des Staates erblickte, welcher weniger auf alte Berechtigung und Würde als auf effektive Macht gegründet war, so hielt er sich für schuldig und befugt alle Kräfte zu diesem Zweck anzustrengen. Von den Einkünften des Landes, die zuletzt etwa 20 Millionen Taler (jährlich) betrugen,