Die wichtigsten Werke von Richard Voß. Richard Voß

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Название Die wichtigsten Werke von Richard Voß
Автор произведения Richard Voß
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9788027223008



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Mensch.

      Wenn sie gar traurig war – und sie war es recht oft – nahm dieser abgefeimte Bursche seine Zuflucht zu einer List, zu einer ganz gemeinen List! Er stellte sich nämlich krank und tat so jammervoll, daß sie in ihrer Sorge um ihn sogar aufhörte, sich um Wladimir zu ängstigen und ihn pflegte und hätschelte, als ob der große, alte, garstige Colja ein allerliebstes kleines Coljachen wäre. Als sie immer stiller und bleicher ward, half es ihr nichts, sie mußte mit Colja weite Wanderungen antreten, bis hinaus auf die Felder, wo sie alsdann über jeden Baum, über jede Blume eine kindische Freude empfand, sich in Heimatserinnerungen verlor, von Eskowo zu plaudern begann und wie schön es sein könnte, wenn – – Doch da standen ihr schon wieder die Tränen in den Augen und Colja fing an zu singen, so greulich falsch, daß sie es nicht mit anhören konnte und selber sang, nur damit er aufhören sollte. Er wurde auch sogleich ganz still, warf sich auf den Boden und hörte zu. Sie sang dann gewöhnlich alle ihre Lieder, mit einer Stimme, daß Colja die Lerchen nicht begreifen konnte, die ganz frech in den Lüften weiter sangen und sich nicht schämten, neben Tanias Stimme ihr Jubilieren ertönen zu lassen. Es waren doch recht herzlose Vögel!

      Zwölftes Kapitel

       Inhaltsverzeichnis

      Es begann in Moskau heiß zu werden, die meisten der vornehmen Familien befanden sich bereits auf ihren Gütern und Landsitzen. Die prächtige Stadt verödete, das Leben zog sich in die Vorstädte und in die ärmeren Quartiere zurück; in der grellen Sommersonne, unter dem glühenden Himmel, den während des Tages meist eine gelbliche Dunstwolke umqualmte, glich Moskau mit seinen bunten strahlenden Kuppeln mehr noch als sonst einer orientalischen Stadt. Auch Anna Pawlowna hatte mit einem großen Teil ihrer Dienerschaft ihr Landhaus in Kunzewo bezogen. Gern wäre Wera zurückgeblieben, aber Wladimir hatte ihr befohlen, der Prinzessin zu folgen und dieselbe auf Schritt und Tritt zu bewachen; denn nach wie vor hegte er gegen die Wahrhaftigkeit ihrer Gesinnungen starken Verdacht. Sascha war nicht mitgenommen worden, bewohnte sein altes Quartier bei Marja Carlowna, befand sich jedoch häufig in Kunzewo. Ein beständiger Gast in dem Landhause war Boris Alexeiwitsch, der elend aussah, sich von seinem Kammerdiener nicht mehr frisieren ließ und auf sein Taschentuch aus feinstem Batist kein Parfüm mehr goß.

      Seltsamerweise machte die Fürstin Danilowski keinerlei Anstalten, Moskau zu verlassen, was sonst um diese Zeit stets geschehen war. Sie lebte bei geschlossenen Läden in einer fortwährenden Dämmerung, trug weiße, dünne Gewänder, ließ ihr Haar frei herabhängen und ernährte sich von Limonade, Schlagsahne und Konfekt. Da ihre sämtlichen Bekannten Moskau verlassen hatten, so gab sie sich ganz dem Studium von Alexander Herzen und Michael Bakunin hin, las Moleschott und Schopenhauer, deklamierte Leopardi und schickte alle Tage nach Wladimir Wassilitsch, der sich auch zuweilen bei ihr einfand, kurze Zeit blieb und stets eine große Summe mit sich fortnahm, die für nihilistische Zwecke sofort nach allen Himmelsrichtungen versandt wurde.

      Auf allen Gemütern schien die Schwüle des heißen Sommers zu lasten; die lange Reihe schöner Tage wirkte allmählich ermattend auf die Geister. Anna Pawlowna schloß sich fast ganz von den andern ab; sie war ernstlich leidend, dabei herrlicher als je. Etwas Eigentümliches, nicht zu Erklärendes hatte sich über ihre majestätische Schönheit gelegt. Ihre Bewegungen waren matt, ihr Blick hatte etwas Seelenloses. Sie zeigte sich erst bei Tafel, die am späten Nachmittag in der Gartenhalle und stets mit einem gewissen Zeremoniell abgehalten wurde. Am Büfett präsidierte der französische Haushofmeister, hinter Anna Pawlownas Lehnsessel stand ein Kammerdiener, zwei Lakaien servierten. Auch wenn keine Gäste anwesend waren, erschien die Prinzessin in Dinertoilette und Boris Alexeiwitsch in weißer Krawatte. Wera, in einem schwarzseidenen Kleide, das die Prinzessin für sie von ihrem Pariser Schneider hatte anfertigen lassen, aber mit ihrer alten ländlichen Haartracht, von welcher Boris Alexeiwitsch entzückt war, speiste regelmäßig mit. Sie sah in dem modernen Anzug ungemein stattlich aus – »fast vornehm«, wie Boris Alexeiwitsch es nannte.

      Aber sie bewegt sich schlecht, kritisierte er im stillen. Schade, daß sie so gar nicht eitel ist, daß es so ganz unmöglich ist, ihr einen Begriff von ihrer Schönheit beizubringen. So etwas ist mir noch nicht vorgekommen! Sie sieht sich doch im Spiegel, sie ist doch schließlich auch ein Weib. Mit diesem Kopf würde jede andere Wunder vollbringen – nun, ein Wunder hat sie an mir vollbracht. Ein creme-weißes Mousselinkleid müßte ihr prachtvoll stehen. Ich muß mich doch hinter meine Cousine stecken; aber mit der ist jetzt nichts anzufangen.

      Wera sprach bei Tische nur dann, wenn sie angeredet wurde. Sie litt wahre Qualen, schämte sich ihres seidenen Kleides und trug es lediglich, weil es Anna Pawlownas Wunsch war, und weil Wladimir ihr befohlen hatte, sich den Wünschen der Prinzessin schweigend zu fügen. Die mit Silber überladene Tafel, das kostbare Service, die vielen Speisen und teuren Weine flößten ihr Abscheu ein. Sie genoß so wenig als möglich und bei jedem Bissen war ihr, als beginge sie einen Diebstahl an dem Volke.

      Bei diesen Mahlzeiten bemühte sich Anna Pawlowna nicht im geringsten, ihre Stimmung zu verbergen. Ihr Gesicht sagte immer von neuem deutlich: Ich bin dieses Lebens überdrüssig.

      So führte denn Boris Alexeiwitsch die Unterhaltung allein. Er tat es mit vielem Geschick und Takt, mit so vieler Anmut, daß es ihm gelang, alle über die peinliche Situation, die Anna Pawlowna durch ihr seltsames Wesen verursachte, hinwegzubringen; zum erstenmal in ihrem Leben zollte die Prinzessin ihm Anerkennung. Eine merkwürdige Wandlung vollzog sich in Wera. Seit dem Augenblick wo Boris ihr zugeflüstert hatte, daß er glücklich sei, mit ihr sterben zu dürfen, war ihr Leben ein beständiger qualvoller Kampf gegen Gewalten, welche mehr und mehr Macht über sie gewannen. Es war ein Meisterstreich des großen Virtuosen in der Kunst der Verführung gewesen, ihr zu sagen, daß er mit ihr sterben wollte, da er nicht mit ihr vereint leben konnte. Es war der einzige Gedanke, dessen sie sich in jeder Minute klar bewußt war. Er hatte mit ihr sterben wollen! Alles andere ging unter in diesem einen; eine ganze Welt, die sie in sich aufgebaut, ging darüber zugrunde, wurde dadurch in Trümmer geschlagen. Er wollte mit ihr sterben! Es lähmte, es brach ihre Kraft, es zermalmte ihre Seele, es zerstörte fast ihre Sinne. Er wollte mit ihr sterben. Er mußte ein reiner Mensch sein.

      Dieser Glaube an ihn wurde immer stärker. Sie richtete sich daran auf, sie beruhigte damit alle Gewissensqualen, alle Angst und alle Zweifel.Er ist ein reiner Mensch!

      Ich bin doch im Grunde ein guter Kerl! glaubte schließlich auch Boris Alexeiwitsch von sich selbst, gewann mehr und mehr eine hohe Meinung von seinen sittlichen Eigenschaften und bildete sich allen Ernstes ein, daß er bisher vollständig im unklaren über sich geblieben war. Nun hatte seine Leidenschaft zu Wera, hatte seine Liebe ihn zu dem entwickelt, was er eigentlich immer gewesen.

      Nach dem Diner fuhr die kleine Gesellschaft gewöhnlich eine Stunde spazieren; darauf trennte man sich, um spät abends noch einmal zusammenzukommen, wo dann auf der Terrasse der Tee eingenommen wurde, den Wera bereiten durfte. Wenn er nicht vorlas, setzte Boris sich ans Klavier und begann zu spielen, zu phantasieren.

      Boris spielte vortrefflich. Er war ein Verehrer Chopins, dessen virtuose Kunst und leidenschaftliche Natur mit seinem eigenen Wesen verwandt war. Aber Wera verstand den genialen Komponisten nicht. Ihr ward bei Chopin unsäglich beklommen zumute, gerade wie in ihrem eleganten Seidenkleide. Sobald Boris das merkte – und ihm entging nichts, was sie betraf – schlug er auf dem Klavier eine ganz andere Sprache an, eine Sprache, von der er wußte, daß Wera sie verstand: volkstümliche Melodien, Lieder und Gesänge. Alle waren wehmütig und sehnsuchtsvoll, in allen liebte das russische Mädchen und der russische Jüngling, liebten und litten. Es war immer dasselbe Thema, das er hundertfach variierte; überzeugt, damit zu Weras Herzen zu sprechen.

      Ebenso umsichtig, wie bei seinem Klavierspiel, benahm er sich bei der Wahl seiner Lektüre. Onegin war längst gelesen und hatte auf Wera einen überwältigenden Eindruck gemacht. Da Boris Verse, bei denen er sein weiches volles Organ in allen Klangfarben spielen lassen konnte, vortrefflich las, so hätte er am liebsten nur Gedichte vorgetragen: Puschkin und Lermontoff. Aber er bemerkte, daß Wera den Gedichten nicht dieselbe Aufmerksamkeit schenkte, wie den Erzählungen. Sie wollte ein Begebnis hören,