Die wichtigsten Werke von Richard Voß. Richard Voß

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Название Die wichtigsten Werke von Richard Voß
Автор произведения Richard Voß
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9788027223008



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wußte, was in diesem Augenblick in ihm vorging; aber sie durfte ihn nicht schonen, nicht ihn und nicht sich selbst.

      »Ich meine,« sagte sie langsam und beinahe laut, »daß wir beide in Gefahr stehen, hier schlecht zu werden, hier an Leib und an Seele zu verderben; du durch Anna Pawlowna, ich durch Boris Alexeiwitsch.«

      Sascha hörte nur den Namen seiner Geliebten. Er durch sie schlecht werden, er durch sie an Leib und Seele verderben! Und Wera war es, die ihm das sagte, Wera Iwanowna aus Eskowo! Er fühlte sich plötzlich von seiner Jugendfreundin durch einen Abgrund geschieden.

      »Du weißt nicht, was du sprichst,« erwiderte er kalt.

      Wera rief: »Ich weiß, daß wir fremd in dieser Welt sind und bleiben werden. Ich weiß, daß wir mit jenen nichts gemein haben und auch nichts gemein haben können. Ich weiß, daß wenn Anna Pawlowna dich jetzt an ihr Herz nimmt, sie dich über kurz oder lang mit Füßen treten wird. Ich weiß, daß es dir das Herz brechen wird, aber erst, nachdem du zu hassen gelernt, was du jetzt liebst, nachdem du verabscheust, was du jetzt verehrst, erst wenn jedes Gefühl in dir verwandelt und entstellt worden ist.«

      Sascha wollte ihr antworten; er wollte ihr sagen, daß er ihr nicht glaubte, daß Anna Pawlowna seine Göttin bleiben werde, daß er ein glückseliger Mensch sei. Aber jemand kam von der Straße her auf den Hof, gewahrte sie und ging auf sie zu. Es war Wladimir Wassilitsch. Er fuhr sie an, was sie draußen zu suchen und miteinander zu tuscheln hätten, und gebot ihnen, mit ihm ins Haus zu gehen. Große Dinge seien geschehen, über dem Haupt des russischen Volkes loderten die Flammen des neuen Tages, blutrot werde die Sonne aufgehen.

      Neuntes Kapitel

       Inhaltsverzeichnis

      Wladimir Wassilitsch stürzte in das Zimmer, in welchem sich Anna Pawlowna und ihr Vetter mit der Fürstin und Natalia Arkadiewna befanden. Er rief: »Sie sind uns auf der Spur!«

      Die Fürstin stieß einen Schrei aus und wäre für ihr Leben gern dem schönen Nihilisten bewußtlos in die Arme gesunken; Anna Pawlowna und Boris blieben vollkommen gelassen. Auch auf Wera und Sascha, die Wladimir auf dem Fuße folgten, machte die Nachricht keinen besonders starken Eindruck. Tania stand am Tische, wandte kein Auge von ihrem Geliebten und sah wie eine schöne Tote aus.

      »Wer ist uns auf der Spur?«

      Es war Anna Pawlowna, die sprach. Sie dachte: Mir ist es gleich! Meinetwegen mögen sie uns entdecken? Was ist mir daran gelegen? Aber die Sache begann sie doch aufzuregen; wider ihren Willen nahm sie Anteil daran, so daß sie selbst darüber erstaunte. War es immer noch das »Neue«, was sie reizte? Oder weil jetzt das Spiel auf Tod und Leben ging?

      »So erzählen Sie doch!« rief Natalia, deren Augen im Feuer glühten, obgleich sie als die Ruhigste von allen erschien.

      Und Wladimir erzählte.

      Von allen Seiten waren Nachrichten eingetroffen, welche die Situation unaufhaltsam ihrem Höhepunkt zutrieben und eine Katastrophe herbeiführen mußten. Attentate waren mißglückt, Minen und Geheimdruckereien entdeckt. Es hatten aller Orten Verhaftungen stattgefunden und geradezu Furchtbares vernahm man aus Sibirien. Überall bezahlte die Regierung ihre Spione. Das Exekutivkomitee erklärte sich zu jeder Gewalttat bereit, proklamierte den politischen Mord als ein sittliches Mittel gegen die Übergriffe der Staatsgewalt, forderte alle Parteien auf, ihr Äußerstes zu tun, fällte und vollstreckte Todesurteile. Es war in Wahrheit zu einem Kampf gekommen auf Leben und Tod.

      Wladimirs glühende Schilderung der Sachlage riß schließlich alle hin. Natalia Arkadiewna und Anna Pawlowna waren die am meisten Aufgeregten; aber selbst Boris Alexeiwitsch gab seine kühle Haltung auf und überließ sich für einen Augenblick gänzlich der wilden Romantik der Situation, indem er sich für einen Augenblick wirklich einbildete, daß es der Mühe wert sei, sein Leben an diese Dinge zu setzen. Es war immerhin ein würdigerer Abschluß eines untätig verbrachten Daseins, als bei Onegin, der um eines Weibes willen endete.

      Sehr eigentümlich war der Vorgang, der sich in der Fürstin vollzog. Nachdem sie eingesehen, daß weder Boris noch Wladimir sich im mindesten um ihre Angst kümmerten, beschloß sie, beider Aufmerksamkeit durch ihren Herorismus auf sich zu ziehen. Sie erholte sich demzufolge sogleich von ihrem Entsetzen und fand bald aufrichtiges Vergnügen an der Sache, ähnlich, wie sie es bei einem spannenden Roman, einer hohen Wette, einer Fuchsjagd oder einem gesellschaftlichen Skandal empfand. Sie dachte mit Entzücken an den Effekt, den sie in Baden oder Cannes durch ihre Erzählungen hervorbringen würde und stellte sich bereits vor, wie man sie auf der Promenade den Fremden zeigte: Voilà la princesse Danilowski. Vous savez, cette dame russe – und so weiter. Der Reiz des Neuen war so groß, daß sie darüber sogar ihre unglückliche Leidenschaft für den schönen Flüchtling und ihre wütende Eifersucht gegen Wera vergaß.

      Man befand sich in lebhafter Debatte, als plötzlich Colja hereintaumelte und meldete, Polizisten umzingelten das Haus. Wladimir stürzte zur Tür und verriegelte sie. »Das verdanken wir Ihrem Vater!« raunte er Natalia Arkadiewna zu. »Er hat uns ausgespürt. Ich führe Dokumente des Exekutivkomitees bei mir, die unseren ganzen Anschlag verraten würden, falls sie gefunden werden.«

      »Vernichten Sie sie doch! Verbrennen Sie sie doch!« schrie die Fürstin.

      »Das darf ich nicht.«

      Ein Tumult entstand.

      »Geben Sie mir die Papiere,« sagte Natalia Arkadiewna, welche vollkommen gelassen blieb. »Bei mir wird mein Vater sie nicht suchen.«

      »Darin könnten Sie sich täuschen.«

      »Können wir uns nicht verteidigen?« fragte Wera. »In der Kammer sind Revolver.«

      »Ja, geben Sie uns allen Waffen,« rief Anna Pawlowna. »Wir werden uns ihnen nicht lebend überliefern.«

      Sie sah Sascha an und trat an seine Seite. Die Waffen wurden gebracht, Boris Alexeiwitsch untersuchte und verteilte sie. Als er Wera das Pistol gab, senkte sich sein Blick tief in ihre Augen und er flüsterte ihr zu: »Ich kann nicht mit dir leben, aber ich will mit dir sterben.«

      Wera empfing die Waffe aus seiner Hand. »Sterben,« hallte es in ihr nach.

      Diesmal dachte sie nicht an Grischa.

      Da wurden Schritte auf dem Hofe vernehmbar.

      »Hört mich!« rief Natalia Arkadiewna mit einer Stimme, daß alle auf sie sahen. »Wir werden uns nicht überwältigen lassen; denn ehe dieses geschieht, feure ich meinen Revolver auf die Flasche Nitroglyzerin ab, die lediglich zu diesem Zweck in dem Schranke dort aufgehoben wird. Wera, nimm sie heraus und stelle sie auf den Tisch. Wir alle sind bereit zu sterben; aber wir würden sterben, ohne genützt zu haben. Laßt mich deshalb einen Versuch machen, uns zu retten. Begebt euch alle in die Kammer und verhaltet euch ruhig, was auch hier geschehen möge. Ich will meinen Vater empfangen und mit ihm reden. Gelingt mein Vorhaben nicht, so ist für das andere immer noch Zeit. Überlegt nicht lange! Geht, geht!«

      »Ich sehe nicht ein, was das helfen soll,« meinte Wladimir mürrisch. »Aber da es nichts schaden kann, mag es sein. Kommt also.«

      Alle, außer Colja, begaben sich in die Kammer, die Natalia hinter ihnen abschloß; den Schlüssel verbarg sie auf ihrer Brust.

      »Gehe in den Hof,« gebot das mutige Mädchen Tanias Getreuem, »und lasse dich ruhig festnehmen. Ich weiß, daß du deine Herrin und ihre Freunde nicht verraten wirst.«

      Colja brummte etwas, schielte nach der Tür, durch die er Tania halb bewußtlos hatte hinausschwanken sehen und trollte sich fort; die Zurückbleibende hörte, wie er auf dem Hofe angehalten wurde. Gleich darauf drangen sie ins Haus. Natalia nahm die Lampe, öffnete die Tür und leuchtete auf den Flur.

      »Wer ist da?«

      Sie stand ihrem Vater gegenüber. Gang und Hof waren von Polizisten besetzt.

      Einen Augenblick verlor der Geheime Staatsrat Arkad Danilitsch Niklakow