Название | Die wichtigsten Werke von Richard Voß |
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Автор произведения | Richard Voß |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9788027223008 |
Aber waren es wirklich dieselben Blicke?
Sie wollte ihm nicht unrecht tun; und so saß sie denn, ihn beobachtend und kein Auge von ihm wendend. Zu gleicher Zeit kam sie sich so unwürdig, so tief gesunken vor, in ihrem Stolze so ganz gebrochen und um nichts besser als Sascha, den sie doch verachtete.
Boris wußte genau, wie es um sie stand und erleichterte ihr nichts. Seine Leidenschaft für sie nahm mit jedem Tage zu; aber je heftiger sie wurde, um so kaltblütiger ging er vor. Während sie scheinbar gar nicht mehr für ihn existierte, berechnete er bereits im stillen, wie lange ihr Widerstand noch dauern könnte, wann sie sich ihm würde ergeben müssen.
Mit Entzücken bemerkte er, wie alle Versuche seiner Freunde, Weras Gunst zu gewinnen, abgewiesen wurden, mit einer Haltung und Miene, die einer Königin würdig war. Und plötzlich nahm ihr ganzes Wesen etwas Vornehmes an. Sie hörte auf, sich in ihrem Kleide zu bewegen, als ob sie noch immer das russische Kostüm trüge und sich der neuen Tracht wie einer Maske schämte. Sie benahm sich mit natürlichem Anstand und einer Würde, die etwas Imponierendes hatte. Im Ausland hätte er sie in jedem Salon einführen können.
Vierzehntes Kapitel
Das Leben in Kunzewo gestaltete sich immer geräuschvoller. Es kamen Regentage, die im Hause zugebracht, für die Zerstreuungen gefunden werden mußten. Anna Pawlownas Benehmen bekam etwas unnatürlich Aufgeregtes. Sie trank viel Champagner, sprach laut und lebhaft und beteiligte sich am Spieltisch, den die Herren eingerichtet hatten; mit einem Wort, sie versuchte, sich zu betäuben. Zwischen ihr und Sascha fielen von neuem peinliche Auftritte vor, die jetzt auch von ihrer Seite einen leidenschaftlichen Charakter annahmen. Sehr bald war der alte Zustand wieder da. Doch schien derselbe diesmal ziemlich hoffnungslos zu sein, denn Sascha fühlte sich tödlich beleidigt. Er verließ jedoch das Landhaus nicht, behielt seinen letzten Platz am Ende der Tafel bei, ließ sich nach wie vor übersehen, war aber in seinem Innern vollständig verwandelt. Wie ganz anders erschien er sich jetzt unter ihren Gästen. In den Blicken aller meinte er zu lesen, daß sie ihn verachteten. Dennoch blieb er. Erst mußte sie es ihm gesagt haben, mit klaren, deutlichen Worten. Aber auch dann würde er nicht gehen, denn jetzt war es zu spät. Er würde nicht mehr von ihr weichen; in diesem Leben nicht mehr. Er würde ihr Schatten sein, ihr Ankläger, ihr Richter. Mehr und mehr bemächtigte sich seiner ein dumpfer Zorn. Zum erstenmal begann er über die Lehrsätze Wladimirs nachzudenken und fand sie unumstößlich. Äußerlich blieb er ruhig, so daß er selbst Anna Pawlowna täuschte, die in der Folge ein Gefühl von Geringschätzung nicht unterdrücken konnte; sie hatte etwas anderes erwartet. Boris hatte recht; sie knurrten gegen die erhobene Peitsche und krochen doch vor ihr. Die Idealgestalt des Volkes, die sie sich zusammen geträumt, erblich mehr und mehr. Es war ein furchtbarer Irrtum gewesen, dem sie verfallen. Sie hatte ihrem öden Dasein einen Inhalt geben wollen und sich das Ideal des freien russischen Volkes geschaffen, des Volkes, das sich ihr in Sascha, in dem Bauernsohn, in dem Manne mit den roten Händen, verkörperte. Aber es gelang ihr nicht. Je mehr sie sich zum Volke hinabneigte, desto mehr fühlte sie sich von demselben geschieden. Mit Entsetzen entdeckte sie, daß es unmöglich war, daß sie bleiben mußte, was sie war: in jeder Empfindung die Aristokratin, die in keiner Empfindung das Volk verstand, nicht verstehen konnte! Was vermochte sie dagegen? Zu ihrem Unglück war ihr Verstand viel zu scharf, um sich nach diesem einen mißlungenen Versuche weiteren Täuschungen zu überlassen. So gab sie denn ihren veränderten Gesinnungen nach, vollkommen darauf gefaßt, unter den Trümmern ihres eingesunkenen Luftschlosses begraben zu werden.
Aber eins mußte sie tun. Und während sie zum erstenmal in ihrem Leben sich mit einer Art von Genugtuung den geselligen Zerstreuungen ihres Standes hingab, schrieb sie ihrem Gatten, der sich mit dem Hof in Zarskoje-Sselo aufhielt, daß sie die Scheidung verlange.
Auch die Fürstin kam, in Begleitung von Wladimir. Ihrer Gewohnheit gemäß machte sie aus ihrer Leidenschaft für den schönen Terroristen keinen Hehl, Sie gebürdete sich empfindsam, phantastisch und jugendlich, kleidete sich altrussisch, ließ ihr Haar in Zöpfen herabhängen, sang Volkslieder und wand aus Feldblumen Kränze. Wladimir hatte für alles nur sein zynisches Lächeln und benahm sich in der vornehmen Gesellschaft so ungezwungen, als verkehre er mit seinesgleichen. Sofort nach seiner Ankunft hatte er eine lange Unterredung mit Wera, die ihm alle ihre Wahrnehmungen mitteilen mußte. Doch fragte er nur nach Anna Pawlowna; nach dem, was Wera ihm von dieser berichtete, war er über ihren Zustand bald im klaren.
Ein Festprogramm ward aufgestellt, dessen Hauptnummern in einem ländlichen Ball, einer Vorstellung mit lebenden Bildern bestanden. Alle amüsierten sich vortrefflich, die Stimmung stieg von Tag zu Tag; nur Sascha und Wera waren einsam. Jedes für sich, wie ausgeschlossen von den allgemeinen Freuden.
Eines Abends befand sich Wera in ihrem Zimmer, das unter dem Dache lag. In Anna Pawlownas Bibliothek hatte sie den »Onegin« gefunden, das Buch heimlich eingesteckt und war damit geflohen, als hätte sie einen Diebstahl begangen. Sie las das herrliche Gedicht. Dabei stellte sie sich den Klang von Boris' Stimme vor, die Verse mit seiner Betonung, die sie noch im Ohre hatte, laut vor sich hinsprechend, von ihrer eigenen Stimme durchschauert. Sie erinnerte sich, was er bei dieser und jener Stelle zu ihr gesagt, wie er sie dabei angesehen hatte. Jedes Wort, jeder Blick war ihr im Gedächtnis haften geblieben. Immer von neuem verglich sie diese Blicke mit denen, welche er für jene anderen hatte, und sie mußte sich schließlich gestehen, daß er sich gegen sie doch anders benommen hatte, viel rücksichtsvoller, zarter, ehrerbietiger! Er hatte ja auch mit ihr sterben wollen, und nun – – nun lebte sie dahin, von einem Tage zum anderen, immer tiefer in Nacht versinkend.
Puschkins Onegin von neuem lesend, erstand alles wieder in ihr, was sie an Sehnsucht jemals empfunden. Aber wie anders war diese Sehnsucht geworden. Wo war der heiße Drang geblieben, der dem Glück des Volkes galt, für das sie sich wollte ins Gefängnis werfen, nach Sibirien verbannen, auf das Schafott führen lassen? Schlecht hatte sie sich selbst Wort gehalten, eidbrüchig war sie der Sache geworden. Auch ihre starke Natur war dem allgemein Menschlichen erlegen. Ein Martyrium hatte sie auf sich nehmen wollen und zu einem Liebeskummer war es gekommen.
Sie las mit glühenden Wangen. Tatjana hieß eigentlich Wera und Onegin eigentlich Boris. Und Tatjana liebte Onegin; aber dieser – –
Onegin hatte auch die arme Tatjana geliebt.
Jawohl; die arme Tatjana!
Sie erhob sich. Mit auf die Brust herabgesunkenem Haupt wanderte sie in der Kammer auf und ab. Einmal fuhr sie zusammen, blieb stehen und lauschte auf die fröhlichen Stimmen, die von unten herauf klangen. Es mochte bald Mitternacht sein.
Dann fiel ihr etwas ein. Sie nahm das Licht und kramte aus ihren Sachen ein kleines, buntes Muttergottesbild hervor, das in ihrer heimatlichen Hütte zu Eskowo gehangen, das sie mit sich genommen und daran sie erst heute wieder dachte.
Sie stellte das Bild auf den Tisch, holte ein Glas mit Blumen, setzte dieses daneben, stand und blickte das Bild an.
Aber sie konnte nicht beten. So begann sie denn nach einer Weile von neuem im Onegin zu lesen; der Charakteristik dieses russischen Don Juan.
Die Leidenschaft verließ ihn plötzlich;
Statt ihrer liebelte er nun.
Ein Korb war ihm oft ganz ergötzlich,
Verrat ein Grund, um auszuruhn,
Er sucht die Frauen ohne Schwärmen,
Verläßt sie, ohne sich zu härmen,
Gleichgültig, ob geliebt, gehaßt – –
Ist das möglich? Sie starrte auf das Buch, ohne die Buchstaben zu sehen.
Es