Die wichtigsten Werke von Richard Voß. Richard Voß

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Название Die wichtigsten Werke von Richard Voß
Автор произведения Richard Voß
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9788027223008



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entstellt und mit einem Ausdruck in ihren eingesunkenen glühenden Augen, wie ihn der Staatsrat nur bei Mörderinnen gesehen hatte.

      »Lassen Sie Ihre Leute warten, Arkad Danilitsch Niklakow,« sagte Natalia laut und ruhig. »Und kommen Sie mit mir herein. Ich habe mit Ihnen zu reden.«

      Der Staatsrat wandte sich um.

      »Bleibt, bis ich euch rufe. Die Posten um das Haus sind zu verdoppeln.«

      »Nehmen Exzellenz einige Mann mit hinein,« bat der Sergeant. »Ich kenne das Frauenzimmer; es ist ein gefährliches Geschöpf, zu allem entschlossen.«

      »Tun Sie, wie ich Ihnen befahl.« Er wandte sich zu Natalia. »Gehen wir ins Zimmer. Was haben Sie mir zu sagen?«

      Die Tür schloß sich hinter ihnen.

      »Was haben Sie mir zu sagen?« fragte der Staatsrat noch einmal.

      Er war ein stattlicher Herr, mit einem schönen, strengen Gesicht und von bedeutendem Wesen. Er galt für unbestechlich, eine Eigenschaft, die ihn in Petersburg berühmt gemacht hatte. Die Nihilisten haßten ihn als einen ihrer gefährlichsten Feinde. Er wußte, daß er von den Terroristen zum Tode verurteilt worden, ließ sich jedoch durch nichts abschrecken, seine Pflicht zu tun und sie zu verfolgen. Seine Tochter hatte er leidenschaftlich geliebt und ihr Abfall hatte ihm namenlosen Jammer bereitet.

      Ungerührt blickte Natalia auf ihres Vaters gebleichtes Haar – erblichen durch ihre Schuld! Sie sagte: »Sie sind alle nebenan in der Kammer; aber Sie werden Ihre Gewalt nicht gebrauchen, sondern Ihren Leuten sagen, daß Sie nichts gefunden haben. Das werden Sie!«

      »Und wenn ich es nicht tue?«

      »So schieße ich Sie nieder. In dem Augenblick, wo Sie den Mund öffnen, um nach Ihren Leuten zu rufen, sterben Sie.«

      Sie nahm den Revolver, der neben der Flasche Nitroglyzerin auf dem Tische lag, und richtete den Lauf des Pistols aus ihren Vater.

      »Du wolltest mich töten?« rief der Staatsrat entsetzt.

      »Sie können mir ja zuvorkommen; Sie werden doch wohl auch eine Waffe bei sich führen. Gebrauchen Sie dieselbe gegen mich, wenn Sie am Leben bleiben und meine Freunde gefangennehmen wollen.«

      Der Staatsrat war sehr bleich geworden. Er zog aus seiner Rocktasche einen Revolver hervor und warf ihn zu Boden.

      »So töte denn deinen Vater, elendes Geschöpf!« rief er aus. »Die Welt mag erfahren, bis zu welchen Gräßlichkeiten euer Wahnsinn führt. Alle Bande der Natur werden gelöst, alles Bestehende wird umgestoßen; Töchter morden ihre Väter! Der Schuß der Wera Saffulitsch gab den russischen Frauen das Signal zum Elternmorde.«

      In Natalias Augen flammte es auf.

      »Höre, Vater,« sagte sie, ohne das Pistol sinken zu lassen, »mit dir rechten kann und will ich nicht. Du hast deine Überzeugungen, ich habe die meinen. Es gilt hier aber nicht dein und mein Leben, sondern Höheres. In jener Kammer befinden sich Männer und Frauen, die zu allem entschlossen sind. Sie alle wollten gegen dich stehen; ich bewog sie aber, sich zu entfernen, denn ich kenne dich. Ich weiß, du willst nicht, daß ich dich töte; ich bin deine Tochter und du hast mich einmal geliebt. Du bist ein frommer Mensch, du glaubst an das Fortbestehen der Seele nach dem Tode, du willst nicht, daß die Seele deiner Tochter durch einen solchen Mord der ewigen Verdammnis überliefert werde, du hast Erbarmen mit ihr; ist sie doch schon auf Erden zu so vielen Qualen verdammt! Sieh mich an, mein Vater: Ich bin eine Sterbende.«

      Der Staatsrat war erschüttert. »Kehre um! Komme zur Besinnung! Lasse mich dich zu deiner Mutter bringen, die um dich verzweifelt.«

      »Nicht doch. Sobald du mit mir dieses Zimmer verlässest, würdest du mich richten, würdest du mich verurteilen müssen zu lebenslänglicher Zwangsarbeit in Sibirien. Dieses ›lebenslänglich‹ würde für mich allerdings nicht lange dauern.«

      Der Staatsrat unterdrückte ein Stöhnen.

      »Entscheide dich, die Zeit verstreicht.«

      »Ich kann nicht. Was du von mir verlangst, ist Übertretung meiner Pflicht.«

      »Entscheide dich.«

      »Wer sind deine Freunde?«

      »Von mir erfährst du nichts. Aber du kannst nachsehen.«

      »Angenommen, ich falle – von deiner Hand! Der Schuß würde meine Leute herbeirufen und du würdest deine Freunde doch nicht retten können.«

      »Ein zweiter Schuß trifft diese Flasche, deren Inhalt das Haus in die Luft sprengt. Du siehst, wir sind auf alle Fälle gerüstet. Entscheide dich also.«

      Dem Staatsrat stand der Angstschweiß auf der Stirn, er fühlte, wie sein Gesicht sich verzerrte. Aber er durfte nicht zurückweichen; seine Beamten-, seine Mannesehre stand auf dem Spiel. Jedoch seine Tochter, seine Tochter! Er kannte sie. Sie würde tun, womit sie ihm drohte, sie würde den Mord an ihm begehen, sie würde für alle Ewigkeit verdammt werden. Da kam ihm ein rettender Gedanke. Was er tun wollte – was er tun mußte, wenn er seinen Leuten Befehl gab, das Haus zu räumen, ohne der Verschwörer habhaft geworden zu sein, war etwas Furchtbares; aber durch dieses Furchtbare rettete er seine Ehre und bewahrte seine Tochter vor dem Vatermord. So entschied er sich denn.

      »Lebe wohl. Gott möge dir barmherzig sein.«

      »Du gehst?«

      »Lebe wohl.«

      Sie machte eine Bewegung, als wollte sie sich an seine Brust oder ihm zu Füßen stürzen. Aber sie bezwang sich und rührte sich nicht; nicht eher, als bis ihr Vater das Zimmer verlassen hatte. So, mit erhobener Waffe, traf sie sein letzter, verzweiflungsvoller Blick. Sie hörte seine Mitteilung an die Leute, daß er nichts gefunden, hörte seinen Befehl, das Haus zu räumen, hörte, wie alle sich entfernten, wie Colja vom Hofe ins Haus gepoltert kam. Da ermannte sie sich, legte den Revolver auf den Tisch, ging zur Kammertür, öffnete und rief: »Kommt herein, mein Vater ist fort. Laßt uns in Ruhe alles beraten.«

      Wladimir warf Natalia einen Blick zu; es war ein Blick, der die Nihilistin erbeben machte.

      Zehntes Kapitel

       Inhaltsverzeichnis

      Natalia Arkadiewna konnte sich nicht entschließen, zu Bette zu gehen; ihre Gedanken waren ohne Unterlaß bei ihrem Vater.

      Was wird er tun? dachte sie. Um mir einen Vatermord zu ersparen, hat er seine Pflicht verletzt. Das erträgt er nicht. Er ist nicht wie die anderen Beamten Rußlands. Ich liebe ihn, ich bewundere ihn! Trotzdem konnte ich mein Pistol auf ihn richten, trotzdem hätte ich losgedrückt; denn mehr als sein Leben gilt mir die Sache. Auch ich hatte eine Pflicht zu erfüllen.

      Aber je mehr sie ihre Handlungsweise vor sich selbst zu begründen suchte, um so angstvoller ward ihr zumute. Ihres Vaters letzter, verzweiflungsvoller Blick verfolgte sie unablässig. Endlich hielt sie es nicht länger aus. Sie warf einen Mantel über, verließ das Zimmer und weckte den Wortschick, der ihr das Haus öffnen mußte. Fast laufend eilte sie die Straßen dahin; nach der Roschdestwenka, wo das Hotel Andrewja lag. Mit jedem Schritte steigerte sich ihre Bangigkeit.

      Er wird etwas tun, tun muß er etwas. Aber was, was? Etwas Fürchterliches!

      Sie nahm sich vor, zu warten, bis es Tag geworden, bis ihr Vater heraustreten würde, und ihn dann anzuflehen. Aber um was anzuflehen? Daß er das Fürchterliche nicht tun sollte.

      Atemlos, zum Tod erschöpft erreichte sie das Hotel. In einem Zimmer des zweiten Stockes brannte noch Licht. Dort mußte ihr Vater sein. Auch er schlief sicher noch nicht. Wie konnte er schlafen, mit jenem entsetzlichen Bilde in seiner Seele; seine Tochter stand vor ihm und zielte nach seinem Herzen! Der schwache Schein, der von oben auf die Straße herab fiel, war Natalia wie ein Stück von dem Leben ihres Vaters selbst. Nach und nach wurde sie ruhiger. Seltsame Gedanken, Erinnerungen aus der Kinderzeit stiegen in ihr auf. Wie lange hatte sie nicht daran zurückgedacht.