Animalisches im Krankenhaus. David Poppen

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Название Animalisches im Krankenhaus
Автор произведения David Poppen
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783738063592



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      4

      Die Obduktion wurde von Dr. Bernd Sommer vorgenommen.

      Er war ein großer, kräftiger, ernster Mann, der seiner Arbeit jenen Stellenwert einräumte, der ihr seiner Ansicht nach gebührte.

      Während er den Leichnam sezierte, lief ein Tonband. Dr. Sommer beschrieb mit klarer, vernehmlicher Stimme ganz genau, was er tat. Es wurde auf Band festgehalten und würde ihm später helfen, einen lückenlosen Obduktionsbericht zu verfassen.

      Der junge Assistenzarzt Marcel Schneider stand neben ihm, lernbegierig und eifrig. Auch für diesen erklärte Dr. Sommer jeden Handgriff besonders präzise. Entschlossen und mit ruhiger Hand setzte Dr. Sommer die Skalpellschnitte, durchtrennte die Haut, Fettgewebe, Muskelschichten.

      Der junge Assistenzarzt beugte sich über den geöffneten Brustraum. Plötzlich war ihm, als würde er dort drinnen etwas Weißes schimmern sehen. Zähne!

      Der junge Assistenzarzt schloss die Augen.

      Vergangene Nacht war es spät geworden. Er hatte mit Schulfreunden gefeiert und war nur für zwei Stunden ins Bett gekommen.

      Vielleicht war dies der Grund, warum ihm seine Sinne jetzt einen Streich spielten. Er konnte unmöglich wirklich die langen Fangzähne eines Raubtieres gesehen haben.

      Als er die Augen wieder öffnete, fragte ihn Dr. Sommer: „Was haben Sie? Ist Ihnen nicht gut?“

      „Doch, doch. Ich habe nur manchmal so ein Brennen in den Augen.“

      „Vielleicht brauchen Sie eine Brille“, sagte Dr. Sommer. „Sie sollten mal zum Augenarzt gehen.“

      „Ja, sicher“, antwortete der Assistenzarzt.

      Die Zähne waren nicht mehr da, als er wieder in den geöffneten Brustkorb blickte. Eine Halluzination, dachte er. Hoffentlich wiederholte sich das nicht.

      Dr. Sommer arbeitete weiter. Plötzlich zog er die Luft geräuschvoll ein.

      „Das gibt es doch gar nicht!“, stieß er verblüfft hervor. „Das ist unmöglich. Sehen Sie. Diesem Mann fehlt das Herz!“

      Prof. Dr. Gerhard Weber, der Chefarzt des Krankenhauses, diktierte seiner Sekretärin gerade die Aufgabenliste des heutigen Tages. Seine Gedanken wurden durch das Läuten des Telefons unterbrochen.

      Die Sekretärin hob für ihn ab und reichte den Hörer weiter.

      „Es ist Dr. Sommer aus der Pathologie. Er möchte Sie dringend sprechen“, sagte die Angestellte und reichte das Telefon an ihren Chef weiter.

      Dr. Weber nahm ihr den Hörer aus der Hand. Dr. Sommer, der aus dem Obduktionsraum anrief, war so aufgeregt, dass er kaum zu verstehen war. Er entnahm den Worten seines Kollegen nur, dass er schnellstens kommen solle, um sich etwas anzusehen.

      „Worum geht es denn?“, fragte Dr. Weber.

      „Das müssen Sie selbst sehen, sonst glauben Sie das nicht!“, erfolgte die Antwort.

      „Na schön, ich komme“, sagte der Chefarzt und legte auf.

      Dr. Weber ist ein stattlicher Mann in den besten Jahren, bei Patienten und Kollegen gleich beliebt. Er besaß ein umfassendes medizinisches Wissen und wusste, wie man Menschen heilen konnte. Der Chefarzt leitete die Klinik seit fünfzehn Jahren und trug großen Anteil an dem guten Ruf, den sie hatte.

      Dr. Weber fuhr mit dem Lift zwei Etagen nach unten und betrat wenig später die Pathologie. Dr. Sommer und sein junger Assistenzarzt waren immer noch erregt.

      Auf dem Seziertisch lag der Tote.

      „Ich kann es nicht fassen“, sagte Dr. Sommer. „Es ist unmöglich, aber dennoch eine Tatsache. Paul Stumpf fehlt das Herz!“

      „Machen Sie keine Witze“, meinte der Chefarzt schockiert.

      „Habe ich nicht gesagt, Sie würden es nicht glauben? Überzeugen Sie sich selbst.“

      Das tat Dr. Weber. Er konnte auch nicht begreifen, was er sah. Paul Stumpf konnte ohne Herz nicht gelebt haben. Was war hier los? Waren die Ärzte mit einem medizinischen Wunder konfrontiert?

      Die Wahrheit war schrecklicher!

      Doch wie hätte der Chefarzt das wissen können?

      5

      „Heute Nacht hatte ich einen furchtbaren Traum“, erzählte Markus Bauer. Er sah Thomas Schiefer fragend an. „Glaubst du an übersinnliche Dinge?“

      „Nein“, beantwortete sein Bettnachbar.

      „Ich ... ich habe den Tod von Paul Stumpf irgendwie vorhergesehen, wenn ich es mir jetzt so überlege.“

      „So etwas gibt es nicht.“

      „Vorher geträumt müsste ich eigentlich sagen“, bemerkte Markus. „Aber wenn du es nicht hören möchtest, behalte ich es für mich. Ich will dich nicht langweilen.

      „Machst du doch nicht. Ich habe hier Zeit. Erzähle es mir ruhig“, forderte ihn Thomas auf.

      „Also, in meinem Traum wurde Paul Stumpf ermordet, auf eine ganz seltsame Weise.“

      Markus betrachtete nachdenklich seine Hände. „Wieso fällt mir das jetzt erst ein? Heute Morgen, als ich Paul tot im Bett liegen sah, konnte ich mich an diesem unheimlichen Traum nicht erinnern.“

      „Vielleicht musste dein Unterbewusstsein erst den Traum verarbeiten“, antwortete Thomas Schiefer. „Wenn er tatsächlich so schrecklich war ...“

      „Oh ja, das war er“, sagte Markus und nickte heftig. „Zuerst war hier alles still und friedlich, im Traum meine ich. Es muss so um Mitternacht gewesen sein, da betrat jemand den Raum. Der Kerl war mir von Anfang an nicht geheuer. Er schlich auf Paul zu, ich bildete mir ein, er wollte meinem Bettnachbarn etwas antun. Ich wollte Paul warnen, aber wie das in Träumen so ist, ich konnte nicht rufen, nur zusehen. Eine kalte Angst lähmte mich. Auf dem Flur waren Schritte zu hören, der unheimliche Mann versteckte sich hinter der Trennwand. Nachtschwester Claudia kam und wechselte die Infusionsflaschen aus. Paul wurde kurz munter und redete mit ihr. Nachdem sie gegangen war, schlief er wieder ein. Der unheimliche Kerl kam wieder hervor. Seine Hände leuchteten. Er hielt sie über Pauls Brust. In dem Licht erschien ein Raubtiergebiss. Beiß zu, zischte der unheimliche Mann und ... die Zähne gehorchten. Paul verlor dabei sein Herz.“

      Thomas Schiefer schmunzelte. „Du hast aber eine sehr rege Phantasie. Träumst du öfters so aufregend?“

      „Zum Glück nicht. Sonst würde mich noch mal im Schlaf der Schlag treffen. Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr ich mich dabei aufgeregt habe.“

      „Du könntest einem Horrorautor als Ideenlieferant dienen“, sagte Thomas grinsend.

      „Ich träumte das alles so realistisch. Als würde es tatsächlich passieren. Heute Morgen war dann Paul wirklich tot.“

      „Zufall!“, erklärte Thomas Schiefer. „Niemand kann in die Zukunft sehen. Auch im Traum nicht. Außerdem war das wohl alles ein bisschen überdreht. Ein Mann mit strahlenden Händen. Ein Wolfsgebiss. Paul verliert sein Herz. So etwas ist nur in einem Alptraum möglich.“

      Markus nickte zustimmend. „Du hast natürlich recht, so etwas kann sich niemals wirklich zutragen, aber je länger ich mich damit auseinander setze, desto mehr bilde ich mir ein, dass es kein Traum, sondern Wirklichkeit war. Vielleicht sollte ich fragen, ob die hier auch einen Psychiater haben.“

      Der junge Krankenpfleger Toni Huber betrat das Zimmer. Er arbeitete erst seit wenigen Wochen im Krankenhaus, war ein kleiner Mann mit einem muskulösen Körper, wirkte wie ein Gewichtheber der Fliegengewichtklasse.

      „Na, habt ihr euch schon angefreundet?“, erkundigte sich der Krankenpfleger freundlich.

      „Ja“,