"Wir schaffen das". Benjamin Webster

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Название "Wir schaffen das"
Автор произведения Benjamin Webster
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783745097009



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warmen Arsch, nur für uns Deutsche ist kein Platz.“ Polizist: „Sagen sie das den Politikern und nicht mir. Ich kann auch nichts dafür, dass es so ist. Wir machen nur unseren Job. In einer Stunde sind sie weg. Probieren sie es doch einmal in der alten Fabrik, da steht immer eine seitliche Tür auf.“ Frank verstand den Hinweis und sagte zu seinen Kumpels: „Komm wir räumen das Feld, sonst haben wir eine Anzeige an der Backe und das kostet uns gleich wieder einige hundert Euro.“ Paul und Zecke maulten zwar noch ein wenig, fingen aber an ihre sieben Sachen in die Taschen und Einkaufswagen zu räumen. Zwanzig Minuten später hatten sie die Hofeinfahrt verlassen und begaben sich auf den Weg zur alten Fabrik. Nach einer Stunde Fußmarsch erreichten sie ihr Ziel. Und wie der Polizist sagte, war tatsächlich eine Seitentür nicht verschlossen. Nun hatten sie eine Bleibe, die trocken und Wetterfest war. Nur die Heizung fehlte noch, dann wären es fast paradiesische Zustände für die drei gewesen. Am nächsten Morgen inspizierten sie die Fabrik. Sie interessierten sich nicht für die großen Hallen, sondern eher die kleinen Büroräume. In einer von ihnen stand noch ein alter Werkstattofen, der sogar noch funktionstüchtig war. Und an Brennmaterial mangelte es in dem alten Gemäuer nicht. Überall lagen alte Holzpaletten, Balken und andere Dinge herum, die sich wunderbar zum einheizen eigneten. Unter tags brauchte ja nicht geheizt werden, weil sie da unterwegs waren um Geld zu verdienen. Ja, sie haben richtig gehört. Alle drei bemühten sich jeden morgen in aller früh, an der Jobbörse um Arbeit. Die Jobbörse vermittelt jeden Tag für Interessierte, kurze Jobs, die gleich nach getaner Arbeit entlohnt wurden. So verdienten sie in der Woche zwischen 100.- und 150.- Euro, was zu leben nicht reicht. Vom Amt bekamen sie deswegen noch einmal 75.- Euro die Woche, die sie selbst abholen mussten. So wie den dreien geht es rund 375.000 Menschen in Deutschland. Ich schätze, dass die Zahl noch wesentlich höher liegt, weil viele Obdachlose den Weg zum Amt scheuen. Teils aus Scham oder weil sie bei Verwandten oder Freunden gemeldet sind. Und das sind nicht nur Erwachsene, sondern auch um die 20.000 Jugendliche. Gehen wir einmal grob geschätzt von einer halben Million Obdachlose in Deutschland aus. Und die sind nicht obdachlos, nur weil es so romantisch oder ein Männerding ist, nein der Grund ist schlicht und einfach, weil sie aus ihrer alten Wohnung geflogen sind und leider keine neue, bezahlbare gefunden haben. Rechnet man noch Familien und Einzelpersonen dazu, die auch eine Wohnung suchen, so kommen wir auf eine Zahl von 5,5 bis 7 Millionen Wohnungen die in Deutschland fehlen. Und das nicht erst seid ein paar Monaten, sondern schon seid vielen Jahren. Die Politik hat diesen Sektor schon lange vernachlässigt. Erst jetzt, da so viele Asylsuchende und Flüchtlinge gekommen sind, sehen es die Politiker ein, dass Wohnraum dringend gebaut werden muss. Und wie das in der freien Marktwirtschaft so ist, schnellen dann die Mieten in die Höhe. Und was macht die Politik? Sie schaut seelenruhig zu, ach nein, sie bringt in aller Regelmäßigkeit neue Mietgesetze heraus, die im Endeffekt doch nicht greifen und für den Arsch sind, wie ein Nachbar immer zu sagen pflegt. Der ist nämlich auch schon seid zwei Jahren auf Wohnungssuche, findet aber keine. Entweder sind sie viel zu teuer, oder es sind die letzten Bruchbuden. Das wollte ich nur am Rande erwähnen.

      Renate und Wolfgang machten sich an den Abwasch. Er trocknete ab und fragte sie dabei: „Gibt es etwas Neues im Viertel, schließlich war ich fast zwei Wochen nicht hier?“ Renate: „Eigentlich nicht. Das heißt doch. Im alten Laden von Frau Huber, kommt ein Gemeindezentrum herein. Es sollen sich drei Sozialarbeiter, um die Belange der Einwohner des Viertels kümmern.“ Wolfgang: „Du meinst den Lebensmittelladen, der schon drei Jahre leer steht?“ Sie nickte und antwortete: „Genau der.“ Er fragte weiter: „Und um was kümmern die sich dann? Muss man jetzt bei denen den Hartz IV Antrag ausfüllen und abgeben?“ Renate: „Keine Ahnung, aber im Flur habe ich noch den Flyer liegen, den mir einer der Sozialarbeiter in die Hand gedrückt hat.“ Wolfgang: „Wurde auch Zeit, dass die vom Rathaus etwas unternehmen, schließlich sind wir wie Neukölln und Kreuzberg auch ein Problemviertel. Ich glaube aber nicht, dass die Sozial fuzzis was erreichen. Die haben schon einmal vor Jahren das Gleiche versucht und sechs Monate später, war der Spuk vorbei. Wie viele haben sie dieses Mal abgestellt?“ Renate: „Es waren zwei Männer und eine Frau, alle so um die Mitte dreißig. Aber ich muss sagen, sie waren sehr freundlich. Mitte Januar eröffnen sie das Gemeindezentrum offiziell. Wenn du aber etwas wissen willst, kannst jetzt schon telefonisch nachfragen. Das steht aber alles auf dem Flyer.“ Wolfgang: „Gibt es bei der Eröffnung auch was zu futtern?“ Renate: „Du denkst auch nur ans essen, frag lieber einmal nach, wer die 120.- Euro Zuzahlung fürs Krankenhaus übernimmt.“ Wolfgang: „Ich dachte du warst schon beim Amt und bei der Kasse?“ Renate: „Versuch es einfach, vielleicht kennen die eine Möglichkeit, dass wir nicht bezahlen müssen. Probieren geht bekanntlich über studieren.“ An der Haustür klingelte es. Wolfgang fragte: „Erwartest du noch jemand?“ Renate: „Ich habe keinen eingeladen. Das wird bestimmt wieder Inge sein. Sie geht jeden Tag einkaufen, aber immer vergisst sie etwas.“ Wolfgang legte das Geschirrhandtuch beiseite und ging zur Haustür. Wie er öffnete, riefen auf einmal vier Nachbarn ganz laut: „Überraschung.“ Jeder streckte ihm etwas entgegen. Es waren Wein, Sekt und einen selbstgebackenen Kuchen. Inge hatte noch Kaffee mitgebracht und meinte: „Schön, das du wieder zu Hause bist. Was ist, sollen wir da draußen in der Kälte Wurzeln schlagen? Oder glaubst du, du könntest mit Renate zusammen, alles allein futtern und trinken?“ Wolfgang antwortete: „Ich weiß jetzt gar nicht was ich sagen soll, am Besten, ihr kommt erst einmal herein.“Wie alle im Wohnzimmer standen, kam Renate aus der Küche und Inge sagte zu ihr: „Wir haben uns gedacht, wir überraschen Wolfgang mit einer Überraschungsparty.“ Renate: „Und aus welchem Grund, er hat weder Geburts- noch Namenstag?“ Inge: „Na, weil er wieder gesund und munter unter uns weilt. Gott sei Dank war es nicht so schlimm. Bringst du bitte Tassen und Teller, den Kuchen habe ich selbst gebacken.“An diesem Abend gab es reichlich Kaffee, Kuchen und Sekt. Und die Freude darüber, dass Wolfgang wieder gesund aus der Klinik entlassen wurde, war echt und nicht gespielt. So einfach geht Mitgefühl und Nachbarschaft, wenn man es will. Aber viele Mitmenschen können gar keine Gefühle mehr zeigen. Teils liegt es daran, weil sie schon zu oft enttäuscht wurden, oder schlicht und einfach abgestumpft sind. In unserer Zeit ist das schon fast Normalität geworden. Jeder für sich, die anderen sind mir egal. Hauptsache ich und davon viel und reichlich. Geld regiert die Welt, da stören Gefühle nur. Oft bleibt da, die Ehrlich- und Menschlichkeit auf der Strecke.Renate hielt Wort. Sie ließ Wolfgang erst eine Woche später wieder auf die Strasse. Irgendwann am Nachmittag trennten sich ihre Wege. Wolfgang brache die gesammelten Flaschen zu verschiedenen Discountern und löste diese ein, während sich Renate vor ein renommiertes Bankhaus setzte, ihr Schild und einen Pappbecher auspackte. Still saß sie da und harrte der Dinge. Das brauchte sie auch, weil auf dem Schild stand: „Ich bin ein Opfer des Systems. Ich suche verzweifelt nach Arbeit, aber niemand stellt mich ein.“ Viele die aus der Bank kamen, nahmen nicht einmal Notiz von ihr. Hier und da blieb ein Kunde stehen und warf ihr ein paar Cent in den Becher. Nach drei Stunden packte sie alles zusammen und zog Bilanz. 10,45 Euro hatte sie erbettelt, was immerhin mehr war, als sie beim Flaschensammeln bekommen hätte. Am Abend kamen noch einmal 6,75 Euro von Wolfgang dazu. So hatten die beiden 17,20 Euro verdient, Geld das sie gut gebrauchen konnten, wie viele in der Warschauer Strasse. Zum Beispiel Familie Schröder, die nur drei Häuser weiter wohnte. Es ist eine vierköpfige Familie. Vater Karsten, 49 Jahre, Mutter Ute, 47 Jahre, sowie die beiden Kinder Uwe und Stefan mit 14 und 16 Jahren. Sie wohnten bereits seid 10 Jahren hier und hatten auch schon bessere Zeiten erlebt. Denn Vater Schröder, war inzwischen seid 13 Monaten arbeitslos und erhielt somit die Grundversorgung, sprich Hartz IV Leistungen vom Vater Staat. Vorher hatte er einen guten Job als Filialleiter einer Supermarktkette. Er verlor seinen Job, weil die Filiale wegrationalisiert wurde. Zu wenig Umsatz, besser gesagt, zu wenig Gewinn. So fielen dieser Maßnahme fünf weitere Arbeitsplätze zum Opfer. Nur die beiden Azubis kamen in einer anderen Filiale unter. War ja auch klar, erstens sind Azubis arbeitsrechtlich besonders geschützt und zweitens, sind es billige Arbeitskräfte. Trotz vieler Bewerbungen, bekam Karsten keine neue Arbeit. Und Ute ging es nicht besser. Sie hatte zuletzt vor 16 Jahren gearbeitet, aber wie ihre ältester Sohn Uwe auf die Welt kam und kurz danach Stefan, war an arbeiten nicht mehr zu denken. Mutter Ute führte den Haushalt und Papa Karsten schaffte die Kohle ran. Diese Rollenverteilung passte auch in Kartens politische Einstellung, war er doch stockkonservativ eingestellt und ein leidenschaftlicher Fan der Kanzlerin. Nur in letzter Zeit verstand er die Welt nicht