Terapolis. Tom Dekker

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Название Terapolis
Автор произведения Tom Dekker
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783748514022



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das er in der Hand hielt, so vertieft, dass er weder das Klopfen gehört hatte, noch auf Gregs Schritte reagierte, als der nun vorsichtig zum Schreibtisch schlich.

      „Mister Fingrey?“ Greg räusperte sich unbeholfen. Es war ihm unangenehm, wie ein gemeiner Dieb in das Büro des Firmeninhabers zu schleichen, aber er wollte Jesua Fingrey auch nicht erschrecken. „Sie hatten mich rufen lassen?“ Wenn er auf eine Reaktion des Firmeninhabers gewartet hatte, wurde Greg enttäuscht. Fingrey saß weiter seelenruhig in seinem Sessel und schien gewillt zu sein, sich von keinem Vorkommnis welcher Art auch immer von seiner Lektüre abbringen zu lassen.

      Greg war neben dem Schreibtisch angekommen. Ihn beschlich das ungute Gefühl, dass etwas in dem Raum nicht stimmte. Die Standuhr in der Ecke tickte übermäßig laut, alle anderen Geräusche, die man an einem Arbeitstag im Büro eines so bedeutenden und viel beschäftigten Mannes erwartet hätte, waren dagegen kaum zu vernehmen. Von Mister Fingrey im Besonderen ging eine gespenstische Stille aus.

      Greg warf einen nervösen Blick auf den Mann in dem Ohrensessel und erstarrte. Gerade noch rechtzeitig gelang es ihm, den Schrei, der sich aus seiner Kehle Bahn brechen wollte, zu unterdrücken. Entgeistert starrte er Jesua Fingrey an. Der reiche Fabrikant saß in seinem Anzug da, den Blick auf einen Brief gerichtet, aber keine Bewegung ging von seinem Körper aus. Noch nicht einmal der Brustkorb hob und senkte sich. Eine klaffende Wunde am Hals machte Greg klar, dass sich Mister Fingreys Lungen nie wieder mit Luft füllen würden.

      Aber was hatte das alles zu bedeuten? Warum hatte Fingrey ihn rufen lassen und war dann plötzlich tot? Das ergab doch keinen Sinn!

      Plötzlich öffnete sich die Bürotür hinter Greg, der, unfähig sich zu bewegen, einfach nur dastand und den Blick nicht von dem Toten wenden konnte. Die Schritte hinter ihm verharrten in der Bewegung. „Herrje.“, raunte eine kratzige Stimme, die Greg entfernt vertraut vorkam. „Was ist denn hier passiert?“

      „Achtung, eine weitere Durchsage.“, vernahm Greg wie aus weiter Ferne erneut die Frauenstimme aus dem Megaphon. „Alle Vorarbeiter mögen sich bitte umgehend bei Mister Fingrey einfinden.“

      „Bei allen Heiligen!“, knurrte der Mann in Gregs Rücken. „Greg?“

      Der Ausruf seines Namens wirkte auf Greg, als hätte ihm jemand am frühen Morgen einen Eimer kalten Wassers über den Kopf geschüttet. Ruckartig drehte er sich um und starrte den Mann an, der ihn in dieser kompromittierenden Situation überrascht hatte. Er war nicht viel größer als Greg, aber seiner Körperform nach zu urteilen sicher doppelt so schwer. Wollmantel, Tuchhose, Stiefel und Schiebermütze in Schwarz- und Grautönen gaben ihm den typisch verlotterten Ausdruck eines Mannes, der viel zu lange für wenig Geld in den Rauch spuckenden Fabrikhallen des Ostviertels gearbeitet hatte. Ungewaschene graue Haarsträhnen fielen über seine rechte Gesichtshälfte und verdeckten ein Metallgerüst, dass sich um das rechte Auge rankte. „Nick?“, fragte Greg entgeistert, als er den alten Mann erkannt hatte.

      „Ja, verdammt.“, fluchte der und packte Greg am Arm. „Komm! Wir müssen hier weg. Gleich wimmelt es hier nur so von Leuten.“ Er stürmte aus dem Büro und zerrte den Jungen hinter sich her. Greg ließ diese Behandlung willenlos über sich ergehen. Sein Gehirn arbeitete auf Hochtouren und war auf dem Weg zu mehreren Erkenntnissen, die alle ein für ihn sehr unangenehmes Ende dieser Sache vorhersagten. Er musste aus der Fabrik heraus. Das war ihm soeben klar geworden. Aber wohin?

      Mechanisch liefen seine Füße durch die Fabrik und fanden ihren Weg auch ohne das Zutun seines Kopfes. Er kannte jeden Winkel hier und wusste, wo der schnellste Weg zum Ausgang führte.

      „Nicht da entlang!“, bellte der alte Nick plötzlich und zerrte ihn in eine schmale Lücke zwischen zwei Maschinen. „Hier kommen zu viele Leute entlang. Komm!“ Er winkte Greg, ihm zu folgen, und eilte durch eine schmale Gasse zwischen mehreren Maschinen ins hintere Ende der Fabrikhalle. Greg folgte ihm dicht auf den Fersen. Als sie die Wand erreicht hatten, schob Nick mühsam eine Metallplatte beiseite. „Fass mit an, Greg! Oder willst du, dass sie dich schnappen?“, fragte er schnaufend.

      Gemeinsam schoben sie die Platte zur Seite. Zum Vorschein kam eine kleine Pforte, die Greg noch nie bemerkt hatte. Ihm blieb keine Zeit, sich zu wundern, woher Nick, den er noch nie in der Fabrik gesehen hatte, von diesem Ausgang wusste, da wurde er auch schon hindurchgeschoben. Krachend fiel die Tür hinter ihm ins Schloss. Seine Beine schlotterten und drohten nachzugeben, aber Nick schlang ihm einen Arm um die Schultern und schob ihn weiter. Vor ihnen entfernten sich zwei Dieselroller in schneller Fahrt, sonst war es zu dieser Stunde, in der alle Arbeiter an ihren Maschinen waren, ungewöhnlich ruhig auf dem großen Industriegelände.

      IV

      Bobby Lane hatte die Kunst des patrouillierenden Schlenderns bis zur Perfektion vollendet. Den Unterschenkel bei jedem Schritt leicht nach vorn werfend, um dann mit der Ferse zuerst den Fuß aufzusetzen, bog er um die Ecke einer kleinen Bäckerei am Rand der Innenstadt. Die Kunst bestand darin, das Gewicht gerade so lange auf dem Standbein zu belassen, dass der freie Fuß genug Schwung bekam, um mit möglichst geringem Energieaufwand nach vorn zu schlenkern und dann das gesamte Körpergewicht ohne Krafteinsatz zur anderen Seite schwenken zu lassen, so dass man sich in einer Art Schaukeln vorwärtsbewegte, das ein entspannter Mann stundenlang durchhalten konnte. Bobby Lane war sehr stolz auf seine Fähigkeit des patrouillierenden Schlenderns. Schon von Weitem war er dadurch als im Dienst befindliches Mitglied der Polizeiwache erkennbar, und es gab für ihn nichts befriedigenderes, als einen ganzen Tag mit wachen Augen lang durch die City zu streichen und keinen einzigen Verbrecher zu sehen. Bobby gab sich nicht der Illusion hin, dass es in der City keine Verbrechen gab. Oh nein. Ganz im Gegenteil. Er hatte lange genug in den Außenbezirken am Rand der Schemen Streife geschoben, um zu wissen, welche Abgründe sich in der menschlichen Seele auftaten und er war sich bewusst, dass es auch in den eher wohlhabenden Geschäftsvierteln, die er seit mehr als zwanzig Jahren tagtäglich durchstreifte, nur so von kriminellen Aktivitäten wimmelte. Aber nicht direkt vor seiner Nase. Und dazu trug nach Bobbys Auffassung sein schlendernder Gang nicht unwesentlich bei. Er gab damit den Ganoven und Gelegenheitsdieben genügend Zeit, sich rechtzeitig aus dem Staub zu machen, so dass Bobby im schlimmsten Fall lediglich die eher banale Aufgabe zufiel, die Scherben eines kaputten Fensters in die Schmutzrinne zu kehren oder sich die sehr ungenaue Täterbeschreibung eines sich verdächtig eilig entfernenden suspekten Individuums einzuprägen und später zu Protokoll zu geben. Er kannte diese Straßen wie seine Westentasche und konnte selbst mit geschlossenen Augen allein an den Unebenheiten der Wege, die er unter den Sohlen seiner alten Polizistenstiefel spürte, erkennen, wo er sich gerade befand.

      An diesem Tag, als er eben um die Ecke der Bäckerei gebogen war, machte Bobby zwei ungewöhnliche Beobachtungen. Es ereignete sich nichts verbotenes, keine Schreie waren zu hören, niemand rief aufgeregt nach den Ordnungshütern oder verlangte gar im Brustton der Überzeugung nach Rache. Die Ereignisse waren gerade so ungewöhnlich, dass Bobby sie nur im Unterbewusstsein überhaupt registrierte und er sich erst später, als er das Protokoll seiner heutigen Streife anfertigte, für einen Augenblick die Frage stellte, ob sie wohl ungewöhnlich genug waren, um in seinen Notizen Erwähnung zu finden.

      Zunächst kamen ihm aus Richtung des Industriegeländes im Osten der Stadt zwei Dieselroller entgegen. Auf dem einen saß ein junger Mann in blauer Tuchhose und Lederjacke, dessen Kopf vorschriftsmäßig von einer Fliegerkappe mit Fliegerbrille geschützt war. Fest an ihn geklammert versuchte eine junge Frau in Wollrock, engem Mieder und Baumwollbluse, nicht von der schmalen Sitzbank zu fallen. Gerade, als der Roller den Polizisten passierte, stieß sie ein kreischendes, fast extatisches Lachen aus. Dicht gefolgt wurde das Pärchen von einem weiteren, kleineren Dieselroller, der von einem weiteren jungen Mann in der typisch braunen Tuchhose und blauen Wolljacke der Zimmerleute gesteuert wurde. Auch er trug vorschriftsmäßig eine Kopfbedeckung, in seinem Fall eine Schiebermütze. Es war für Bobby natürlich nichts Ungewöhnliches, junge Leute auf Dieselrollern durch die Gegend fahren zu sehen, dennoch machte sich sein Unterbewusstsein eine Notiz, dass um diese Uhrzeit noch nie drei junge Leute im arbeitsfähigen Alter das Industriegelände verlassen hatten. Aber verboten? Nein, verboten war es nicht. Gut, das Mädchen trug nicht die vorgeschriebene Kopfbedeckung, aber jetzt war es ohnehin zu spät. Zu Fuß konnte Bobby sie nicht mehr einholen.

      Kurze