Terapolis. Tom Dekker

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Название Terapolis
Автор произведения Tom Dekker
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783748514022



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rief Josh in die Dunkelheit hinein. „Komm, Frog! Das Essen ist gerade fertig.“

      „Na, da komme ich ja genau richtig.“, ließ sich der Angesprochene nicht zweimal bitten. Er schob die schweren Torflügel zu und schlenderte zu der Gruppe am Feuer. „Ihr sollt doch bei Dunkelheit das Tor schließen.“, tadelte er die Runde mit einem Kopfschütteln und seufzte missbilligend. „Wann lernt ihr endlich, dass ihr nicht so leichtsinnig sein dürft? Die City ist gefährlich, vor allem bei Nacht.“

      „Sagt einer, der jede Nacht unterwegs ist.“, erwiderte Philt in sarkastischem Tonfall.

      „Ja, weil er abends seine Wertmarken verdient.“, konterte Frog. „Oder hast du schon mal davon gehört, dass eine Big Band in der Mittagszeit zum Tanz aufspielt? Da swingt es sich bekanntlich nur halb so gut wie am Abend. Außerdem ist es für mich weniger gefährlich als für euch.“, fügte er im Brustton der Überzeugung hinzu.

      „Ach ja? Wie kommst du denn darauf?“, fragte Suri interessiert mit einem angriffslustigen Ton.

      „Na, schau mich an!“, tönte Frog und deute an sich herunter. „Ich bin schwarz. Ich trage einen schwarzen Frack, schwarze Hosen und schwarze Schuhe. Der Kasten meiner Trompete ist schwarz. Wenn ich die Augen schließe, bin ich nachts faktisch unsichtbar.“

      Dieser Logik hatte niemand etwas entgegenzusetzen. Während Suri Suppe und Wurst verteilte und Frog seinen Frack ablegte und sich seine bequeme Tuchhose, eine Wolljacke und ausgetretene Schuhe anzog, hingen alle ihren Gedanken nach. Greg dachte an all die dunklen Ecken der riesigen Stadt, in denen sich Frog so viel besser verbergen konnte als er selbst. Er kannte einen Großteil der City wie seine Westentasche. Seit er vor fast zehn Jahren aus dem Waisenhaus ausgerissen war, lebte er auf den Straßen dieser Stadt. Den größten Teil seines Lebens hatte er in den von halb verfallenen alten Wohnkasernen gesäumten Straßen und Gassen der Innenstadt und den stinkenden Fabrikhallen und Industrieruinen des Ostviertels verbracht. Aber auch das Verwaltungsviertel mit dem prunkvollen Gouverneurspalast, dem Gericht, den höheren Schulen und den schicken Geschäften kannte er in- und auswendig. Und natürlich den lautstarken, quirligen Markt, wo er sich viele Jahre lang dadurch am Leben erhalten hatte, dass er die wohlhabenden Händler und Käufer um das erleichterte, was sie ohnehin nicht vermissen würden. Manchmal war er den Reichen sogar bis zu ihren sauberen Vororten gefolgt. Wie hatte er die Jungen in ihren Matrosenanzügen und Lackschuhen beneidet, wenn sie lachend und singend hinter den Zäunen der Wohnviertel, in denen die Luft so sauber und die Häuser so farbenfroh waren, zum festlich gedeckten Abendbrottisch spazierten. Wie oft hatte er geträumt, eines Tages kämen seine Eltern, die er bisher nicht kennen gelernt hatte, in die Stadt, würden ihn auf dem Markt erkennen und mit in eine dieser wundervoll verzierten Villen mit Badezimmer, Vorratsschrank und einem warmen Daunenbett nehmen und mit ihm als richtige Familie leben.

      Und dann war er eines Tages Frog über den Weg gelaufen, der aus einer der umzäunten Siedlungen herausspaziert kam, als wäre er da zu Hause. Er hatte dem Jungen in den abgerissenen Kleidern wohl angesehen, was für Gedanken ihm durch den Kopf gingen. Als er Greg abends in das Lagerhaus im Stadtzentrum mitgenommen und die Gemeinschaft beschlossen hatte, ihn aufzunehmen, einfach so, ohne irgendwelche Forderungen, da hatte er endlich seine Familie gefunden. Ja, er fühlte sich wohl bei seiner Gemeinschaft und er war stolz, dass er seit ein paar Monaten in der Dieselmotorenfabrik arbeitete und sich so geschickt angestellt hatte, dass er nun sogar Gasschmelzschweißer war und jeden Freitag viele Wertmarken für die Gruppe mitbringen konnte. Er fühlte sich wohl in der Gemeinschaft, wohl in der Fabrik von Jesua Fingrey, wohl in seiner Stadt. Nur die Schemen, das heruntergekommenste Wohnviertel, in das sich nicht einmal die Wachmänner des Gouverneurs wagten, mied er tunlichst. Dort konnte ihm niemand helfen und selbst Frogs Unsichtbarkeit war in den Schemen nicht unsichtbar genug. Ein Schaudern lief ihm kribbelnd den Rücken hinunter.

      „... bin ich noch bei einer Wahlveranstaltung hängen geblieben. Deshalb ist es etwas später geworden.“ Frogs Stimme riss Greg aus seinen Gedanken. Offenbar hatte er ganz verpasst, wie das Gespräch wieder in Gang gekommen war.

      „Und? Hast du irgendetwas Spannendes gehört?“, fragte Peanut eher gelangweilt.

      „Und ob!“, rief Frog. „Collin Rand persönlich hat gesprochen.“

      „Collin Rand?“, fragte Philt und machte eine wegwerfende Handbewegung. „Dieser aufgeblasene Fatzke!“

      „Und demnächst neuer Gouverneur.“, raunte Josh. „Es dürften kaum Zweifel daran bestehen, dass Rand die Wahl gewinnt.“

      „So, wie er alle aussichtsreichen Mitbewerber ausgeschaltet hat, sicher nicht!“, bemerkte Suri.

      „Meinst du die Sache mit Morgan?“, fragte Frog. „Also, ich glaube nicht, dass Rand so dumm wäre, einen Konkurrenten umbringen zu lassen. Er ist ein mieses Schwein, aber wenn das rauskäme, wäre es politischer Selbstmord. Da könnte sich nicht einmal Rand herauswinden.“

      „Wenn er schlau genug ist und die Schläger, die Morgan in die Schemen geschleift und dort zerhackt haben, ebenfalls um die Ecke bringt, hat er nicht viel zu befürchten, oder? Aus der Sache mit Heyworth hat ihm auch keiner einen Strick gedreht und alle wissen, dass Rand dahintersteckt.“, spann Suri den Faden weiter.

      „Das ist eine ziemlich gewagt These, die du besser für dich behältst!“, entgegnete Josh. „Wenn Rand wirklich Gouverneur wird, wird sich einiges ändern. Seine Schlägertrupps haben die City sowieso schon im Griff, aber wenn sie erst einmal als offizielle Wachmannschaften keiner Kontrolle mehr unterliegen, möchte ich ungern Collin Rands Feind sein. Sei also vorsichtig, was du in der Schneiderei oder bei deinen Freiern von dir gibst!“

      „Jaja, ich pass schon auf.“, knurrte Suri mürrisch.

      „Eins verstehe ich nicht.“, mischte sich Greg in die Diskussion ein. „Warum gewinnen immer solche miesen Typen wie Rand? Warum gibt es keine ehrlichen Leute, die in der Politik oder der Wirtschaft Erfolg haben?“

      „Die gibt es, sie fallen nur nicht so auf.“, konterte Peanut.

      „Ach ja?“, fragte Frog interessiert. „Da bin ich aber gespannt. Nenne mir doch mal einen Politiker, der ein ehrlicher Mensch ist und das Interesse der Menschen, die ihn gewählt haben, über sein eigenes stellt!“

      „Jesua Fingrey?“, warf Peanut ein.

      „Der ist wirklich ein großartiger Mann, konzentriert sich aber ganz auf seine Fabriken.“, stellte Natty klar. „Aber einen ehrlichen Politiker...“

      „Gibt es nicht.“, stellte Philt kategorisch fest.

      „Mir fällt auch keiner ein.“, nickte Josh nachdenklich. „Obwohl, vor ein paar Jahren war doch dieser Typ mit dem komischen violetten Zylinder, der ganz knapp bei der Gouverneurswahl gegen Vincent Greystone verloren hat.“

      „Urban Longside.“, warf Natty ein.

      „Ja, genau. Der war ein lustiger Typ. Geradeheraus, ehrlich, pflichtbewusst. Dem hätte ich vertraut.“, rief Josh begeistert.

      „Und heute ist er tot.“, dämpfte Suri die Euphorie.

      Alle starrten sie erstaunt an.

       „Sagt bloß, das habt ihr nicht mitgekriegt! Es muss ungefähr ein halbes Jahr her sein. Kurz bevor Greg zu uns kam. Ein Freier hat es mir erzählt. Kam ganz verstört zu mir, der Arme, und hat mich nur fürs Reden bezahlt. Longside muss wohl in den Schemen spazieren gegangen sein.“ Sie schüttelte den Kopf und schnalzte missbilligend mit der Zunge. „Ganz schön unvorsichtig, wenn ihr mich fragt. Man hat ihn mit aufgeschnittener Kehle in einer dunklen Sackgasse gefunden. Soll kein schöner Anblick gewesen sein.“

      „Hätte er nicht gute Chancen gehabt, wenn er bei der Wahl gegen Rand angetreten wäre?“, fragte Greg mit vor Erregung roten Ohren.

      „Schlaues Kerlchen.“, lobte ihn Suri und strubbelte ihm durch das Haar.

      Greg zog unwirsch den Kopf weg. „So ein mieser Hund! Es muss doch jemanden geben, der ihn stoppen kann.“, rief er empört.

      „Alle, die sich ihm bisher in den