Terapolis. Tom Dekker

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Название Terapolis
Автор произведения Tom Dekker
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783748514022



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was passiert, du darfst auf keinen Fall loslassen...“

      Die Tür des Lagerhauses wurde aufgerissen und ein Schwall kalter Luft lies die Kerze flackern. „Raus hier! Die Bahnpolizei kommt. Ihr habt gebrüllt wie eine Herde Ochsen.“, schrie ein Mann von der Tür her. Im nächsten Moment war er schon wieder verschwunden.

      Um Greg herum breitete sich hektisches Treiben aus. Die Menschen rafften Tücher, Taschen und Rucksäcke und huschten durch die Tür und zwei Luken in der Rückwand aus dem Lagerhaus. Er spürte, wie Nick ihn am Handgelenk packte und ins Freie stürmte. Von einer Seite des Bahnhofsgeländes kamen mehrere Sturmlaternen in zügiger Geschwindigkeit auf sie zu. Nick schlug einen Weg ein, der von den Laternen wegführte und Greg ließ sich bereitwillig mitreißen. Eine Begegnung mit der Bahnpolizei war auch ohne einen Mordverdacht am Hals zu haben, etwas, das man unter allen Umständen vermeiden sollte. Den Gerüchten nach war die Bahnpolizei ein Abschiebebahnhof für Polizisten, die durch Dienstvergehen, meist sollten diese etwas mit unangebrachter Brutalität zu tun haben, nicht mehr haltbar waren. Eine dunkle Nacht allein mit diesen Typen in einem finsteren Lagerhaus verbringen zu müssen, stand auf Gregs Wunschliste der Ereignisse, die er vor seinem Tod auf jeden Fall noch erleben wollte, ganz unten.

      Nick führte ihn mit traumwandlerischer Sicherheit um die Sturmlaternenträger herum zu den Zügen, die sich für eine Abfahrt bereit machten. An den Bahnsteigen herrschte nur mäßiges Gedränge. Die meisten Fahrgäste schienen schon eingestiegen zu sein und machten es sich vermutlich bereits in ihren Betten bequem. Nick und Greg näherten sich in der Dunkelheit vorsichtig einem Zug, der etwas abseits stand. Sie kamen von der dem Bahnsteig abgewandten Seite, so dass die Chance, gesehen zu werden, verschwindend gering sein musste.

      „Dieselzug.“, flüsterte Nick. „Du legst dich besser nach hinten.“ Er klopfte Greg auffordernd auf die Schulter und reichte ihm das Papierstück, das er immer noch in der Hand hielt. „Hier hast du die Karte, pass gut darauf auf.“

      „Nick. Der Mann wollte noch etwas Wichtiges sagen.“, zischte Greg nervös.

      „Ich weiß. Aber jetzt sind wir hier und du musst aufsteigen. Der Zug fährt gleich los. Denk einfach dran, nicht loslassen, hörst du?“, antwortete Nick und schob ihn auf den Zug zu.

      Greg nickte bloß. Sein Gesicht war kreidebleich, die Knie schlotterten ihm, aber das konnte Nick in der Dunkelheit zum Glück nicht sehen, oder? „Danke, Nick.“, flüsterte er.

      Nick hob die Hand zum Gruß und zog sich eilig in die Schatten zurück.

      Greg kroch zwischen die Waggons und tastete sich an eine der Achsen heran. Wie beschrieben, fand er eine Lasche am Unterboden des Zuges und zog seinen Körper nach oben. Nach einigem Ruckeln hatte er eine einigermaßen annehmbare Position gefunden. Gerade, als er seine Füße in die Aufhängung klemmte, ertönte ein lautes Pfeifen vom Bahnsteig her. Seine Gedanken ratterten. Was, wenn die Bahnpolizei ihn beobachtet hatte? Ob sie gleich unter den Zug kriechen und ihn herauszerren würden? Was würde mit ihm passieren, wenn sie ihn hier unten erwischten? Sollte er lieber schnell wieder absteigen und versuchen, zu Fuß über das Bahnhofsgelände zu fliehen? Wenn er den Schienen folgte, würde er mit etwas Glück die City verlassen können und am Morgen auch schon ein gutes Stück zurückgelegt haben.

      Als er soeben zu der Überzeugung gelangt war, das es tatsächlich am besten war, die Flucht zu Fuß zu beginnen und schon seine Füße aus der Verankerung lösen wollte, spürte Greg, wie das Achslager unter ihm wackelte. Die Räder setzten sich in Bewegung und ganz langsam glitt er über das Kiesbett. Die Gasbeleuchtung des Bahnsteigs warf gespenstische Schatten unter den Zug, aber es konnte kein Zweifel daran bestehen – der Zug hatte sich in Bewegung gesetzt.

      VII

      Greg krallte sich verbissen an der Lasche fest. Schon seit einer gefühlten Ewigkeit waren ihm die Finger eingeschlafen. Sein Rücken schmerzte. Die Füße kribbelten, da das Blut nicht mehr richtig durch die Beine floss. Das schlimmste aber war die Müdigkeit. Diese bleierne Müdigkeit, gegen die er schon seit Stunden ankämpfen musste. Denken, bloß nicht aufhören nachzudenken, schärfte sich Greg immer wieder ein. Zum Glück erinnerten ihn die rhythmischen Schläge der Schienen in seinem Rücken ständig daran, dass er in lebensgefährlicher Lage auf dem Achslager eines Zugwaggons durch eine von der schwarzen Nacht verhüllte Landschaft schwebte, die er nicht kannte. Er hatte ja noch nicht einmal den Hauch einer Ahnung davon, wohin der Zug überhaupt fuhr.

      Dabei wusste er doch einiges über Züge, vor allem über Dieselzüge. Schließlich bauten sie in der Fabrik die Motoren, ohne die diese Züge sich nie vom Fleck rühren würden. Greg wusste, dass es eine große technische Meisterleistung gewesen war, Lokomotiven überhaupt mit einem dieselgetriebenen Antrieb auszustatten. Dazu mussten diesel-anbarische Systeme entwickelt werden, und darin war die Firma Jesua Fingrey Diesel führend. Bei diesem Gedanken spürte Greg einen Stich in der Brust. Er war immer stolz auf seine Arbeit gewesen, aber diese Arbeit gab es für ihn nicht mehr. Vielleicht gab es auch bald keine Firma Jesua Fingrey Diesel mehr? Dabei hatten sie noch so viel vorgehabt. Die Leistungsübertragung der Motoren wollten sie verbessern, damit die Züge endlich auch mehr als 80 Meilen in der Stunde zurücklegen konnten. Eine bessere Beleuchtung war nötig, um die Geschwindigkeit der Nachtzüge nicht dauerhaft auf 40 Meilen pro Stunde drosseln zu müssen. Von diesel-hydraulischen Systemen hatten sie geträumt. Überhaupt, so selten und teuer wie Diesel war, mussten dringend effizientere Motoren entwickelt werden. Aber lohnte es sich für Greg überhaupt noch, über so etwas nachzudenken?

      Ein leichter Graustich, der das undurchdringliche Schwarz auf dem Gleisbett durchbrach, lies Greg erahnen, dass die Morgendämmerung nicht mehr fern sein konnte. Der Junge drehte den Kopf so weit, wie es ihm seine unbequeme Lage erlaubte, aber es war ihm nicht möglich, etwas außerhalb des Achsenschachtes unter dem Zug zu erspähen. Angestrengt lauschte er in die Nacht hinein, aber außer dem Rattern der Räder, dem Brausen des Fahrtwinds und dem unermüdlichen Knarren der Waggons war hier unten nichts zu hören.

      Greg wollte sich gerade wieder etwas bequemer zurechtrucken, als ein neuer Ton seine Aufmerksamkeit weckte. Von weiter vorn drang ein metallisches Klappern an sein Ohr. Er drehte den Kopf in die entsprechende Richtung, konnte aber im Halbdunkel nichts erkennen. Eine Zeitlang konnte er wieder nur die ihn seit Stunden begleitenden Fahrtgeräusche des Zuges ausmachen, doch dann erklang das Klappern erneut, diesmal deutlich näher. Es klang, als wäre jemandem ein Werkzeug aus der Tasche gerutscht und auf die Schwellen des Gleisbetts gefallen. Aber wer sollte denn während der Fahrt am Zug herumschrauben? Das ergab keinen Sinn.

      Wieder ertönte das Scheppern. Greg sah einen Funken auffliegen, aber bevor er die Stelle genauer in den Blick nehmen konnte, war der Zug auch schon darüber hinweggerauscht. Greg konnte nichts sehen. Er spürte, wie sich eine große Unruhe zu seiner inneren Anspannung gesellte. Egal, was passierte, er durfte auf keinen Fall loslassen. Schon bald nach der Abfahrt hatte er verstanden, warum der Tramp ihm gerade diesen eigentlich doch so offensichtlichen Rat mit auf die Reise gegeben hatte. Es war gar nicht so einfach, stundenlang an das Festhalten zu denken. Aber das musste er. Noch einmal verstärkte Greg seinen Griff um die Lasche und prüfte den festen Sitz seiner Füße. In dem Augenblick, als er den Kopf wieder zurücklegte, drang ein furchtbar lauter Knall vom Gleisbett direkt neben ihm an seine Ohren. Erschrocken zuckte Greg zusammen und drehte den Kopf reflexartig in Richtung der Stelle, aus der das Geräusch gekommen war. Er spürte noch, wie ihn etwas Hartes am Kopf traf, dann wurde es schwarz vor seinen Augen.

      VIII

      „Rück doch mal ein Stück! Ich will auch was sehen!“

      „Pschschscht! Du weckst ihn noch auf, Nici!“

      „Na und? Ist doch gut.“

      Wie von Ferne drangen Stimmen an Gregs Ohr. Er versuchte, sich zu erinnern, wo er war, aber alles, worauf er sich konzentrieren konnte, waren die heftigen stechenden Schmerzen in seinem Kopf, seiner Schulter und seinem Rücken.

      „Sieh mal. Seine Lider flackern. Ich glaube, er kommt zu Bewusstsein.“, hörte er eine helle Stimme eines Mädchens aufgeregt rufen.

      „Leise, Nici!“, zischte sie eine zweite, etwas tiefere Mädchenstimme an.

      „Was