Zu viel riskiert. Irene Dorfner

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Название Zu viel riskiert
Автор произведения Irene Dorfner
Жанр Языкознание
Серия Leo Schwartz
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783750226494



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mitnahm, gab es nur noch einen Hinweis auf den Fall, den sie vor zwölf Wochen übernommen hatte und den sie gerade gründlich vermasselt hatte. Warum hatte sie ihm nicht einfach ins Bein oder in den Arm geschossen? Jetzt war es dafür zu spät. Ob sie es wagen konnte, die Mappe im Wagen zu hinterlassen? Sie musste es versuchen.

      „Mach keine Spielchen!“, sagte Wolfgang, der ahnte, was die Frau vorhatte. Anita nahm die Handtasche an sich, die ihr Wolfgang sofort abnahm. Er suchte nach dem Handy und nahm es an sich. „Was ist mit deinem Partner? Wieviel weiß er?“

      Anita wurde schlecht.

      „Nichts, das musst du mir glauben! Diskretion ist für mich sehr wichtig.“ Anita hoffte inständig, dass Wolfgang ihr glaubte. Er musste Hans in Ruhe lassen.

      „Gut, ich will dir das glauben, obwohl ich meine Zweifel habe. Komm mit!“

      „Aber…“

      Wolfgang Lastin packte Anita am Arm und zog sie einfach mit sich. Dann drehte er sich um und schoss auf Hans, der nicht mehr weit von Anitas Wagen entfernt war. Als Hans den Schuss hörte, nahm er Deckung hinter dem Lieferwagen, der in der Nähe stand. Hans spürte die Schmerzen nicht, als er sich auf den Boden fallen ließ. Es fielen mehrere Schüsse, dann war es ruhig. Hans rappelte sich auf, was unendlich viel Zeit kostete. Er konnte nur noch dem Wagen hinterhersehen, der mit hohem Tempo davonbrauste. Was war hier los? Noch im Schutz des Lieferwagens sah er einen weiteren Mann, der aus dem Haus rannte, das sie seit heute früh beobachtet hatten. Hans sah sich suchend um und wurde panisch. Wo war Anita? Erst jetzt realisierte er, dass der zweite Mann ebenfalls auf ihn schoss. Hans verschanzte sich erneut hinter dem Lieferwagen. Er verstand, dass der Mann von vorhin seine Frau einfach mitgenommen hatte. Während Anita entführt wurde, wurde weiter auf ihn geschossen. Was war das für eine Scheiße?

      Martin Mitterhuber starrte in den blinden Spiegel der alten Toilette, die tatsächlich noch einen Wasserkasten mit Kettenzug hatte. Er war stinksauer. Sein Geschäftspartner Wolfgang Lastin hatte ihn in dieses Kaff gelotst, wo sie die Details für die weiteren Geschäfte besprechen wollten. Der Chef hatte eindringlich gebeten, Lastin umzustimmen und zu überzeugen, mehr Kobalt zu liefern. Dass das seine letzte Chance war, wusste Lastin nicht. Mitterhuber wusste längst, dass Lastin ein Blender war, der seit Monaten nur leere Versprechungen machte und ihn hinhielt. Der Mann konnte die Liefermengen nicht erhöhen, selbst wenn er wollte. Mitterhuber war enttäuscht, denn er selbst hatte den Mann aufgebaut und ihn geschickt manipuliert. Als Lastin ihn kennengelernt hatte, wusste der noch nicht einmal, wie man Kobalt schrieb und welche Möglichkeiten sich damit auftaten. Lastin funktionierte nicht mehr so, wie er es von ihm forderte. Mitterhuber war enttäuscht. Er musste telefonieren und diese Information an den Chef weitergeben. Aber noch wollte er Lastins Antwort abwarten, diese Chance wollte er ihm zugestehen. Aber wo war das Arschloch? Mitterhuber war von Anfang an nicht begeistert gewesen, sich in Gars zu treffen. Was sollte das? Warum konnten sie sich nicht in München treffen, das weiß Gott sehr viel anonymer wäre als dieses gottverlassene Kaff! Lastin hatte darauf bestanden. Er war der Meinung, dass in München zu viele Menschen waren, die sie hätten beobachten können. Außerdem war er davon überzeugt, dass sie verfolgt wurden. Lastin sprach von einer Frau, die ihm seit Wochen auf den Fersen war. Lächerlich! Vermutlich war diese Frau eine seiner Verflossenen, die ihm gefolgt war. Trotzdem musste Mitterhuber zugeben, dass Lastin vielleicht nicht ganz so falsch mit seiner Vermutung lag. Wie sonst sollte er sich den Schusswechsel und das Verschwinden seines Geschäftspartners erklären sollen? Als Lastin nicht zurückkam und er Schüsse hörte, war er sofort nach draußen gerannt. Er hatte auf alles geschossen, was sich bewegte und war dann abgehauen. Wo war Lastin? Warum war er nicht zurückgekommen? Was war passiert? Wieder und wieder versuchte er, den Trottel zu erreichen, was ihm nicht gelang. Was sollte der Mist?

      „Es gab eine Schießerei, Lastin ist abgehauen“, sagte er, als er endlich den Chef erreicht hatte.

      Rolf Felbinger hatte der Anruf mitten in einer Sitzung erreicht. Mitterhuber rief nur an, wenn es dringend war, weshalb er sich bei seinen Gesprächspartnern entschuldigte und vor die Tür ging, um in Ruhe telefonieren zu können.

      „Eine Schießerei? Was ist passiert?“

      „Das weiß ich nicht!“

      „Bleib ganz ruhig, Martin, dafür gibt es sicher eine Erklärung. Kann Lastin die Kobalt-Lieferungen erhöhen?“

      „Er hat mir noch nicht final geantwortet. Aber ich bezweifle, dass er das kann.“

      „Geben wir ihm die die Möglichkeit einer Antwort. Sobald du mit ihm gesprochen hast, meldest du dich wieder, einverstanden?“

      „Mache ich.“

      Hans lag immer noch hinter dem Lieferwagen und verstand nicht, was hier eigentlich los war. Zum Glück wurde die Polizei gerufen. Als die Sirenen zu hören waren, verschwand der Schütze. Hans atmete erst auf, als er quietschende Reifen hörte. Wenige Augenblicke später starrte er auf die Uniform des Polizisten.

      „Gott sei Dank ist Ihnen nichts passiert“, sagte der und reichte Hans die Hand. „Das ist gerade nochmal gut gegangen.“

      „Nichts ist gut!“, schrie Hans. „Einer der Männer hat meine Frau mitgenommen! Suchen Sie nach ihr!“

      6.

      „Halt endlich den Mund!“, schrie Wolfgang, der sich kaum konzentrieren konnte. Anitas Handy hatte er noch in Gars einfach aus dem Fenster geworfen. Er versuchte, den Wagen so ruhig wie möglich durch den Verkehr zu lenken. Mehrere Polizeifahrzeuge kamen mit Blaulicht und Sirene entgegen. Dass die wegen ihm gerufen wurden, konnte er sich denken. Die Schüsse, die er auf Anitas Begleiter abgegeben hatte, waren zu laut gewesen. Er fluchte und schrie nun, was Anita erschreckte, denn Wolfgangs Stimme klang angsteinflößend. Also blieb sie lieber still. Sie war immer noch erschrocken darüber, als Wolfgang plötzlich vor ihr stand. Ja, sie hatte geahnt, mit wem sie es zu tun hatte, wollte es aber nicht wahrhaben. Noch dachte sie an einen Zufall. Als sie Wolfgang aber dann in die Augen sah, versetzte es ihr einen Schlag. Wie war er in diese Sache reingeraten? War er der Drahtzieher oder nur ein Mitläufer? Sie hatte jetzt keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen. Jetzt galt es, bei der nächstbesten Gelegenheit zu fliehen und sich in Sicherheit zu bringen. Wie es Hans ging? Sie hatte gesehen, dass er sich hinter einem Lieferwagen verschanzt hatte, wusste aber nicht, ob er unverletzt war. Die vielen Polizeifahrzeuge waren sicher auf dem Weg nach Gars – und somit auch zu Hans. Um ihn würde man sich kümmern. Sie betete, dass es ihm gut ginge. Sie starrte auf ihre gefesselten Hände, die Wolfgang mit einem Kabelbinder fixiert hatte. Sie war erschrocken gewesen, als sie mit ansehen musste, dass Wolfgang wie selbstverständlich Kabelbinder im Handschuhfach seines Wagens hatte. Mit gefesselten Händen war sie eingeschränkt, aber sie hatte noch ihre Beine. Sie könnte fliehen - aber wie?

      Wolfgang Lastin konnte spüren, was in Anitas Kopf vorging. Nachdem er Dampf abgelassen hatte, musste er jetzt schmunzeln, dass die Frau tatsächlich glaubte, fliehen zu können. Sie hatte sich überhaupt nicht verändert. Sie war zwar älter geworden, war aber immer noch sehr hübsch und hatte immer noch den gleichen Dickschädel wie früher. Wie stolz sie ihren Kopf hielt und bemüht war, sich ihre Angst nicht anmerken zu lassen, beeindruckte ihn und erinnerte ihn an die gemeinsame Mutter. Wolfgang war jünger als Anita, beide hatten andere Väter. Während Anitas Vater sehr früh verstarb, lebte sein Vater heute immer noch und er pflegte regelmäßigen Kontakt zu ihm.

      „Wie geht es unserer Mutter?“

      „Sie ist tot.“

      Wolfgang war erschrocken, das wusste er nicht.

      „Wann ist sie gestorben?“

      „Vor über fünf Jahren. Was interessiert dich das?“

      „Sie war meine Mutter.“

      „Das fällt dir aber sehr früh ein! Warum hast du sie nicht ein einziges Mal besucht? Sie hat dir regelmäßig geschrieben, aber nie eine Antwort erhalten.“

      „Ich hatte immer viel zu tun. Willst du nicht wissen, wie es Papa geht?“

      Schon