Zu viel riskiert. Irene Dorfner

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Название Zu viel riskiert
Автор произведения Irene Dorfner
Жанр Языкознание
Серия Leo Schwartz
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783750226494



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verbracht, aber der Urlaub war wegen seiner Gehirnerschütterung ins Wasser gefallen. Er war schon lange wieder vollständig genesen, aber der Chef konnte ihm keinen weiteren Urlaub genehmigen, die anderen waren schließlich auch mal dran. Leo gönnte Diana den Urlaub, trotzdem könnte er auf die fröhlichen Urlaubsnachrichten gerne verzichten. Stöhnend lehnte er sich zurück und sah Graumaier an, der als Springer in Mühldorf eingesetzt worden war und an den er sich nur sehr langsam gewöhnte. Sobald Leo mit ihm zurechtkam, leistete er sich wieder einen Fauxpas, der das Verhältnis zwischen ihnen wieder anspannte. Und das lag nur an Tonis Verhalten Frauen gegenüber. Es gab innerhalb der Mühldorfer Polizei nicht eine Kollegin, an die sich der Neue noch nicht rangemacht hatte. Konnte der seine Hormone nicht in den Griff bekommen?

      „Was ist mit dir?“, fragte Tatjana, die sich um Leo sorgte, denn der wurde von Tag zu Tag unleidlicher. „Fehlt dir Hans?“

      „Irgendwie schon. Wie lange ist er noch krankgeschrieben?“

      „Noch mindestens drei weitere Wochen.“

      Wieder stöhnte Leo. Hans hatte sich während des Skiurlaubs vor Weihnachten ein Bein gebrochen, das einfach nicht heilen wollte. Lief denn dieses Jahr alles schief? Wenn er schon diese Arbeit machen musste, warum dann nicht wenigstens mit Hans, mit dem er auch befreundet war?

      Tatjana Struck schüttelte den Kopf. Je länger Hans weg war, desto unerträglicher wurde Leo. Die beiden waren wie Pech und Schwefel.

      „Hans kommt ja wieder, bis dahin reiß dich gefälligst zusammen und jammre hier nicht rum“, sagte sie und arbeitete weiter.

      „Wer bist du? Meine Mutter?“ Leo hätte gerne einen Streit angefangen, sogar mit Tatjana. Warum nicht? Sie war nicht dumm und ließ sich nichts gefallen. Eine Auseinandersetzung mit ihr war allemal besser als diese blödsinnige Arbeit!

      Aber dazu kam es nicht, denn das Telefon klingelte und Tatjana ging ran. Sie ahnte, was der missgelaunte Leo vorhatte und wollte nicht darauf eingehen. Leo wartete ab, bis Tatjana aufgelegt hatte. Er legte sich Argumente zurecht, die er gedachte, nach dem Telefongespräch anzubringen.

      „Einsatz, Leute! Schießerei in Gars.“

      „Wo?“ Leo hatte von diesem Ort noch nie gehört.

      „Gars am Inn“, sagte Tatjana, als sie schon an der Tür war. „Nahe Waldkraiburg“, setzte sie nach. War sie eigentlich Leos Kindermädchen?

      „Du kennst den Ort nicht?“, wunderte sich Toni Graumaier. „Gars müsstest du eigentlich kennen, du lebst doch schon lange genug in dieser Gegend.“ Toni lebte zwar selbst in Landshut, war aber gebürtiger Neuöttinger und hatte bis zu seinem siebzehnten Lebensjahr auch dort gelebt. Eine seiner damaligen Freundinnen kam aus Gars, auch deshalb kannte er den Ort ziemlich gut.

      Leo kam sich dumm vor und folgte den Kollegen. Auf dem Flur kam ihnen der Chef entgegen.

      „Herr Krohmer? Wie kann ich helfen?“, fragte Tatjana.

      „Ich habe von der Schießerei gehört und werde Sie unterstützen. Wegen des Urlaubs von Frau Nußbaumer sind Sie unterbesetzt, was ich nicht gutheißen kann. Wen darf ich begleiten?“

      „Ich fahre mit Leo“, sagte Toni Graumaier schnell und Leo nickte. Auch wenn er Toni nicht wirklich mochte, wäre die Vorstellung, mit dem Chef arbeiten zu müssen, noch sehr viel schlimmer. Er mochte und schätzte Krohmer, aber mit ihm zu arbeiten war echt kein Vergnügen.

      Krohmer war es egal, mit wem er zusammenarbeitete und sah Tatjana an. Ihr wäre Leo oder Toni sehr viel lieber gewesen, aber jetzt war es zu spät.

      „Fahren wir“, sagte sie. „Ich muss nur noch Fuchs Bescheid geben.“

      „Das habe ich bereits erledigt“, sagte Krohmer und kontrollierte seine Waffe, auch wenn er nicht gedachte, sie einzusetzen. „Die Spurensicherung ist bereits unterwegs.“

      Die knappe halbe Stunde Fahrt von Mühldorf nach Gars verging für Leo und Toni wie im Flug. Sie hörten laute Musik, was beiden angenehm war. Tatjana war genervt. Krohmer mäkelte an ihrem Fahrstil herum und sprach ohne Punkt und Komma über die Schießerei, auch wenn er keine Ahnung davon hatte, was sie wirklich erwartete. Klar war nur, dass es auf dem Marktplatz der viertausend Seelen-Gemeinde Gars eine Schießerei gab. Wie viele Personen beteiligt waren und ob es Opfer gab, stand noch in den Sternen. Streifenpolizisten waren bereits vor Ort und alle Kriminalbeamten hofften, dass die die Lage im Griff hatten, weshalb eine Fahrt mit Blaulicht nicht erforderlich war.

      Wenn die Kriminalbeamten gewusst hätten, dass einer ihrer Kollegen involviert war, wären sie vielleicht sehr viel schneller am Tatort eingetroffen.

      5.

      Hans war starr vor Schreck und ließ Kaffee und Schokoladenherz fallen. Instinktiv griff er sich an die rechte Seite seines Hosenbundes, wo sonst seine Waffe war. Aber da war nichts. Er war krankgeschrieben und seine Waffe lag sicher verwahrt zuhause. Was für ein Mist! Er humpelte auf seinen Krücken näher und versuchte, die Aufmerksamkeit des Mannes auf sich zu lenken, damit sich Anita in Sicherheit bringen konnte. Er war nahe genug an Anitas Wagen und registrierte, dass sie ihre Waffe fest umklammert hielt, sie aber nicht benutzte.

      „Schieß doch!“, schrie er laut wieder und wieder, aber sie starrte nur auf den Mann vor ihr, der Schritt für Schritt näher kam. Warum schoss sie nicht? Und warum schoss er nicht?

      Der Fremde hatte Anitas Wagen erreicht und öffnete die Fahrertür. Er zog Anita aus dem Wagen. Hans konnte nichts dagegen machen. Er humpelte näher, schrie und versuchte, bis zu Anita durchzudringen oder wenigstens den Mann abzulenken, aber beide reagierten nicht. Hans war völlig überfordert. Was war hier los? Anita unternahm nichts, sie starrte den Mann nur an – er sie aber auch.

      Jetzt sprach der Mann mit Anita, wobei er die Waffe senkte und sie nicht mehr auf sie richtete. Auch Anita hatte ihre Waffe gesenkt. Was sollte das? Hans war noch zu weit weg und verstand kein Wort von dem, was die beiden miteinander sprachen.

      „Wolfgang? Bist du das?“ Anita Seidl hatte geahnt, mit wem sie es zu tun hatte, wollte es aber nicht wahrhaben.

      „Anita? Das kann doch nicht wahr sein! Was machst du hier?“

      „Meinen Job.“

      „Du bist die Frau, die mir auf den Fersen ist und mir das Leben schwer macht?“

      „Du bist derjenige, der diese widerlichen, menschenverachtenden Geschäfte macht?“

      Wolfgang Lastin war erschrocken. Er hätte nie im Leben damit gerechnet, auf Anita zu treffen. Er wollte die lästige Frau, die ihn seit vielen Wochen beschattete und ihn damit echt nervte, ein für alle Mal endlich los werden. Er hatte dafür gesorgt, dass sie einen Skiunfall hatte, aber es hatte den Falschen getroffen. Wie konnte er denn wissen, dass die beiden dasselbe Outfit trugen? Wie hoch war die Wahrscheinlichkeit, dass ein älteres Pärchen dieselben Skianzüge und Skistiefel trugen? Sogar Mütze, Ski und Skibrille waren gleich. Wie albern und infantil war das denn? Als er seinen Fehler bemerkte, war es zu spät. Trotzdem hatte er die Hoffnung, dass die Frau ihn endlich in Ruhe ließ. Ja, er wusste, dass die Frau Anita Seidl hieß und in München lebte. Aber dass es sich dabei um seine Anita handelte, hätte er nie für möglich gehalten. Wolfgang Lastin zögerte. Noch vor wenigen Augenblicken war er gewillt gewesen, sie einfach zu erschießen, da er mit den Nerven am Ende war. Diese Frau, die seit Wochen überall auftauchte, war die Pest. Seine Geschäfte durften von nichts und niemandem gestört werden oder in Gefahr geraten, einen Schatten konnte er nicht brauchen. Diese Frau konnte er nicht töten. Anita! Wie lange hatten sie sich nicht gesehen? Das war jetzt nicht wichtig. Was sollte er jetzt tun? Jeden Moment würde Mitterhuber auftauchen und der hätte sicher kein Problem damit, Anita einfach zu erschießen. Lastin nahm ihr unsanft die Waffe weg.

      „Hübsches Spielzeug“, sagte er und steckte die Waffe ein. Dann sah er sich um. Die Zeit drängte. „Nimm deine Tasche!“

      „Warum?“

      „Weil dort sicher Unterlagen über mich drin sind. Mach,