Zu viel riskiert. Irene Dorfner

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Название Zu viel riskiert
Автор произведения Irene Dorfner
Жанр Языкознание
Серия Leo Schwartz
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783750226494



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es machte insgesamt einen sehr heruntergekommenen Eindruck. Was sollte das? Warum trafen sie sich in Gars, das von München eine gute Autostunde entfernt war? Das galt es herauszufinden, was sie fest vorhatte. Sie beobachtete das Haus mit Argusaugen, denn ihre Jobs erledigte sie immer sehr gewissenhaft. Heute galt es wie so oft, einfach abzuwarten. Ihr machte das nichts aus, schließlich gehörte auch diese Arbeit zu ihrem Job - aber Hans langweilte sich. Außerdem fühlte er sich nicht gut, sein Magen rebellierte. Vermutlich hatte er etwas Schlechtes gegessen oder einfach zu viel von allem, was leicht sein konnte, denn seit er einen Gips hatte und sich selbst bemitleidete, futterte er alles in sich hinein, was er kriegen konnte.

      „Dir ist klar, dass wir hier in diesem Kaff seit über drei Stunden stehen?“, maulte Hans zurück. „Denkst du, dass das für mich bequem ist? Langsam weiß ich nicht mehr, wie ich mein Bein lagern soll! Was machen wir hier eigentlich?“

      „Du weißt, dass ich nicht über meine Aufträge spreche. Diskretion...“

      „Jaja, ich weiß. Ist es das überhaupt wert? Wirst du für diesen langweiligen Job wenigstens gut bezahlt?“

      Anita stöhnte. Ja, sie verstand ihren Mann. Er langweilte sich und hatte keine Ahnung von dem Fall – und das sollte auch so bleiben. Hans forderte eine Rundumpflege, die sie ihm nicht geben konnte und auch nicht wollte. Er war nicht bettlägerig, sondern hatte lediglich ein gebrochenes Bein, mit dem er sich eigentlich sehr gut selbst versorgen könnte. Anstatt sie zu unterstützen, jammerte er nur herum und beschwerte sich, wo er nur konnte. Sie verlor mehr und mehr die Geduld mit ihm. Sie hatte schließlich einen Job, dem sie nachgehen musste. Verstand Hans das nicht? Er war schließlich Kriminalbeamter und damit waren ihm lange Observierungen nicht fremd. Warum war er nicht einfach still, stärkte ihr den Rücken und ließ sie in Ruhe arbeiten? Ja, sie hätte den Fall auch abgeben können, aber das kam für sie nicht in Frage. Vor allem dieser Fall hatte es ihr angetan, denn der Name des Mannes, hinter dem sie her war, war ihr nicht unbekannt. Ob sie Hans dieses Detail anvertrauen sollte? Nein, das war nicht ihr Stil. Verschwiegenheit stand bei ihr ganz oben auf der Liste und darauf konnten sich ihre Klienten verlassen. Mühldorf und Altötting waren nicht weit von hier entfernt. Ob sie Hans nicht einfach bei seiner Tante Gerda abliefern sollte? Die alte Dame hätte vielleicht Geduld und Muße, sich um einen kranken Mann zu kümmern. Anita verwarf diesen Gedanken rasch. Nein, das konnte sie der lieben Gerda nicht antun, Hans würde ihr das Leben zur Hölle machen.

      „Ruf dir ein Taxi und fahr nach Hause, das habe ich dir schon mehrfach geraten. In einer Stunde würdest du auf der Couch liegen und könntest dir einen Film nach dem anderen ansehen. Oder lies ein Buch, lesen hat noch nie geschadet.“

      „Du willst mich doch nur abschieben“, maulte Hans, der bereits viele Filme gesehen und noch mehr Bücher gelesen hatte. Er hatte keine Lust mehr, krank und gebrechlich unnütz auf der Couch zu verbringen, während draußen das Leben ohne ihn weiterging.

      „Du könntest dich auch auf die Rückbank legen, aber auch das ist dem gnädigen Herrn vermutlich nicht zumutbar. Als Hauptkommissar hätte ich dir echt mehr Sitzfleisch zugetraut.“

      Hans dachte nicht daran, sich ein Taxi zu rufen. Was sollte er zuhause in München, das eigentlich nicht seines war? Er selbst lebte auch nach der Hochzeit mit Anita in Mühldorf am Inn, denn er arbeitete bei der dortigen Kriminalpolizei. Anita lebte und arbeitete in München. Sie führten eine Wochenendehe, was bisher für beide kein Problem gewesen war. Aber er war seit Wochen in München, da er mit dieser vorübergehenden Behinderung nicht alleinbleiben konnte. War es nicht Anita, die darauf bestanden hatte, dass er zu ihr nach München käme, damit sie sich besser um ihn kümmern konnte? Er war sauer, denn von einer Pflege war nicht viel zu spüren. Stattdessen überhäufte ihn seine Frau mit Gegenständen, die ihm das Leben erleichtern sollten. Erst gestern hatte sie ihm eine Greifzange an einer langen Teleskopstange gegeben, damit er Gegenstände leichter vom Boden aufheben konnte. War er ein alter Mann? Konnte sie das nicht für ihn übernehmen? Hans hatte sich das alles ganz anders vorgestellt. Mühsam quälte er sich aus dem Wagen.

      „Was hast du vor?“

      „Ich muss zur Toilette.“

      „Dort hinten ist ein Café, die haben sicher eine Toilette. Es wäre super, wenn du Kaffee mitbringen könntest.“

      Hans nahm die Krücken von der Rückbank und humpelte davon. Er war echt sauer. Seine Frau zu begleiten war eine Schnapsidee gewesen.

      Anita sah ihrem Mann hinterher. Er gab ein jämmerliches Bild ab, was aber auch amüsant war. Sie wusste, dass es Hans mit der Gebrechlichkeit übertrieb, denn eigentlich ging es ihm nicht wirklich schlecht. Sie musste lächeln, da sein Versuch, ihr mit seinem theatralischen Gang ein schlechtes Gewissen zu bereiten, völlig in die Hosen ging. Sie lehnte sich entspannt zurück. Jetzt hatte sie wenigstens ein paar Minuten ihre Ruhe.

      Hans bestellte bei der freundlichen Verkäuferin zwei Kaffee zum Mitnehmen und griff nach einer kleinen Flasche Jägermeister, die er in einem Zug austrank. Eine weitere stellte er auf den Tresen. Vielleicht brachte das seinen Magen wieder auf Vordermann. Er hatte ein schlechtes Gewissen Anita gegenüber, die ihm nur einen Gefallen tun wollte und ihn nur auf sein Drängen hin mitgenommen hatte. Er war undankbar gewesen und hatte seine Wut an ihr ausgelassen. Er kaufte eines der köstlich aussehenden Schokoladenherzen und wollte sich damit bei seiner Frau entschuldigen. Vor der Tür des Cafés trank er auch den zweiten Jägermeister und warf die Flasche in den Müll. Langsam fühlte er sich besser. Auf die guten, alten Hausmittel war eben immer Verlass. Was schlug ihm nur so sehr auf den Magen? Als er zum Wagen ging, dachte er darüber nach, ob er vielleicht nicht doch viel besser in Mühldorf oder sogar bei seiner Tante Gerda aufgehoben wäre. Dann blieb er erschrocken stehen. Hans musste mit ansehen, wie ein Mann aus dem Haus stürmte, das sie zu überwachen hatten.

      „Das ist er!“, murmelte Anita ruhig und setzte sich auf. Wo war Hans? Sie sah ihn aus dem Augenwinkel und hoffte, dass er sich beeilen würden. Dann war sie starr vor Schreck und starrte den Mann an, der direkt auf sie zuging und dabei seine Waffe auf sie richtete.

      Hans musste erschrocken fassungslos mit ansehen, wie der Mann mit einer Waffe in der Hand plötzlich stehenblieb und Anita anstarrte. Was war da los?

      4.

      Leo Schwartz hatte schlechte Laune. Seine Verlobte Sabine Kofler war in England und arbeitete an einem Artikel über die Auswirkungen des Brexits, der inzwischen zwar abgeschlossen, aber immer noch fast täglich in den Medien präsent war. Das Thema ging ihm langsam echt auf die Nerven. Gestern Abend zappte er durch die Programme. Entweder gab es Berichte über diesen Brexit, Harry und Meghan, oder irgendwelche Proll-Sendungen. Was war an diesem Brexit, der doch jetzt endlich durch war, so wahnsinnig wichtig? Leo verstand nicht viel von Politik und sah viele Themen sehr einfach. Die Briten wollten nicht mehr Teil der EU sein und hatten abgestimmt. Jetzt waren sie raus und zwar mit allen Konsequenzen. Was gab es denn da noch lange zu diskutieren? Sollten es sich die Briten irgendwann wieder anders überlegen, könnten sie ja wieder in die EU eintreten. Wo war das Problem? Dasselbe galt dem Paar Harry und Meghan, über die er auch nichts mehr sehen oder lesen wollte. Wenn die beiden keine Lust mehr auf das Königshaus und den damit verbundenen Pflichten hatten – dann Bitteschön! Es wird seine Gründe haben, warum sie England den Rücken gekehrt haben. Das war deren Entscheidung und ging niemanden etwas an. Konnte man die kleine Familie nicht einfach in Ruhe lassen? Gab es nicht wichtigere Nachrichten? Der gebürtige Schwabe eckte bei manchen Diskussionen mit seinen Ansichten an, was ihm herzlich egal war. Das war nun mal seine Meinung, an der es seiner Ansicht nach nichts zu kritisieren gab.

      Die Arbeit als Hauptkommissar bei der Mordkommission im bayerischen Mühldorf am Inn war momentan sehr stumpfsinnig. Da der letzte Mordfall abgehakt war und auch die Silvesterfeierlichkeiten im Gegensatz zum Vorjahr alle glimpflich abgelaufen waren, kam der Chef wieder mit seinen alten Fällen ums Eck, worüber niemand glücklich war. Akten wälzen gehörte weder für Leo noch für die Kollegen zur Lieblingsbeschäftigung. Es blieben ihm, Tatjana Struck und Anton Graumaier nichts anders übrig, als dieser Arbeit nachzugehen. Diana Nußbaumer sonnte sich in Thailand, wo sie seit einer Woche ihren Urlaub verbrachte. Zwei Wochen hatte ihr der Chef genehmigt und