Zirkus Zauberhaft. Claudia Gürtler

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Название Zirkus Zauberhaft
Автор произведения Claudia Gürtler
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783742755841



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Geburtstag aber konnte er es plötzlich nicht mehr. Schwer drückte ihn das eigene Gewicht zu Boden. Er starrte auf seine Fussabdrücke und erschrak. Sie waren tiefer geworden. So war das also: Er wurde trauriger und schwerer, und seine Fussabdrücke wurden tiefer mit jedem Tag.

      Gregor und der Oktoberschnee

      Im Jahr, in dem Gregor sechzehn werden sollte, schneite es nicht erst Anfang November, sondern schon Mitte Oktober. Gregor rutschte in Pantoffeln die Auffahrt hinunter, um die Post zu holen, die Post für seine Eltern. Er hatte noch nie Post bekommen, aber er konnte nicht aufhören, darauf zu hoffen und zu warten. Und endlich war es so weit: Gregor zog einen sonnenblumenfarbenen Umschlag aus dem Kasten, auf dem sein Name stand. Das Herz klopfte ihm bis zum Hals, denn er kannte die Schrift.

      „Es ist einfacher, durchs Leben zu hüpfen als durchs Leben zu kriechen“, flüsterte er, während er den Umschlag öffnete, der nur an einer Stelle nachlässig zugeklebt war.

      „Es ist einfacher, mit dem Zirkus zu ziehen als an einem Ort zu bleiben, den man hasst“, las Gregor in der steilen Schrift seines Grossvaters.

      „Ich weiss es, Nonno Louis“, sagte Gregor leise, „ja, ich weiss es, selbst im Schneetreiben ist es einfacher, mit dem Zirkus zu ziehen, als im viel zu warmen Zimmer zu sitzen und darauf zu warten, dass die Zeit vergeht.“

      Er steckte den Umschlag in die Hosentasche, ohne ihn zu falten.

      Am selben Abend machte Frau Schröder Ordnung im Kleiderschrank ihres Sohnes. Dabei stiess sie auf Gregors sorgsam gehütete Schätze, den Turner, den Trompeter, das rotweisse Zirkuszelt, die doppelt geknotete Riesenschlange, den Zauberzylinder, den Trampolinspringer und das nachtschwarze Pferd. Sie fegte die Geschenke von Nonno Louis in ihre Schürze. Gregor sah ihr voller Verzweiflung zu. Er würde die Kostbarkeiten wohl nie wiedersehen, aber wenigstens steckte das Kästchen mit den dreiundzwanzig und einem halben Würfel sicher unter seiner Matratze.

      Der Junge ging früh zu Bett. Den sonnenblumengelben Umschlag mit der Botschaft seines Grossvaters legte er unters Kopfkissen. Er schlief sofort ein und träumte:

      Im Zimmer seiner Eltern kratzten die Zirkusfiguren an der Tür des Kleiderschranks. Sie klopften und forderten ihre Freiheit. Niemand hörte sie, bis der Trompeter plötzlich einen Marsch blies, die Schlange laut und drohend zischte, die Kaninchen den Zylinder verliessen und wilde Haken schlugen. Auch der Turner schlug Purzelbäume und der Trampolinspringer sprang von Kleiderbügel zu Kleiderbügel, während das Pferd durchdringend wieherte. Als Herr Schröder die Schranktür öffnete, marschieren sie hinaus, hinaus aus dem Zimmer und die Treppe hinunter. Wie ein geheimnisvoller Spuk verschwanden sie in der Nacht. Gregor erwachte.

      Gab es einen Grund, glücklich zu sein? Er hätte keinen nennen können, aber tief in seinem Inneren fühlte er sich glücklich. Und er war sich fast sicher, dass er den Turner, den Trompeter, das Zelt, die Schlange, die Kaninchen, den Trampolinspringer und das Pferd irgendwann wiedersehen würde!

      Ein Geschenk zum sechzehnten Geburtstag

      Es schneite in grossen Flocken. Gregor sprang aus dem Bett. Er war sechzehn, endlich sechzehn! Er öffnete das Fenster, aber da lag kein Geschenk auf dem Fenstersims. Gregor spähte in den dunklen Garten hinunter. War das Geschenk hinuntergefallen?

      Weiss und ohne Spuren bedeckte der Schnee den Rasen. Gregors Pyjama bekam einen nassen Fleck. Er schlüpfte in die Kleider, zog den sonnenblumengelben Brief unter dem Kopfkissen hervor und steckte ihn zurück in die Hosentasche. Wenn er die Hand auf die Tasche legte, knisterte das Papier leise. Wenigstens der Brief und das Kästchen waren ihm geblieben. Das war nicht viel, aber mehr als nichts.

      In der Küche war bereits fürs Frühstück gedeckt. Gregor schlitterte die Auffahrt hinunter und öffnete den Briefkasten. Inzwischen war er überzeugt, dass die geheimnisvollen und wunderbaren Fenstersimsgeschenke von seinem Grossvater waren. Vielleicht dachte der Grossvater ja, Gregor sei nun zu alt für Spielzeug und es sei angebrachter, ihm zum Geburtstag zu schreiben.

      Einen Brief fand er nicht, aber seine tastenden Hände stiessen auf eine Figur, die er im Dämmerdunkel des Briefkastens beinahe übersehen hätte. Er stiess einen erstaunten Pfiff aus, und sogleich erhob sich der dunkelbraune Bär auf die Hintertatzen und begann zu tanzen. Er hielt inne, als der Pfiff verklang, tanzte aber von neuem, als Gregor eine kurze Melodie pfiff. Gregor steckte den Bären ganz unten in die Hosentasche. So unvorsichtig würde er nie wieder sein, dass er sich von seinen Schätzen trennte, und sei es auch nur für einen Augenblick.

      Die Eltern sassen am Tisch, als Gregor auf nassen Pantoffeln hereinschlurfte.

      „Wo warst du?“, fragte Frau Schröder.

      „Ich habe Geburtstag“, sagte Gregor, „und ich hoffte, jemand habe mir geschrieben.“

      „Wer sollte dir schon schreiben?“. Gregor hörte Verachtung aus der Bemerkung seines Vaters heraus.

      „Ich hoffte auf eine Geburtstagskarte von Nonno Louis.“

      „Und?“, fragte Herr Schröder.

      „Nichts“, log Gregor.

      „Auf dem seine Briefe warten wir ja alle“, bemerkte Gregors Mutter bissig.

      Der Vater räusperte sich, als wolle er einlenken.

      „Heute darf man dir zum sechzehnten Geburtstag und damit zum Erreichen eines vernünftigen Alters gratulieren.“

      „Ich wollte, er würde mich besuchen“, wünschte sich Gregor.

      „Wer?“, fragte seine Mutter, die schon wieder vergessen hatte, worüber sie sich unterhalten hatten.

      „Er zieht mit einem Kleinzirkus durchs Land“, murmelte Gregor.

      „...und das in seinem Alter“, empörte sich sein Vater.

      „Er ist ein schwarzes Schaf. Er passt nicht ins Familienbild!“, sagte seine Mutter scharf. Gregor senkte den Kopf tief über den Teller und schwieg.

      „Es ist einfacher, mit dem Zirkus zu ziehen als an einem Ort zu bleiben, den man hasst“, dachte er. Auf seinem Gesicht lag ein Lächeln.

      Gregor unter dem Apfelbaum

      „Es sieht ganz so aus, als könne ein über alles geliebter, verwöhnter Sohn sein Geburtstagsfest nicht geniessen“, bemerkte Herr Schröder sarkastisch. „Hat er nicht alles, was man sich wünschen kann, ein sicheres Elternhaus, treusorgende Eltern, die Aussicht auf eine gute Ausbildung und einen noch besseren Beruf? Nun ja, vielleicht langweilt er sich manchmal ein bisschen an seinem Schreibtisch, in der Bibliothek, im nach botanischen Grundsätzen angelegten Garten. Vielleicht sieht er manchmal nicht ein, dass er weder Geschwister noch lärmende Spielkameraden braucht, vielleicht weiss er nicht, dass sie ihn nur von Wesentlichem abhalten würden.“

      „Es muss nicht gespielt werden“, warf Frau Schröder ein. „Spielen ist Zeitverschwendung. Spielen ist unnötig.“

      „Danke, meine Liebe“, sagte Herr Schröder. Er belohnte seine Frau mit dem Anflug eines Lächelns.

      „Ein Leben in Sicherheit und Luxus, das konzentriertes Lernen und Arbeiten möglich macht, wiegt alles andere auf“, behauptete Herr Schröder.

      Wut begann in Gregor zu brodeln.

      „Es wiegt nichts auf, gar nichts“, bemerkte der Junge düster.

      „Du vergisst dich, mein Sohn“, empörte sich seine Mutter.

      „Ich möchte, dass du den Morgen in der Bibliothek verbringst und darüber nachdenkst, was du gerade gesagt hast“, verlangte sein Vater.

      „Was ist mit Träumen, Träumen, wie sie mein Grossvater träumt?“, fragte Gregor mutig.

      „Lass das Träumen und denk über Pläne für deine Zukunft nach“, verlangte der