Название | Sichelland |
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Автор произведения | Christine Boy |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783844236200 |
Beinahe zwei Stunden waren nun seit ihrem Aufbruch vergangen und Lennys hatte seitdem kein Wort mehr an die Novizin gerichtet. Sie war ein wenig überrascht, dass Sara so gut mit ihr Schritt hielt, allerdings hatte die Strecke auch noch keine großen Anforderungen an sie gestellt. Das würde sich nun ändern. Sie blieb stehen und zog die Karte hervor.
„Wir werden uns von jetzt an weiter nördlich halten. Bislang sind wir recht gut vorangekommen, aber wenn du das Gefühl hast, dass es dich doch angestrengt hat, kehrst du besser um.“
Sara schüttelte den Kopf. „Es geht mir gut.“
Lennys zuckte die Achseln. „Na schön, wenn du meinst. Ich werde keine Rücksicht auf dich nehmen, wenn du schlappmachen solltest.“ Ohne eine weitere Reaktion abzuwarten, studierte sie nachdenklich das Pergament und sah auch nicht auf als Sara vorsichtig die Stille durchbrach.
„Darf ich euch etwas fragen?“
„Frag.“
„Wenn wir nach Norden gehen... wollt ihr...zu der Stelle, die auf der Karte mit dem Kreuz markiert ist?“.
Lennys antwortete nicht, sondern starrte weiter auf die Zeichnung, ohne sie wirklich zu sehen. Vielleicht war es keine gute Idee gewesen, das Mädchen mitzunehmen. Im Grunde wusste sie selbst nicht, was sie sich dabei gedacht hatte. Zugegeben, sie hatte ihr gestern abend tatsächlich einen Gefallen getan, indem sie für Beemas Übelkeit gesorgt hatte. Und diese Karte hier... Aber nein, sie schuldete niemandem einen Gefallen und ganz abgesehen davon wäre es Sara selbst wohl auch lieber gewesen, wenn sie hätte zu Hause bleiben können. Was sollte diese Novizin hier schon nützen? Und vor allem – warum sollte sie ihr irgendetwas erklären? Menrir war es gewesen, der kurz nach ihrer Ankunft dafür gesorgt hatte, dass Sara sowieso schon viel zu viel wusste. Warum eigentlich?
'Ich hätte es gar nicht soweit kommen lassen dürfen..' dachte Lennys. 'Jetzt lasse ich mir schon von einem alten Mann und einem naiven Kind auf der Nase herumtanzen.' Andererseits wusste sie, dass es ungerecht war, denn besonders dumm hatte sich Sara ja eigentlich nicht verhalten, im Gegenteil. Aber war das nicht genau das, was man von einer Leibdienerin zu erwarten hatte – dass sie ohne große Erklärungen das Richtige tat und sich ansonsten quasi unsichtbar machte? Vielleicht hätte Menrir doch eine dieser anderen beiden albernen Gänse aussuchen sollen, dann wäre die Angelegenheit nach zwei Minuten durch einen klaren Rauswurf erledigt gewesen und sie, Lennys, würde sich jetzt nicht solche eigentlich unsinnigen Fragen stellen.
Sie betrachtete noch einmal das Bild Mittellands und die vielen kleinen schwarzen Kreuze. Dann das größte von ihnen. Was tat sie hier eigentlich? Heute morgen, bevor sie dieses Pergament in den Händen gehalten hatte, da hatte sie es noch gewusst. Da war der Weg, den sie heute hatte gehen wollen, noch ein anderer gewesen und er hatte ein Ziel gehabt, das diese Bezeichnung auch verdiente. Und jetzt? Natürlich, sie konnte sich noch anders entscheiden, konnte dem Pfad weiter nach Westen folgen, der später einen Bogen nach Süden schlug und nach Goriol führte. Ein gewaltiger Umweg zur Stadt der Wanderer, aber sie schuldete niemandem Rechenschaft über ihre Entscheidungen. Auch wenn sie hier umkehrte und sich dann in Richtung Gebirge aufmachte, würde sie keine Erklärung abliefern müssen. Und plötzlich verwünschte sie diese Karte, sie verfluchte Sara, weil sie sie ihr gebracht hatte und sie verdammte Menrir, denn ohne ihn gäbe es keine Novizin, die irgendwelche Schriftrollen aus der Tempelbibliothek stahl und jetzt Fragen darüber stellte.
„Es spielt für dich keine Rolle, wo wir hingehen.“ sagte sie dann eisig. „Außerdem hast du selbst gesagt, da wäre nichts.“
Sara zögerte. „Kein Friedhof oder so etwas ähnliches, nein.“
Lennys stutzte.
„Sondern?“
„Ich... bin mir nicht sicher, ob es genau die Stelle auf der Karte ist. Aber dort oben ist eine Lichtung, auf der mehr Schildkraut wächst als irgendwo sonst im Wald. Ich war schon öfter mit der Vorsteherin der Kräuterküche dort, um es zu sammeln. Wir können es nicht selbst anbauen, der Boden um den Nebeltempel ist zu hart dafür...“
„Also nur eine Stelle zum Kräutersammeln? Nichts Besonderes also...“
„Eigentlich nicht. Bis auf den Brunnen.“
„Brunnen?“
„Niemand weiß so recht, wer ihn gebaut hat und auch nicht, warum. Es gibt ja genug Quellen und Bäche im Wald. Er steht mitten auf der Lichtung, aber ich glaube, er führt gar kein Wasser, außer vielleicht, wenn sich der Regen darin sammelt. Ich habe einmal einen Stein hineingeworfen und es hörte sich an, als wäre er auf hartem Boden aufgeschlagen, aber der Schacht ist zu tief und zu dunkel um hinunter zu sehen.“
„Und du sagst, niemand weiß etwas darüber?“
„Nein, ich glaube nicht. Aber es wagen sich auch nicht Viele so weit in den Wald hinauf, es heißt ja, dort hätten einige Diebesbanden ihr Versteck. Vielleicht haben die ja auch den Brunnen gegraben, aber sicher weiß das keiner.“
„Wenn sich dort soviel Gesindel herumtreibt, wundert es mich, dass ihr dort in aller Seelenruhe Kräuter sammeln geht.“ erwiderte Lennys misstrauisch.
„Wir gehen nicht oft hinauf und nur am Tage. Und nie allein. Das Schildkraut lässt sich nur für kurze Zeit im Spätherbst ernten, sonst ist es für die Heilkunde unbrauchbar. Alle haben immer große Angst, wenn es soweit ist und hoffen, dass sie nicht dafür eingeteilt werden, aber passiert ist trotzdem noch niemandem etwas. Vielleicht wissen die Banden, dass von uns nichts zu holen ist oder sie wollen keine Tempeldiener angreifen.“
„Und du warst schon mehrmals dabei?“
„Ich... bin immer dabei.“
Lennys sah nach Norden in den immer dichter werdenden Wald. Das, was sie eben gehört hatte, trug weder dazu bei, ihr das Weitergehen zu erleichtern, noch, sie davon abzuhalten. Es trieb sie vorwärts und hielt sie gleichzeitig mit eisernem Griff zurück. Sie hatte Sara nicht gesagt, dass sie den 'Brunnen' sehr wohl kannte, und genausowenig, dass sie nie im Traum daran gedacht hätte, den Schacht als solches zu bezeichnen. Für sie war er etwas völlig Anderes.
Schließlich traf sie eine Entscheidung und schlug ohne ein weiteres Wort den Weg nach Norden ein.
Bald war kein fester Pfad mehr erkennbar. An einigen Stellen schienen die dornigen Sträucher und tiefhängenden Äste der düsteren Bäume etwas zurückzuweichen, um gleich darauf wieder eisern das Weitergehen zu verhindern. Mehrmals musste Lennys zu ihrem kurzen Säbel greifen um einen Durchgang freizuschlagen. Auch war das Gelände nicht mehr so eben wie zu Beginn der Wanderung, sondern stieg immer wieder steil an und forderte dadurch viel Kraft und Geschick.
Sie erreichten die Lichtung gegen Mittag. Zunächst schien nur der Wald weniger düster zu sein und die Sonne war nicht länger nur über dem dichten Blätterdach zu erahnen, sondern malte dann und wann auch goldene Muster auf den modrigen Boden. Dann plötzlich wichen die Bäume zur Seite und vor ihnen breitete sich eine grüne Oase aus, als hätte jemand ein Loch in die hohe Vegetation geschnitten und nur den feinen Gräsern und dem weißblühenden, dickstängligen Schildkraut erlaubt, weiter zu wachsen.
Lennys blieb unter den letzten Eichen stehen, die den Rand des Platzes säumten.
„Du bleibst hier.“ sagte sie, ohne Sara dabei anzusehen.
„Wenn... jemand....“ begann die Novizin, doch Lennys unterbrach sie.
„Es kommt niemand. Hier gibt es keine Banditen.“
Sie ging auf die Mitte der Lichtung zu und jeder Schritt, den sie tat, forderte mehr Kraft als der gesamte Weg zuvor.
Der Brunnen