Szenenwechsel. Elisa Scheer

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Название Szenenwechsel
Автор произведения Elisa Scheer
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783737562959



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mit Geld umgehen, er hatte einfach nur Angst, im Alter zu verhungern. Und Mama glaubte, Papa habe die Weisheit mit Löffeln gefressen. Nach dreiunddreißig Jahren Ehe!

      Aber Sabine glaubte ja auch, ihr Tobias sei der reinste Nobelpreisträger. Auch schön blöd.

      Und der liebe Martin hielt sich sowieso für Gottes Geschenk an die nach Weisheit dürstende Menschheit. Tolle Familie. Na, wenigstens war Martins Freundin ein bisschen kritischer. Jenny hatte manchmal eine Art, ihn von der Seite anzusehen…

      Das Läuten riss Hilde aus ihren Gedanken, und die nächsten zwei Stunden war sie gründlich von Tante Martha abgelenkt. Erst als sie gegen halb vier ihre beiden übervollen Taschen zum Parkplatz schleifte und sie aufatmend im Kofferraum versenkte, kam sie wieder zum Nachdenken.

      Sie blieb eine Zeitlang bei offener Fahrertür sitzen und überlegte, was nun alles zu tun sei. Wahrscheinlich sollte sie erst einmal im Krankenhaus anrufen… Hatte Tante Martha zu Lebzeiten irgendetwas veranlasst? Sie hatten sich sehr gut verstanden, aber darüber hatten sie nun doch nie gesprochen. Wollte sie begraben werden – oder eingeäschert? Eine Grabstelle gab es, auf dem Leichinger Parkfriedhof, weil Tante Martha zu Lebzeiten ihres Mannes dort gewohnt hatte. Aber mehr fiel Hilde nicht ein, also kramte sie ihr Handy aus der Tasche und rief im Krankenhaus an. Die Stationsschwester kannte sie schon und versicherte ihr, das Institut Ewiger Frieden habe sich der Verstorbenen bereits angenommen. Nein, es gebe nichts zu tun - naja, bei Gelegenheit könnten die persönlichen Habseligkeiten der Verstorbenen abgeholt werden – aber noch nicht heute. Und nein, es habe sonst niemand nachgefragt. Habe Frau Willinger denn noch mehr Angehörige gehabt? Und ja, ihre Adresse habe man auch an Ewiger Frieden weitergegeben.

      O ja, dachte Hilde wütend, das Handy im Schoß. Eine Schwester, einen Schwager, einen Neffen und noch eine Nichte. Und keiner kümmerte sich? Hilde hatte ihnen allen mitgeteilt, dass Tante Martha mit Lungenentzündung im Krankenhaus lag. Papa war beruflich viel zu eingespannt für solche Bagatellen, Mama hatte versprochen, ihre Schwester zu besuchen, Sabine hatte das gestresste Muttertier gegeben und gefragt, wo sie denn bitte ihre süßen Kleinen lassen sollte, außerdem habe Tante Martha gemeckert, sie und Tobias hätten zu früh geheiratet, und Martin hatte seine Mailbox offenbar nicht abgehört.

      Und dann hatten sie es alle verdrängt. Aber wenn Mama und Papa was erbten, dann kämen sie und hielten die Hand auf, wetten? Sie würde den Teufel tun und bei ihren Eltern betteln - aber Martin und Sabine war ja nichts zu peinlich!

      Sie schnallte sich an, drehte den Zündschlüssel und fuhr los, darum bemüht, ihren Zorn nicht an den anderen – wie üblich beschränkten – Autofahrern auszulassen.

      Zu Hause sah sie sich gereizt um.

      In letzter Zeit fühlte sie sich immer gereizt, wenn sie nach Hause kam. Warum eigentlich? War sie schon so ein Workaholic? Aber hier hatte sie doch wenigstens einen eigenen Schreibtisch. Und genügend Zeug darauf, das mal abgearbeitet werden wollte. Die Klausur, das Extemporale, der Raumplan, der Exkursionsentwurf, der Beitrag zur Schulhomepage, die Macken im Geometrieprogramm… Sie beäugte die wüsten Haufen auf dem zu kleinen Schreibtisch missmutig, stellte ihre beiden Taschen ab und warf den Mantel aufs Bett.

      Aufräumen müsste sie mal wieder: Ein Einzimmerappartement müllte wirklich im Handumdrehen zu… Außerdem war die Wohnung sogar für ein Zimmer dürftig. Zweiundzwanzig Quadratmeter, und davon gingen ja noch der Zwergenflur mit dem völlig unzureichenden Kleiderschrank und das Zwergenbad mit der extrakurzen Wanne ab. Lila gekachelt!

      Der ganze gesichtslose Block mit sechs Stockwerken à zwanzig Wohnschließfächern stammte aus den mittleren Siebzigern. Das musste die absolute Hochphase des grottenschlechten Geschmacks gewesen sein, überlegte Hilde, während sie sich umsah. Lila Kacheln! Und der kleine, aber klotzige Betonbalkon mit Schmiedeeisen verziert.

      Alles andere war einfach abgewohnt, die Türen vor der mickrigen Kochnische hingen leicht schief, der Beton auf dem Balkon war ziemlich vermoost, und der Teppichboden hatte, als er neu war, sicher eine Farbe gehabt, vielleicht blau? Mittlerweile war ein undefinierbares Graubraun daraus geworden.

      Manchmal fragte sie sich ja schon, ob sie das eigentlich noch notwendig hatte. Immerhin verdiente sie seit dreieinhalb Jahren recht ordentlich, warum hauste sie also immer noch in dieser Mickerbude aus ihrer Studentenzeit, in einer lauten und schmuddeligen Gegend, die nicht einmal verkehrsgünstig zum Mariengymnasium lag?

      Sie wusste es ja. Sie wollte eines Tages eine richtige Wohnung haben, und zwar eine Eigentumswohnung. Zwei Zimmer und eine richtige kleine Küche. Und ein Bad in einer Farbe, bei der einem nicht die Augen tränten!

      Seit ihrem achtzehnten Geburtstag hatte sie gespart, investiert, umgeschichtet und mittlerweile immerhin rund siebzigtausend Euro in sicheren Anlagen zusammen – aber als Eigenkapitalanteil war ihr das immer noch zu wenig, eine vergammelte Bude aus den Sechzigern oder Siebzigern wollte sie nicht, und etwas Neueres oder gar – hach… - einen renovierten Altbau gab es nicht für solche Sümmchen. Also weitersparen, auch wenn Martin und Sabine höhnten.

      Die mussten gerade reden, dachte Hilde, während sie sich in dem kleinen, voll gestopften und peinlich unordentlichen Zimmer umsah. Martin hauste mit seiner Jenny in der Einliegerwohnung bei den Eltern – vier Zimmer, aber eben immer noch Hotel Mama… dass Jenny sich das gefallen ließ?

      Und Sabine und Tobias hatten ein ziemlich heruntergekommenes kleines Reihenhaus gemietet, dem ihre beiden kleinen Mädchen wahrscheinlich über kurz oder lang den Rest geben würden. Soo toll wohnten die also auch nicht. Toll wohnten nur die Eltern; das Haus war, auch abgesehen von der überdimensionierten Einliegerwohnung, kolossal. Zehn Zimmer, beste Lage in Henting – aber nicht mehr gut in Schuss. Papa wollte kein Geld für Handwerker ausgeben, konnte aber selber gar nicht viel machen. Und wenn neue Emissionswerte festgelegt wurden und er die Heizung sanieren musste, weinte er bitterlich: Wo er doch so arm war!

      Hilde grinste vor sich hin. Gestörte Wahrnehmung, eindeutig. Er verdiente ausgezeichnet, hatte das schuldenfreie Haus, kein Kind mehr auf der Tasche, wahrscheinlich ein fettes Depot – und ehrlich Angst zu verhungern. Er musste in absehbarer Zeit eine gesetzliche Rente, eine Betriebsrente, eine Privatrente und die Zahlungen aus einer Lebensversicherung bekommen. Aber am Hungertuch nagen… Eindeutig gaga! Und es wurde von Jahr zu Jahr schlimmer – als sie ein Kind gewesen war, war er noch halbwegs normal gewesen, zwar geizig und kleinlich, aber nicht komplett durchgedreht.

      Verkehrte Welt – der reiche Vater in der Riesenvilla fühlte sich am ärmsten, und die Kinder, die objektiv viel ärmer waren, waren es zufrieden. Na, sie selbst jedenfalls.

      Aber heute nicht. Heute nervte die Winzbude. Überall lag Zeug herum, weil einfach zu wenig Platz war. Die Ordner standen schon auf dem Boden, der Schreibtisch war so mit Papierstapeln bedeckt, dass sie das letzte Erdkunde-Ex auf ein Klemmbrett gepackt und es im Bett sitzend korrigiert hatte. Unhaltbare Zustände, sie brauchte eine größere Wohnung.

      Und endlich eine richtig wirkungsvolle Diät. Sie war gut einsachtzig groß, ja, aber sie wog auch gut über neunzig Kilo, und außer zwei schwarzen Hosen passte fast nichts mehr. Obwohl sie im Lauf dieses Jahres schon Punkte gezählt, eine Blutgruppendiät gemacht, eine Zeitlang täglich gejoggt und es vor kurzem erst mit LowFat versucht hatte. Deswegen hatte sie seit Januar auch schon drei Pfund zugelegt.

      Und was wollte sie noch, falls die gute Fee mal vorbeikam? Mehr Geld? Genau, damit sie sich endlich mal eine größere Wohnung zulegen konnte.

      Hilde schlug sich energisch auf die Knie und stand auf. Auf die gute Fee konnte sie lange warten. Action war angesagt! Erstmal Mama anrufen.

      Ihre Mutter wusste schon Bescheid und war halb erleichtert, halb geknickt, dass Hilde die Angelegenheiten mit dem Krankenhaus in die Hand genommen hatte.

      „Dann kümmere ich mich um die Trauerfeier. Arme Martha… Neunundsechzig ist doch wirklich kein Alter… Ewiger Frieden, hast du gesagt? Ach ja, da waren wir mit Oma damals auch, glaube ich. Und die Sterbeurkunden… Papa ist schon ganz nervös… der Arme!“

      Das fand Hilde nun gar nicht. Papa war wirklich nicht arm, er bildete es sich nur ein. Sozusagen finanzielle Hypochondrie, wenn es so etwas gab.