Tod auf den Gleisen. Elisa Scheer

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Название Tod auf den Gleisen
Автор произведения Elisa Scheer
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783737564281



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dann wieder Einzelvillen, nicht protzig, sondern rührend altmodisch… eine nette Gegend!

      Als Historikerin konnte sie ja die einzelnen Häuser durchaus einigermaßen sicher datieren, und bei manchen besonders bieder wirkenden Walmdachvillen suchte sie unwillkürlich an der Front nach der Halterung für den Fahnenmast. Für die Hakenkreuzflagge. Gut, aber hätte man die Häuser nach 45 abreißen sollen, wenn sie schon den Bombenkrieg überlebt hatten? Die Fünfziger Jahre hatten ja ohnehin ganz naiv so weiter gebaut – man denke nur an die kleinen Siedlungshäuschen – ob Kriegersiedlung oder Vertriebenenheime, das sah alles ungefähr gleich aus. Von den eher asymmetrischen Gartentoren bei der neueren Variante mal abgesehen.

      Und hier konnte man sich die Dreißiger, Vierziger, Fünfziger und Sechziger so richtig vorstellen. Wenn man sich die Autos wegdachte. Und die Frau da drüben, die konzentriert auf ihr Smartphone starrte: böser Anachronismus - und wenn die nicht besser aufpasste, stolperte sie gleich über das historisch unebene Straßenpflaster! Na, wenigstens würde sie weich fallen – die Frau war so breit wie hoch, mindestens. Und in der freien Hand eine brennende Kippe. Direkt schade, dass sie keine dritte Hand mehr hatte, für ein hochprozentiges Fläschchen… Oh – das war die Trautenwolf!

      Sie kam näher und blinzelte Doro an. „Ich kenn Sie doch, oder?“

      „Dorothea Fiedler“, stellte Doro sich artig vor und schämte sich für ihre gehässigen Gedanken. „Ich bin eine neue Kollegin.“

      „Ah, schön. Und Sie wohnen auch hier?“

      „Äh – nein, in Selling. Ich gehe hier nur spazieren. Um Leisenberg besser kennen zu lernen.“

      „Schade. Hier wohnen einige Kollegen. Ganz praktisch, wenn man sich mal was ausleihen möchte - Frau Bittl, Frau Uhl, Herr Trattner, Herr Ederer, Herr Meidlinger. Aber Selling ist ja auch ganz nett…“ Sie lächelte so breit, dass ihre Augen fast in den Speckfältchen verschwanden.

      Doro lächelte etwas falsch zurück. Die Auswahl sprach leider nicht gerade für die Gegend. „Wissen Sie, wo es hier zum Fluss geht?“, fragte sie also, um abzulenken. Gut, dass sie die Existenz dieses Flusses – Bächleins? – dem Stadtplan entnommen hatte! „Aber ja! Ich wohne doch schon dreißig Jahre hier! Da vorne durch den Zolihoweg und dann halb links die Steintreppe hinunter. Und dann sehen Sie schon. Viel Vergnügen noch!“

      Doro bedankte sich höflich und folgte den Anweisungen. Eigentlich war die Trautenwolf ganz nett. Sie hatte nur einen unsäglichen Geschmack bei Nachbarn. Doro wäre weggezogen, wenn solches Volk in ihrer Nähe gewohnt hätte!

      Auch Quatsch. Sie wusste ja gar nicht, ob nicht noch viel schlimmeres Volk in Selling wohnte. Die Mendel zum Beispiel! Die Lichwitz. Nein, die musste ja wohl irgendwo einen Bienenstock und einen Olivenbaum haben. In Selling eher schwierig.

      Oder den Krempel aus dem Italienurlaub mitbringen. Oder ein Ferienhaus haben. Oder… Auf jeden Fall sollte sie besser nachdenken, tadelte Doro sich selbst. Die Freisleder wollte sie auch nicht unbedingt nebenan haben. Seitdem man die Telefonnummern nicht mehr so leicht einer Gegend zuordnen konnte, waren die Adressen gar nicht so einfach herauszufinden. Und eine Adressenliste wurde nicht mehr herausgegeben, weil die E-Mail-Adressen ja im Intranet standen. Wer damit nicht zufrieden war, der machte sich bestimmt verdächtig!

      Die arme Bittl, überlegte sie, während sie die Stufen zum Fluss hinunterstieg, der Ederer war doch ohnehin so lästig, und dann wohnte er auch noch in der Nähe? Da fiel ja alles wie „Ich muss leider in die genau entgegen gesetzte Richtung“ komplett weg! Andererseits konnte die Bittl dem widerlichen Schleimer bestimmt ordentlich rausgeben, die war ziemlich tough.

      Die Treppe war recht lang, und unten angekommen fand Doro die Szenerie eher enttäuschend – ein schmales Rinnsal zwischen einigen mäßig malerischen Felsen, Bäume mit immerhin dekorativ verfärbtem Laub, eine verrottete Bank, die offenbar zu oft vom Hochwasser betroffen war.

      Naja. Die Isar gab ja eigentlich flussmäßig auch nicht so viel her, musste sie als Münchnerin zugestehen. Die schaffte nicht mal ein anständiges Hochwasser, was den ausgedehnten Isarauen zu verdanken war. Sie musste mal fragen, wie das hier zur Zeit der Schneeschmelze ablief! Spaziergänger waren keine zu sehen. Etwas düster, das Ganze.

      Doro schlenderte den Fluss entlang nach Westen, bis ein geeigneter Felsen am Wegesrand auftauchte, auf den sie sich setzen konnte. Spitz von unten. Aber doch ein ganz netter Blick. Düster-romantisch. So was wie Jane Eyre könnte man hier drehen, überlegte sie, wenn man auf die ausgedehnte Heidelandschaft verzichten konnte.

      Doch sehr spitz und obendrein kalt von unten! Sie stand wieder auf, rieb sich den klammen Hintern und machte sich wieder an den Aufstieg. Beim nächsten Mal konnte sie ja am Mönchensee spazieren gehen, dort war es wirklich schön.

      Aber jetzt hatte sie von Zolling schon mal eine Vorstellung.

      Die Trautenwolf war aber doch arm dran… die wog bei schätzungsweise 1,60 m bestimmt hundertfünfzig Kilo. Doro dachte kurz selbstzufrieden daran, dass sie bei 1,75 m nur sechzig Kilo auf die Waage brachte.

      Sollte man der Trautenwolf eine Diät empfehlen? Oder war das unverschämt?

      Auf dem Weg nach Hause sinnierte sie über die Frage und kam zu dem Ergebnis, dass ein Tipp leider wirklich unverschämt wäre. Sie würde sich ja auch für ungebetene Ratschläge herzlich bedanken – siehe Lichwitz.

      Was sollte sie heute Abend essen? Die Frage passte so gut zu ihren Gedanken über Diäten (für die Trautenwolf), dass sie an der Ecke Düsseldorfer und Rheinlandstraße richtig zusammenschrak, als jemand sie grüßte. Sie führte mit Vera Zeitz, ihrer Geographie-Fachbetreuerin, ein kurzes Gespräch über die Qualität der Supermärkte in der Gegend, über fair trade und Discounter (die Doro nicht leiden konnte) und verabschiedete sich dann mit den besten Wünschen für einen schönen Feierabend.

      Jetzt reichte es aber mit den Kollegen! Nichts wie nach Hause und ab aufs Sofa! Und sie würde einfach diesen Salat essen, den sie heute Mittag gekauft hatte. Morgen hatte sie ja einen langen Tag, also war jetzt Entspannung angesagt! Sie schaute auf die Uhr – oops, Viertel nach sechs? Sie wollte doch ins Kino, The Big Sleep anschauen.

      Nein, da drückte sie sich jetzt nicht. Außerdem brauchte man ja auch mal ein bisschen Spannung im Leben, und woher sollte die schon kommen, wenn nicht aus klassischen Kriminalfilmen? Im echten Leben passierte so etwas ja doch nicht. Den Salat konnte sie hinterher immer noch essen.

      Mittwoch, 17.10. 2012

      Immer noch müde betrat sie das Lehrerzimmer ziemlich knapp vor Unterrichtsbeginn.

      Der Kinofilm, der lange Dienstag mit der Exkursion, von der sie erst gegen acht Uhr abends nach Leisenberg zurückgekommen waren, das Geschichtsex (die erste Frage hatte sie schon durch – nicht ganz so gut, wie sie erwartet hatte, aber doch recht ordentlich)… heute Abend würde sie aber mal früh ins Bett gehen und so richtig ausschlafen!

      Hastig packte sie aus und ein und enteilte in die 9 d. Dort konnte sie, nachdem das Gejammer über ein gemeines! hundsgemeines!! echt ätzendes!!! Englisch-Ex abgeebbt war, mit dem Stoff weitermachen und fast alles erreichen, was sie sich als Ergebnis vorgenommen hatte. Beim Verlassen des Klassenzimmers stieß sie fast mit der Steinleitner zusammen, die aus der 9 c getreten war. „Oh, Entschuldigung!“

      „Aber bitte!“, begütigte die Steinleitner und strich sich ihren grauen Flanellrock glatt. Mitten in der Bewegung erstarrte sie aber: „Jetzt schauen Sie sich das mal an!“ Doro folgte ihrem Blick, sah aber nichts Aufregenderes als eine stark überschminkte Achtklässlerin im karierten Supermini kombiniert mit Bergstiefeln und einem Tanktop, für das es eigentlich schon zu kalt war.

      „Naja“, sagte Doro nachsichtig, „Geschmack ist eben noch Glücksache. Solange sie sich in diesem Fähnchen nicht erkältet… das Grässlichste sind ja wohl diese klobigen Stiefel. Fand ich in dem Alter aber auch ganz toll.“

      „Aber Sie verstehen nicht!“ Die Steinleitner sah Doro ehrlich entsetzt an. „Es geht doch nicht um bloße Ästhetik!“

      „Nein?“