Killertime. Charlie Meyer

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Название Killertime
Автор произведения Charlie Meyer
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783738001198



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Brauch? Sie hatte offenbar keinen Fluchtversuch unternommen. Den Spuren nach hockte sie die ganze Zeit hinter einer dicken Buche. Hier hatte sie sich erleichtert, und hier hatte sich der Mörder von hinten an sie herangeschlichen.

      Warum war sie nicht weggelaufen?

      Sie war nackt gewesen und in Flipflops unterwegs. Nacktheit und das Gefühl höherer Verletzlichkeit gehen Hand in Hand. Also blieb sie einfach hinter diesem Baum hocken, in der Hoffnung, dem Mörder weismachen zu können, sie sei geflohen.

      Oder weil eine namenlose Angst sie förmlich paralysierte.

      War der Mörder so kaltblütig gewesen, ihren Freund vor ihren Augen zu quälen und zu töten, bevor er sie einfing? Weil er die Chancenlosigkeit ihrer Flucht erkannt hatte? Frühmorgens auf einer Lichtung an einem See. Jeder laute Atemzug, jedes Knacken eines Zweiges beim Versuch, sich in den Wald zu schleichen, hätte er so deutlich hören müssen, als wenn sie ihm Hier bin ich, fang mich doch zugerufen hätte.

      Er wollte, dass sie zusah.

      War das womöglich erst der Kick, den er brauchte? Nicht das Morden an sich, sondern sie zusehen zu lassen, wie er ihren Liebhaber entmannte und ihm anschließend die Kehle durchschnitt? Oder hatte er möglicherweise gehofft, sie würde weglaufen, damit er sie jagen und zur Strecke bringen konnte wie ein flüchtendes Reh?

      In den achtziger Jahren hatten ein Ex-Marine und ein Vietnamveteran in den USA Frauen in einer Höhle gefoltert, vergewaltigt und ermordet. Bei einigen von ihnen gönnten sie sich das zweifelhafte Vergnügen, sie freizulassen, um sie mit Nachtfernrohr und Präzisionswaffe durch den Wald zu jagen und erst Stunden später abzuknallen.

      Doch Menschen in Todesgefahr reagieren unterschiedlich. Weglaufen, die Augen schließen und hoffen, sich der Gefahr stellen oder selbst angreifen, sind in der Regel die Optionen, die intuitiv auch halbwegs intelligenten Mördern bewusst sind.

      Psychopathen mit überdurchschnittlichem IQ spielen nicht selten mit ihren Opfern, in dem sie ihnen mehr als eine Option offen lassen und so den eigenen Kick erhöhen. Möglicherweise hatte er sich in Rosannas Fall ein sadistisches Vorspiel geleistet, in dem er sie zusehen ließ, wie Buran qualvoll starb.

      Möglicherweise.

      Frustriert kippte ich den Stuhl bis zur Wand zurück und starrte an die Decke. Ich war weder Psychologe noch Psychiater noch ein ausgebuffter Profiler, der nach zwei Stunden seinen Bericht fertig hatte: männlich, weiß, Mitte dreißig, dominierende Mutter, quälte Tiere in seiner Jugend, lebt in maximaler Entfernung von dreihundert Metern vom Tatort. Worauf einer der Kripobeamten eine Landkarte ausbreitet, auf eine ehemalige Waldarbeiterhütte mitten im ausgedehnten Grün des Reinhardswaldes deutet und brüllt Schnappt euch das Schwein.

      Und als krönender Abschluss dieser Verbrecherjagd im Akkord tritt mir die Taskforce morgens um drei die Tür ein.

      Ich hingegen bin ein Profi im Navigieren eines Schiffes mit ausgefallenem Bugstrahler, mache fundierte und witzige Borddurchsagen bei den Rundfahrten und brauche kein Lexikon mehr, um die Anleitung für Ego-Shooter oder Strategiespiele ins Deutsche zu übersetzen. Auf diesen Gebieten bin ich gut und weiß, was ich tue. Beim Profiling hingegen arbeite ich mich durch einen zähen Sumpf, ohne Hoffnung auf festen Boden.

      Mein Problem war nur, nicht aufhören zu können, ohne Lucy in den Knast zu bringen.

      Ich brauchte zumindest jemanden, der meine Schlussfolgerungen kritisch reflektierte.

      Ich rief Lucy an.

      »Hey Süße, wo treibst du dich gerade rum?«

      »Willst du raten?«

      Sie hielt offenbar ihr Handy in den Raum, und das unerträgliche Geräusch eines in höchsten Tönen sirrenden Bohrers drang an mein Ohr. Unten links begann es in meinen Zähnen zu ziehen.

      »Mein Mitgefühl sei bei dir, aber sollten wir dann nicht lieber nach der Folter zusammen telefonieren?«

      Ich kämpfte mit der Vorstellung, wie der Zahnarzt drohend mit dem Bohrer vor ihren Lippen herumfuchtelte, während sie in aller Ruhe telefonierte.

      »Ach Gottchen, nein, meine Beißer sind alle in Ordnung. Ruprecht hat ein kleines Problem mit Zahnärzten und Wurzelbehandlungen. Ich halte nur Händchen.«

      Im Hintergrund hörte ich einen Mann langgezogen stöhnen. Lucy nahm einen Moment lang das Handy vom Ohr und säuselte etwas, von dem ich nur noch die letzten Worte verstand: »… das sind aber auch fürchterlich lange und dicke Nadeln, mein armer Schatz.« Sie schien ihm ein Küsschen auf die Wange zu hauchen. »Mein tapferer kleiner Liebling.«

      Dann sprach sie wieder mit mir.

      »So. Wolltest du etwas Besonderes?«

      »Dich sehen. Mit dir reden. Mir auch ein Küsschen abholen.«

      »Heute Abend 19 Uhr?«

      »Geht nicht. Heute bin ich schon mit einer hinreißenden Pathologin verabredet, die sich hoffentlich nicht nur für das Gewicht meiner Organe interessiert.«

      Erstaunlicherweise hält unsere Freundschaft die Affären des jeweils anderen mühelos aus.

      »Dann morgen. Ich kaufe frischen Tintenfisch.«

      Eine weitere von Lucys herausragenden Fähigkeiten ist es, exotische Dinge so zuzubereiten, dass sie tatsächlich auch exotisch schmecken.

      Im Hintergrund heulte Ruprecht auf und Lucy drückte das Gespräch weg. Hatte sie nicht gesagt, es sei aus zwischen ihr und diesem Weihnachtsmann?

      9

      Gegen halb vier, als ich nahe am Wegdösen war in der Hitze meiner nicht klimatisierten Besenkammer, lugte Polizeianwärter Bremersson um die Ecke und druckste herum. Ich beobachtete ihn mit zunehmender Ungeduld.

      »Was ist? Fürchten Sie sich hereinzukommen?« Ich hob demonstrativ meine Hände. »Kein Messer, keine Pistole, kein Strick. Momentan ist mir nicht danach, jemanden umzubringen. Morgen vielleicht wieder.«

      Wieder errötete er bis unter die Haarwurzeln, kam aber brav ins Zimmer getrottet. »Ich … ich will Sie nicht nerven, aber Polizeihauptmeister Santos hat zurzeit wenig für mich zu tun, und da dachte ich …« Er hob in komischer Verzweiflung die Schultern.

      Er log, keine Frage. Santos hatte einfach Zeit zum Nachdenken gehabt. Er wusste, dass er mich nicht straflos ignorieren konnte, sondern spätestens dann seine Karriere aufs Spiel setzte, wenn ich zum Telefonhörer griff, um ihn zu verpfeifen. Ob und wann ich es tun würde, konnte er nicht einschätzen. Vorbeugend hatte er den Kleinen geschickt. Aber nicht nur deshalb. Mit Sicherheit arbeitete er selbst auf Hochtouren daran, die Morde aufzuklären.

      Was für ein Triumph für ihn, wenn ihm genau das ohne meine Beteiligung gelänge.

      Er brauchte Informationen und wusste, wo er sie bekommen konnte.

      Es war schon komisch, aber ich beschloss, das Spiel bis zu einem gewissen Grad mitzuspielen. Besser den Spatz in der Hand, als die Taube auf dem Dach.

      Ich kippte den Stuhl an die Wand und beäugte ihn unauffällig. Groß, schlaksig, rote Haare, an irgendjemanden erinnerte mich der Polizeianwärter Bremersson, nur dass mir partout nicht einfiel an wen.

      »Ihr Name – Sven Bremersson – klingt sehr nordisch. Woher stammen Sie?«

      Einen Moment lang verschloss sich sein Gesicht, geradeso, als wolle er mir die Antwort verweigern, obgleich ich mir überhaupt nicht vorstellen konnte, warum. Es sei denn natürlich, er fühlte bei derart harmlosen Fragen schon seine Persönlichkeitssphäre verletzt.

      »Schweden«, antwortete er dann doch noch. »Meine Mutter stammt aus Schweden.«

      Da bei seinen Worten ein leicht drohender Unterton mitschwang, wechselte ich ganz einfach das Thema.

      »Gut, okay, Sven Bremersson aus Schweden, ich möchte als Erstes Ihre Eindrücke vom Tatort hören. Santos und Sie waren da. Setzen Sie sich«,