Der verborgene Erbe. Billy Remie

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Название Der verborgene Erbe
Автор произведения Billy Remie
Жанр Языкознание
Серия Legenden aus Nohva 5
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783742739742



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genoss er den Trost, dem ihm das Tier jeden Morgen schenkte, als spürte es, dass jeder weitere Tag ohne Desiderius für Wexmell unerträglich war.

      Er machte sich los, um Karic zu striegeln, zu satteln und aufzuzäumen. Schließlich führte er das Tier aus dem Stall, holte noch Bogen und einen gefüllten Köcher aus einer Kammer, und ritt aus dem Burgtor, noch bevor die Königsfamilie in ihren Betten erwachte.

      Er spürte nicht, dass ihn argwöhnische Blicke von der Mauer aus folgten.

      Das wahrscheinlich schönste am wilden Carapuhr war, dass man nicht lange reiten musste, um der Zivilisation zu entfliehen. Unweit der königlichen Burg entfernt, konnte Wexmell auf Karics Rücken in einem tiefen Tannenwald verschwinden. Auch hier lag der Dunst noch dicht über dem Boden, wie an einem frühen Herbstmorgen, dabei war es längst Sommer in Carapuhr.

      Kaum hatte er den bekannten Trampelpfad erreicht, der auf eine Hügellichtung hinaufführte, trieb er Karic in den Galopp. Wexmell fiel in den Schwung der Gangart ein. Karic hatte einen sanften Galopp, geschmeidig, Wexmell wurde im Sattel leicht vor und zurück gewogen, wie ein Kind in der Wiege. Er spannte den Oberkörper an, ließ die Zügel etwas lockerer und gab Karic mehr Freiheiten.

      Der Hengst nahm sie sich sofort und wurde schneller, etwas ungestümer. Dankbar galoppierte er den schmalen Pfad durch den Wald entlang, nahm mit Freuden jedes Bisschen Freiheit, die Wexmell ihm gewährte.

      Reiter und Tier liebten die frühmorgendlichen Ausritte, so still, so einsam, so unendlich frei.

      Oben auf dem Hügel angekommen hielt Wexmell im hohen Gras an und stieg ab. Er führte Karic an einen einsamen Baum, der am Rande der sanften Absteige stand, getrennt von all den anderen Bäumen, die die Lichtung umrandeten.

      Wexmell musste Karic anbinden, so leid es ihm tat, denn der Hengst war nun mal nicht Wanderer. Wanderer hatte immer freilaufen können, er wäre nie von Desiderius‘ Seite gewichen. Er war wie ein treuer Hund gewesen, mehr Freund als Reittier.

      Oh ihr grausamen Götter, selbst das Pferd seines Geliebten hatten sie ihm genommen. Was hätte Wexmell nicht alles dafür gegeben, wenigstens den Hengst wieder herbeirufen zu können, doch keiner konnte sich erklären, wohin das Tier verschwunden war. Es ist in jener Nacht davongelaufen, in der sie überfallen worden waren. Vielleicht hatten Rahffs Männer den Hengst sogar mitgenommen.

      Wexmell band die Zügel um den Baumstamm, ließ Karic aber genügend Raum, damit er den Kopf senken und grasen konnte. Dann nahm er Pfeil und Bogen und stakste in den Wald.

      Es dauerte nicht lange, bis er das erste Tier im Blick hatte.

      In geduckter Haltung schlich er näher heran, den Pfeil locker in den Bogen gelegt, aber noch nicht gespannt. Zunächst hielt er den braunen Fellrücken für eines von Carapuhrs absurd großen Eichhörnchen, doch dann stellte es sich als Kaninchen heraus.

      Für einen Moment stockte Wexmell, nicht wissend, was er jetzt tun sollte. Desiderius hatte ihm einst die rührende Geschichte darüber erzählt, weshalb er keine Kaninchen jagte und aß. Genau jene Geschichte kam ihm wieder in den Sinn. Jene Geschichte, und all die anderen, die sie sich damals an dem Fluss erzählt hatten, bevor sie sich im Schutz der hohen Gräser geliebt hatten. Damals, als sie noch so jung gewesen waren, sich gerade erst kennengelernt hatten und herausfanden, was sie von einander erwarten konnten …

      Es schien ein anderes Leben gewesen zu sein.

      Wexmell atmete tief durch, dann spannte er den Bogen und zielte. Genau wie Luro es ihm unzählige Male gezeigt hatte, hielt er die Luft an und erfasste seine Beute. Er schätzte die Entfernung ab, erwog, ob das Kaninchen sich bewegen würde – und wohin. Korrigierte den Pfeil, zielte etwas höher, mehr links, wegen des Windes. Er musste nur noch loslassen, und …

      Er verharrte. Schweiß perlte an seiner Schläfe hinab.

      Warum konnte er es nicht? Er aß gern Kaninchen. Er ging gerne Jagen, seit er sicher im Umgang mit dem Bogen war. Er mochte es, den Köchen in der Burg eine Freude zu machen, wenn er ihnen nach dem Ausritt am Morgen frisches Fleisch vorbeibrachte, dass sie für sich selbst zubereiten und ihren Familien mitbringen durften.

      Es war doch nur ein Kaninchen, sprach er auf sich selbst ein. Desiderius war nicht mehr hier, um etwas an seiner Beute auszusetzen zu haben. Er würde Wexmell nicht mehr tadeln können, ihm keinen seiner griesgrämigen Blicke mehr zuwerfen können.

      Nie mehr.

      Und Wexmell würde nie mehr die Gelegenheit haben, ihm diesen zynischen, verbissenen Ausdruck aus den verhärteten Mundwinkeln zu küssen.

      Nie mehr.

      Wexmell blinzelt die Tränen fort, die ihm in den Augen brannten. Er hatte in seinem Leben jetzt schon wahrlich genug geweint, er war es leid.

      Tu es, drängte er sich. Niemand würde daran Anstoß nehmen.

      Noch einmal spannte er die Bogensehne, richtete den Pfeil auf das Kaninchen und …

      Er konnte nicht.

      Ermüdet sackte er zusammen und ließ sich auf die Knie nieder. Seine Arme fielen mutlos an den Seiten herab, in der einen Hand den Pfeil, in der anderen den Jagdbogen.

      Wenn er nicht einmal fähig war, ein Kaninchen zu töten, nur weil Desiderius es nicht getan hätte, wie sollte er je über ihn hinwegkommen?

      Wobei »hinwegkommen« ohnehin die falsche Bezeichnung dafür war. Wexmell wollte nicht darüber hinwegkommen, dass sein Geliebter jetzt tot war, dass sie sich nie wiedersehen würden. Aber er erhoffte sich doch zumindest, dass dieser elende Schmerz in seinem Herzen langsam abklang. Dass er nachts schlafen konnte. Und dass er nicht jeden winzigen Augenblick seines Lebens daran denken musste, dass er Desiderius verloren hatte.

      Es zerriss ihn innerlich so sehr, dass er kaum zu hoffen wagte.

      Das Schlimmste, das ihn hätte passieren können, war Desiderius zu verlieren, und genau das war eingetroffen.

      Wie sollte er damit umgehen?

      Wenn er doch nur irgendein Zeichen erhalten würde. Irgendein Gefühl. Oder zumindest irgendetwas spüren würde, das ihm das Gefühl gab, Desiderius wachte noch über sie alle.

      Doch da war nichts. Nichts war von Desiderius übrig. Nichts war geblieben.

      Gänzlich unerwartet drängte sich eine Bewegung in sein Blickfeld. Wexmell sah auf und bemerkte ein weiteres Kaninchen, das aus dem Busch hoppelte. Es gesellte sich zu dem anderen, ihre langen Ohren zuckten aufgeregt, ihre winzigen Nasen ruckten schnell auf und ab, ihre Zähne rupften das Gras aus dem Boden und ihre Köpfe flogen nervös hin und her.

      Sie bemerkten ihn nicht, zu reglos kniete er da und beobachtete sie.

      Das dazugekommene Kaninchen hoppelte dicht an das andere, drängte sich dagegen und stupste es mit dem Kopf an. Sie begrüßten sich. Das eine Kaninchen leckte dem anderen über die Stirn, putzte es sorgfältig, woraufhin das Frühstück eingestellt wurde, und das Kaninchen, das geputzt wurde, seinen Kopf drängend seinem Artgenossen entgegenschob.

      Wexmells Mundwinkel verzogen sich zu einem Lächeln.

      Und dann tat die Natur etwas völlig Unpassendes im Angesicht dieses lieblichen Moments. Der Instinkt der Tiere ging mit ihnen durch. Das eine Kaninchen bestieg das andere und rammelte es ungehalten im Dunst des Morgens.

      Für einen Moment sah Wexmell ziemlich belämmert aus der Wäsche, ehe er das Geräusch in seiner Kehle nicht mehr zurückhalten konnte. Er begann leise zu lachen.

      »Vermisst du es?«

      Wexmell fuhr mit einem leisen Aufschrei herum.

      Der Mann hinter ihm, der lässig mit einer Schulter am Baumstamm gelehnt hatte – er musste ihn schon länger beobachtet haben – bedeutete ihm, sitzen zu bleiben.

      Wexmell lächelte etwas verlegen. »Was denn? Das Rammeln?«

      Lachend schlenderte Allahad auf ihn zu. Er ruckte mit der Schulter, woraufhin sein Falke mit dem rot gefiederten Kopf die Flügel ausbreitete