Der verborgene Erbe. Billy Remie

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Название Der verborgene Erbe
Автор произведения Billy Remie
Жанр Языкознание
Серия Legenden aus Nohva 5
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783742739742



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forschte mit einem Blick in Wexmells Augen, der deutlich werden ließ, dass er Wexmell zutiefst bemitleidete, weil er ihn für leicht von Sinnen hielt.

      Seufzend wandte Wexmell sich ab. Niemand würde es je verstehen. Weil niemand die Tiefe der Liebe je verstehen würde, die Desiderius und er für einander empfanden, ob im Leben oder im Tod.

      »Er ist tot, Wexmell«, sagte Allahad einfühlsam, aber erschreckend endgültig. »Wir wünschten alle, es wäre anders.«

      Es gab keine Worte, die Allahad begreiflich machen konnten, was Wexmell meinte.

      »Vielleicht will dein Herz es nicht glauben, weil du … ihn nicht mehr sehen konntest. Seine sterbliche Hülle.«

      »Seine Leiche?«, brachte Wexmell barsch hervor. Ja, nicht einmal diese hatte Rahff zurück nach Carapuhr schicken wollen. Wer wusste schon, was mit Desiderius nach der Hinrichtung geschehen war …

      Daran konnte Wexmell nicht denken, ihm wurde übel dabei.

      Zumindest, so tröstete er sich mehr schlecht als recht, war Desiderius‘ Leiche dort, wo er immer hatte sein wollen. In ihrer Heimat.

      »Es tut mir leid«, sagte Allahad ernüchtert. »Ich bin kein so guter Tröster wie du.«

      »Das liegt derweil an dem, den zu trösten du versuchst, nicht an dir, dem Tröster«, sagte Wexmell und zwang sich zu einem Lächeln.

      Allahad erwiderte es.

      Doch Wexmells Blick glitt wieder ab, seine Miene verdüsterte sich erneut, als er über seine andere Sorge nachdachte, die ihn schon solange quälte. Er musste es loswerden, ehe es ihn verschlang, auch auf die Gefahr hin, seinem Freund die gleiche Angst aufzubürden, die er mit sich herumtrug.

      »Ich war tot! Ich war dort, in der Nachwelt. Ich kann mich an alles erinnern, was ich dort gesehen habe …«, verzweifelt nach Rat ersuchend sah Wexmell Allahad in die Augen, » … und wenn er auch tot ist … warum habe ich ihn dann nicht gesehen?« Seine Augen füllten sich mit Tränen. »Warum waren wir nicht … zusammen dort?«

      Diese Frage verschlug Allahad die Sprache. Er öffnete die Lippen, holte sogar Luft, doch dann schüttelte er nur entschuldigend den Kopf.

      Tief durchatmend drehte Wexmell das Gesicht gen Wald und starrte in die Leere. »Ist es das, was auf uns wartet?«, fragte er mehr sich selbst als Allahad. »Eine leere Welt, die wir allein füllen müssen? Dürfen wir uns im Angesicht des Todes nicht damit trösten, unsere Geliebten wieder zu sehen, die vor uns von dieser Welt schieden?«

      »Er war nicht dort?«, fragte Allahad nach.

      »Nein«, bestätigte Wexmell seufzend. »Niemand war dort.«

      »Vielleicht … weil du doch gar nicht richtig tot warst«, glaubte Allahad. »Du hast weder Zazar gesehen, noch sonst irgendwen. Vielleicht war alles nur ein Traum.«

      »Vielleicht«, stimmte er zu. Aber richtig glauben wollte er es nicht.

      Doch was wäre die Alternative? Dass er die Ewigkeit nach dem Tod ohne Desiderius verbringen würde? Das wollte er nicht glauben. Er wollte nicht glauben, dass sie sich nie mehr wiedersehen würden.

      Nie mehr …

      Der Gedanke machte ihn wahnsinnig.

      Und wenn doch, wenn der Tod doch nur eine Ewigkeit der Einsamkeit bedeutete, dann machte es auch keinen Unterschied, ob er lebte oder starb. Genauso gut konnte er sich zusammennehmen und seine mentale und körperliche Kraft dazu verwenden, die Welt der Sterblichen etwas besser zu machen. Seinen und Desiderius‘ Traum zu verfolgen. Seine Versprechen gegenüber Melecay zu halten. In die Heimat zurückkehren. Seinen Freunden die Gelegenheit zur Rache verschaffen.

      Für Desiderius‘ Traum, für sich selbst, für Karrah, Luro und Allahad, wollte Wexmell nicht verzagen, weshalb er sich immer noch auf den Beinen hielt, obwohl die Last der Welt ihn allmählich zu erdrücken begann.

      Bald würden sie aufbrechen. In wenigen Tagen schon. Sie würden ins gefährliche Elkanasai reisen und einen Kaiser bezwingen.

      Oder zumindest den wahnwitzigen Versuch dazu unternehmen.

      Melecay tat es aus Angst vor dem Kaiserreich, oder wohl mehr aus Rache und Machtgefühl. Wexmell tat es aus Pflichtbewusstsein, wegen der Sklaven und wegen der Bedrohung, die sich bis nach Nohva ausbreiten konnte.

      Erst Elkanasai, dann Nohva. Mithilfe der kaiserlichen Truppen müsste Rahff gezwungen sein, zu kapitulieren. Und wenn nicht, machte es auch keinen Unterschied mehr, er würde sterben.

      Wexmell war kein Mensch der Gewalt, so ein Mann wollte er auch nicht sein. Er war auch niemand, der von Hass zerfressen sein konnte. Doch Rahff hatte ihm tiefe Wunden zugefügt, und Wexmell würde das nicht dulden. Allein für Desiderius musste er den Verräter vom Thron stürzen. Trotzdem hoffte Wexmell, Rahff würde aufgeben, um einen Krieg zu verhindern.

      Doch bevor es überhaupt soweit war, stand Wexmell noch eine lange Reise und eine gefährliche Aufgabe bevor. Erst einmal musste er lebend nach Elkanasai reisen, mitten ins Herz der Hauptstadt, und irgendwie den Kaiser stürzen, ohne dafür getötet zu werden.

      Dazu brauchte es mehr als Mut, es brauchte Gerissenheit.

      Er wusste nicht, ob er schon dazu bereit war.

      Schlimmer als diese Sorgen, war noch der Gedanke, dass Luro und Allahad durch ihn in Elkanasai zu Schaden kamen, bevor sie die Möglichkeit hatten, ihre Heimat wiederzusehen. Ganz zu schweigen von Karrah, die jetzt Mutter und Ehefrau war.

      Wexmell hatte darüber nachgedacht, sie nicht mitzunehmen, aber Karrah war zu eigensinnig. Wenn sie etwas wollte, konnte sie niemand davon abbringen. Sie hatte den Starrsinn von Desiderius, eindeutig!

      Der Vergleich ließ ihn lächeln.

      Letztlich war es nicht seine Entscheidung gewesen, sondern ihre. Sie würde ihn begleiten, und er würde ihre Zauberkraft vermutlich auch brauchen. Selbst wenn nicht, war es immer beruhigend, eine geschickte Heilerin bei sich zu wissen.

      Melecays Bruder Melvin hatte getobt. Er wollte, dass Karrah hierblieb, zusammen mit ihrem gemeinsamen Sohn, dafür wollte Melvin mitreisen.

      Da war ihm Melecay jedoch dazwischengekommen. Der Großkönig hatte sein Machtwort gesprochen. Melvin musste in Carapuhr bleiben, er musste das Land regieren, während Melecay und Dainty abwesend waren.

      Es stand schon seit Wochen fest, wer bleiben und wer gehen würde. Sie alle warteten teils ungeduldig und teils befürchtend auf den Tag der Abreise.

      Als hätte er seine Gedanken gelesen, sagte Allahad nachdenklich: »In Elkanasai reinzukommen wird nicht schwer. Ich befürchte nur, dass es nicht so einfach sein wird, dort lange zu überleben.«

      »Nein, das wird es garantiert nicht.« Und Wexmell hatte schon jetzt das unbehagliche Gefühl, dass er Carapuhr nie wiedersehen würde. Das machte ihn traurig, denn er liebte dieses Land.

      Allahad wandte ihm das Gesicht zu, als drängte sich ihm urplötzlich eine Frage auf, die keinen Aufschub duldete. »Darf ich fragen, weshalb du dich letztlich doch entschlossen hast, nach Elkanasai zu gehen?«

      Wexmell hätte viele gute Gründe nennen können, und alle hätten zu einem geringen Teil sogar der Wahrheit entsprochen. Doch nachdem er kurz den Kopf schuldig hängen gelassen hatte, hob er das Gesicht wieder an und erwiderte Allahads brennenden Blick. »Die Wahrheit?«

      Allahad rang sich ein Schmunzeln ab. »Bist du überhaupt in der Lage, zu lügen?«

      Wexmell lachte leise auf. »Wohl nicht.« Dann ließ er seufzend und ergebend Schultern und den Kopf hängen. Er starrte in den Nebel, der über den Waldboden kroch und der sich ganz gemächlich verzog, während der Vormittag anbrach.

      »Die Wahrheit ist«, hauchte er gestehend, »dass ich hoffte, durch diese Mission vergessen zu können.«

      Voller Mitgefühl und Verständnis verzog Allahad seine Mundwinkel. Er legte Wexmell eine Hand auf die Schulter und drückte sie aufmunternd.