Jakob Ponte. Helmut H. Schulz

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Название Jakob Ponte
Автор произведения Helmut H. Schulz
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783847668800



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die Biografien an! Ich darf mich als ein Vorgriff bezeichnen. Im Folgenden will ich näher darlegen, wo meine Erfahrungsgrenze verlief, die zu überschreiten mir damals nicht gelingen konnte. Die mitzuteilende Episode enthält aber auch den Fingerzeig, wo die Erwachsenen die ihre hatten, und was herauskommt, wenn man mehreren Herren zugleich dienen will.

      4. Kapitel

      Le silence du peuple est la lecon de roi; ob es Königen, Präsidenten, Parteivorsitzenden oder Sekretären und dem Papst gegeben ist, Erkenntnisse aus dem Schweigen des Pöbels zu ziehen, diese Frage entscheidet der Meister Mirabeau immerhin positiv als Lehrstück für die Herrschenden. Wenn das Schweigen eines Volkes die Mächtigen vor Fehlern warnen soll, so ist Beredsamkeit noch lange keine Zustimmung zu ihren Irrtümern. Die Verhältnisse in einer Provinz sind fast immer kleinlich; hier kommt alles später an; vielleicht ist die Provinz gerade deshalb ein Spiegelbild für die Verhältnisse eines Landes. Die Diktatoren großer Reiche bieten neben ihrer Albernheit immerhin gelegentlich das Bild erhabener Macht; ihren kreisbevollmächtigten Satrapen bleibt nur die Rolle des Popanz und der Lächerlichkeit. Zwar sollte ich mich solcher Urteile enthalten, zumal ich mich nicht mit Politik abgegeben habe und auch künftig nicht zu befassen gedenke, aber eben solche Sätze wie die des Mirabeau geben auch noch dem heutigen Zeitgenossen zu denken; sie sollten es wenigstens. Unabhängig späterer Überlegungen ist festzustellen, dass meine Visionen nur vor den Ereignissen eintraten; zum Exempel: Seit den Tagen des Mai, mit dem Beginn der Angriffshandlungen im Westen, hatte ich mich außerordentlich wohlgefühlt, war ganz auf der Höhe des gemeinsamen Impetus der Provinz, sich als Teil einer Großmacht zu fühlen. Auch als die britisch-französische Armee bei Dünkirchen eine schwere Niederlage erlitt, die Briten aber gleichwohl in ihrer Masse der Vernichtung entgingen, befand ich mich, ohne genauere Kenntnis der militärischen Vorgänge natürlich, noch in Hochstimmung wie alle Provinzler. Um die letzten Wochen des Juni finde ich im Tagebuch Mamas Eintragungen wie: Heute wurde der Waffenstillstandsvertrag mit Frankreich unterzeichnet! Bei Jakob keinerlei seelische Erkrankung; ein strahlend gesundes Kind tritt mir entgegen!. Gut!

      Der von Mama erwähnte, der die Kriegshandlungen beschließende Vertrag wurde am 22. Juni 1940 unterzeichnet, für diejenigen, die sich für dergleichen Datierungen noch interessieren. Ich stand zwischen meinem fünften und meinem sechsten Lebensjahr; wenn mir schon keine tieferen Einsichten abverlangt werden durften, und wenn die Eintragungen in Mamas Tagebuch eine persönliche Anteilnahme an den weltgeschichtlichen Dingen nehmen, so hätte von meinen Verwandten und dem Stadtvolk Müllhaeusens doch wohl erwartet werden dürfen, an die Zukunft über dieses Abkommen hinaus zu denken. Aber, um gerecht zu sein, von einer Niederlage war weithin keine Spur zu erkennen, und meine telepathischen Fähigkeiten bezogen sich nun einmal nicht auf Niederlagen, sondern bloß auf die kommenden Siege. Möglicherweise ist mir deshalb meine telepathische Fähigkeit abhandengekommen. Ein Volk kann vielleicht in corpore jubeln, aber offenbar nicht ebenso einmütig sich selbst misstrauen. Einstweilen feierten wir mit der ganzen Provinz. Vor meinem Fenster dröhnten die Trommeln, es flatterten die Fahnen, und das alte Rathaus legte Festschmuck an. Kindisch bezog ich indessen alles auf mich und sah glücklich hinunter auf die trommelnden Kinder, die vielleicht noch des Glückes teilhaftig werden konnten, in den Kampf zu ziehen. Die Provinz wollte und konnte von den Ermahnungen der Welt, den Juden und den Kommunisten und allgemein andersgläubigen Toleranz zu gewähren, nichts wissen.

      Natürlich liegt auch immer eine Absicht in der erzeugten und beförderten Stille, von der Mirabeau spricht. Als ich aus Anlass des Sieges und der Idee absoluter Ordnung, einer erhabenen und siegreichen Diktatur, auf meine Weise Beifall spendete, wusste ich nicht, was ich tat. Gleichsam von selbst entstand in mir der Zwitter aus opponierender Stille und verzückter Staatsanbetung, die bis heute an uns Deutschen als Topoi zu studieren ist; immer ist das Gegenwärtige das moralisch Recht! Es ging mir, wie ich nochmals betone, seit dem Angriff auf den Westen und dem Sieg in Frankreich seelisch ausgezeichnet, obschon die Leiden, die ich und alle anderen vor sich hatten, abzusehen gewesen wären, und es ist nicht ohne Interesse, mitzuteilen, was Doktor Wilhelmi in einer weiteren Schrift über mich wissenschaftlich darlegte. Er charakterisierte meine Leiden als das Hölderlinsyndrom, das er als solches natürlich ablehnte; ich werde zu gegebener Zeit darauf zurückkommen, kann mich für jetzt auf den Ausschnitt aus der Zeitschrift Der Nationalsozialistische Arzt, den Mama aufbewahrt hat, berufen.

      Auf dem Platz vor meinem Fenster herrschte also die ausgelassenste Stimmung. Ein Junge im schönen braunen Hemd mit Koppel und Schulterriemen, mit Halstuch im Lederknoten, das Kriegsmesser an der Seite, hängte sich die Landsknechtstrommel um, kreuzte die Schlegel sieghaft über dem Kopf, der mit einem braunen Käppi, einem Schiffchen, bedeckt war, und ließ sie auf das Kalbfell niedersausen! Nach einem dumpfen Wirbel mischten sich die heller rasselnden Flachtrommeln in den Schlachtgesang der großen Trommel; zugleich hoben ältere Jungen die blinkenden Fanfaren. Hände auf die Hüften gestützt, brachte die männliche Jugend ihre Instrumente in Blasposition, indessen alle kleinen Geschäftsleute am Platz vor die Türen traten, die Hände zum Deutschen Gruß hoben oder anders Beifall bekundeten. Aus allen Fenstern wurden die Fahnen mit dem Hakenkreuz gesteckt, und auf dem Balkon des Rathauses erschienen die uniformierten Notabeln der Provinz. Einer hielt die Siegesrede, immer wieder vom Beifall unterbrochen. Zuletzt sangen wir alle die feierlich getragene Weise des Deutschlandliedes, unsere Nationalhymne und daran angehängt das Kampflied der Sturmabteilungen: Die Fahne hoch, die Reihen fest geschlossen. Das optische Bild des Volksfestes ist hier noch wiederzugeben; die großen und kleinen Verkaufsbuden, umlagert von Menschen, grünen, braunen, schwarzen Uniformen und Frauen allen Alters und Aussehens, die Kapellen auf den Podesten, Märsche und Schlager intonierend, Possen reißende Ansager auf kleinen Bühnen, volkstümlich kostümierte Jugend aus den umliegenden Dörfern, die Kultur-, Tanz- und Singkreise thüringisch-deutschen Brauchtums, schließlich der Auftritt Großvaters in der vordersten Reihe seines Männergesangvereins, intonierend: Das ist Lützows wilde verwegene Jagd ... Eijah.

      Ich durfte bis in den Abend aufbleiben, bis zum Fahnenappell. Unweit des zischenden Brunnens errichteten Stadtarbeiter einen Holzstoß. Ringsum standen wir Provinzler und sahen erwartungsvoll zu. Kräftige junge Leute in braunen Uniformen, Menschenblöcke bildend, betraten im Gleichschritt den Platz. Einer setzte in tiefer Stille den Holzstoß in Brand; und wirklich züngelte die Flamme hochauf und beleuchtete ihre martialischen Gesichter. Flamme empor, hieß es, steige mit loderndem Scheine und so weiter … Mit gewichtigem Ernst blickten alle in das prasselnde Feuer, ich an der Hand meines geistlichen Lehrers Hochwürden Fabian. Großmutter stand ebenfalls bei uns, Großvater und Mama fehlten. Seit dem Nachmittag hatte sie keiner von uns mehr gesehen. Ich dachte nicht weiter über ihre Abwesenheit nach, was auf dem Platz geschah, war interessanter. Durch das Geprassel des Feuers klang die Stimme des Führers der Jugend. Was er sagte, verstand ich nicht, aber die Stimmung am Abend der Siegesfeier ist mir im Gedächtnis geblieben. Wir hielten aus, bis der Holzstoß verglimmt war. Im Gleichschritt verließen die Kolonnen den Platz; zuletzt verliefen sich die Leute, und die städtischen Arbeiter beseitigten die Reste des Brandes. Bis zu unserem Haus waren es nur ein paar Schritte. Großmutter forderte ihren Neffen auf, ein Glas mit ihr zu trinken.

      »Mein alter Narr nutzt die Gelegenheit zu einer Saufpartie, natürlich«, sagte Großmutter verärgert. »Ich kann Ihnen versichern, die Ehe ist im Allgemeinen ein Kreuz, und zwar für beide Seiten; meine ist eine Strafe. Seien Sie froh, einem bösen Weibe entgangen zu sein.«

      »Wie man es nimmt, liebe Tante. Schlecht getroffen haben Sie es mit Ihrem Mann eigentlich nicht, aber es ist immer dasselbe mit euch Weibern, mit eurer ewigen Unruhe, euren andauernden Erwartungen und Sehnsüchten, Symbol und Abbild der Schlange.«

      Lachend sagte Großmutter: »Sie tun mir zu viel Ehre an, aber sonst mögen Sie recht haben. Wie war das mit dieser verflixten Viper im Paradies? Auf dem Bauche kriechen und Dreck fressen soll sie? Kinder unter Schmerzen gebären. Und da fällt mir ein, dass auch meine Tochter noch nicht im Bett liegt.« -

      »Vielleicht doch«, sagte er, »wenn auch nicht ihrem Eigenen; nach der Beichte werde ich es wissen.«

      »Was hat uns der Tag gebracht? Was denken Sie?« fragte Großmutter.

      »Die Frage ist, was er uns genommen