Jakob Ponte. Helmut H. Schulz

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Название Jakob Ponte
Автор произведения Helmut H. Schulz
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783847668800



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Sie eine Partie Schach mit mir! Übrigens, wissen Sie, was unlängst drüben in Weimar passierte, ich meine, in dem Lager? Da fielen ihnen ein paar Leichen von einem Laster auf die Straße, die ins Krematorium gebracht werden sollten. Tolle Zustände, wie.«

      »Ja, ich hörte davon, und besser bringen Sie dieses Kerlchen mit den langen Ohren zu Bett, ehe wir uns in Einzelheiten verlieren.«

      Gern wäre ich noch aufgeblieben, aber Großmutter ließ sich nicht erweichen.

      Meine arme Mama musste in diesen Tagen die schwierige Aufgabe lösen, mich zu einem guten Christen und zugleich zum nationalsozialistischen Staatsbürger zu erziehen. Ich sollte gebildet sein, eine allseitig gebildete Persönlichkeit werden; in einer arbeitsteiligen Welt ein holder Traum, von der ursprünglichen gewollten Ungleichheit der Menschen einmal abgesehen. Als Mama an einem Mittwoch ihren Entschluss im Familienkreis verkündete, mich in die Kinderstunde zu senden, stellte Meister Fabian seine Kaffeetasse auf den Tisch und blickte sie prüfend an, eine Erklärung fordernd. Auch Großmutter verbarg ihr Erstaunen nicht. »Und warum soll Jakob in den Kindernachmittag geschickt werden?«, fragte sie.

      »Erstens haben wir als Gewerbetreibenden allen Grund, nicht aufzufallen, und zweitens ist es nur gut, wenn Jakob mit Kindern seines Alters spielt.« Dieser Erklärung setzten sie keinen Widerstand entgegen und Mama brachte mich also eines Tages in einen Kindergarten am Rande unserer Stadt und übergab mich einer Tante. Diese Tante zu schildern, will ich versuchen, obschon das Ereignis lange zurückliegt. Ich konnte hier zum ersten Mal meine Fähigkeit zur Parodie freien Lauf lassen. Anfangs stotterte ich sie an, weil ich ihren Namen nicht behalten konnte, nannte sie einmal sogar Herr. Mama hatte gesagt, hier sei ihr Kleiner, er spiele Klavier, singe wie ein Engel und werde später das Geigenspiel erlernen oder nach Südamerika auswandern, um das Deutschtum zu verbreiten. Zwar seien wir religiös, was uns aber nicht daran hindere, dem Führer unsere Kinder zu schenken. Anscheinend gefiel der Tante diese Rede, denn sie nickte ungefähr so wie eines jener Männchen, die ein Gelenk im Genick haben und bei jeder Erschütterung mit dem Kopf wackeln; solche Nickfiguren standen damals in vielen Schaufenstern. Zufälligerweise fragte sie nicht nach meinem Ariernachweis; vielleicht aber nahmen sie es damit nicht so streng wie üblich. In der kurzen Zeit meines Wirkens in einer nationalsozialistischen Kinderstunde habe ich nie Gelegenheit gefunden, meine Talente zu beweisen, weil wir anderweitig beschäftigt waren. Das Musizieren der Jugend war damals übrigens noch harmlos, gemessen an den heutigen Tonparametern, dem Hämmern von Elektrogeräten und Überschallanlagen, durch die jede läppische Tonfolge zur Kampfansage an uns geworden ist … »Ich denke, es wird gut sein, dass er zu Ihnen kommt«, hatte Mama meine Übergabe an eine staatliche Erziehungseinrichtung beendet. Vielleicht dachte Mama, sie hätte das Ihrige getan, indem sie mich teilte, in eine dem christlichen Gott reservierte, und in die andere, weltliche Hälfte, die dem Führer gehörte.

      Dem Zeitgenossen brauche ich das Verfahren, kindliche Seelen zu manipulieren, nicht zu erklären; er ist genügsam bekannt mit der Prozedur. Unter der Aufsicht dieser Tante sangen und spielten und tanzten wir kleinen Blödiane wie junge Hunde um sie herum, lernten Gedichte und sagten sie auf, und taten mancherlei Unsinniges. Der Raum, in welchem alles geschah, war klein; an der Stirnwand hing ein Führerbild, davor stand ein Tisch für die Tante, und an diesem Tisch in T-Form ein weiterer Tisch für uns, vielleicht zwölf oder fünfzehn kleinen Mädchen und Jungen. Ich entwickelte eine starke Neigung zu meinen gleichaltrigen Gefährten, mein kindliches Gemüt wurde empfänglich für den Anmut der kleinen Mädchen, um deren reine Stirnen zu Kronen geflochtene blonde und braune Zöpfe gewunden waren. Sie erschienen mir allesamt niedlich mit ihren rosigen Lippen und dunklen oder hellen Kinderaugen. Es gab natürlich auch weniger auffallende Gören mit glattem Haar und farblosen Augen, aber diese interessierten mich weniger. Die Jungen gefielen mir auch, obschon ich mit keinem nähere Bekanntschaft schloss.

      Ich erwähne mit Nachdruck diese frühe Hinneigung zum Menschen, zum Weibe zumal, die sich bei mir ausbildete; in der Kindergruppe wurde der Keim zu einem vorerst noch dunklen Trieb, der sinnlichen Freude am anderen Geschlecht, in mir geweckt. Ich ging also gern in die Kinderstunde und genoss die Wirkung, die ich selbst ausstrahlte. Neben mir setzten sich die hübschesten kleinen Mädchen, vielleicht weil ich heiter und gesprächig war, vielleicht aus anderen Gründen, wer weiß. Übrigens sagten alle Erwachsenen, dass die Kinderstunde einen guten Einfluss auf mich ausübe. Wir bastelten dem Führer Geschenke, oder wir schrieben Briefe an ihn, ungeachtet der Tatsache, dass wir noch gar nicht schreiben konnten. Alles wurde an den Lustsitz des Reichskanzlers geschickt. Und wirklich, er mag sich über unsere Briefe gefreut haben. Wir selber freuten uns auch, wenn es uns gelungen war, ihm einen Brief zu schreiben, das heißt, der Tante in die Feder zu diktieren. Bei meiner Neigung, alles auf mich zu beziehen, war ich nicht mehr weit davon entfernt, mit dem Führer zu sprechen, ihn zu hören, zu sehen, wie er die Lippen bewegte: Du hast mir geschrieben? Ich danke dir, Jakob! Ich werde mich erkenntlich zeigen«, denn wer etwas geschenkt bekam, dem oblag die Pflicht, seinerseits zu schenken. Ich befand mich also im Zustand völliger Unschuld, die Tante aber auch. Der Führer muss ihre erste und einzige Liebe gewesen sein. Nie gelang es ihr, das Wortpaar Unser Führer auszusprechen und in normaler seelischer Verfassung zu bleiben, meist war sie den Tränen nahe, wie ich mit Erstaunen feststellte. Die Tante fesselte mich also ungemein, und so achtete ich nicht so sehr darauf, was, sondern wie sie es sagte. Ihr Gesicht erinnerte an das eines bestimmten Vogels, und zwar des Schuhschnabels. Seiner eckigen Form wegen passte der Unterkiefer der Tante nicht recht zur oberen Gesichtshälfte. Mit träger Langsamkeit glitten die Lider über ihre gelblichen Augäpfel auf und nieder, was einen verblüffenden Effekt erzielte. Zu Hause probierte ich aus, ob ich auch die Geduld aufbringen würde, meine Lider wie Jalousien zu bewegen, worauf mir Großmutter kurzerhand verbot, solche Grimassen zu schneiden.

      Während der wöchentlichen Kinderstunde mussten wir aufstehen, und die Hand zum Deutschen Gruß erheben. Die Tante zeigte, wie man es macht; mit geschlossenen Fingern und steif abgestrecktem Arm. Verzückt starrte sie mit erhobener Hand in die Luft, dazu klappten ihre Augendeckel in der erwähnten Art und Weise, obschon ich nicht weiß, ob diese Lidträgheit allen Schuhschnäbeln eigen ist und nicht nur dem einen Exemplar, das ich im Erfurter Zoo bei einem Besuch gesehen hatte. Zwischen diesen Andachtsübungen hüpften wir im Kreise herum. Kurz gesagt, alles war so albern wie nur möglich, aber nicht ohne Wirkung auf uns, wenigstens auf mich. An den Umgang mit Erwachsenen gewöhnt, war ich Gleichaltrigen voraus und nach anfänglicher Begeisterung des Kindergartens schnell überdrüssig. Mama bestand jedoch darauf, dass ich weiter einmal wöchentlich zur Tante ging, und mir blieb nichts anderes übrig, als zu gehorchen.

      Eines Nachmittags, als wir im Erkerzimmer Kaffee tranken, fragte Großvater, was wir eigentlich in der Kinderstunde täten. Treuherzig berichtete ich, dass wir Briefe an den Führer schrieben, worauf Hochwürden verwundert, aber zutreffend bemerkte, dass wir ja noch nicht schreiben könnten. Also musste ich erklären, wie diese Kundgebungen unserer Loyalität zustande kamen. Dummheit, diese sogenannte Tante müsse ein ausgewachsenes Exemplar an Dummheit sein, sagte er. Großmutter nickte, aber sie schränkte ihre Zustimmung auch wieder ein, indem sie darauf hinwies, dass wir kleinen Leute mehr als andere auf den Großmut der Mächtigen angewiesen seien. Im Städtchen kannten sich alle, zumindest kannten sich diejenigen, die etwas vorstellten, oder die sich einbildeten etwas zu sein, und folglich einander hudelten, verabscheuten und anschwärzten. Der Geistliche schlug vor, mich aus der Kinderstunde herauszunehmen, selbst wenn Geschäftsleute bestimmte Rücksichten nehmen müssten, was er respektiere. Ich war aufgeregt, stand ich doch im Mittelpunkt, und ließ mich zu einer Darbietung hinreißen. Des Beifalls gewiss, machte ich vor, wie die Tante mit den Augendeckeln klappte, spielte eine regelrechte kleine Etüde und fragte mit verstellter Stimme: Möchtest du, dass ich dem Führer schreibe, wie lieb du ihn hast? Oder soll ich ihm schreiben, dass du ihn nicht lieb hast? Ich zeigte ihre Art des Deutschen Grußes; es war sicherlich eine gelungene Vorstellung meiner Anlagen und Talente, sodass sich Großvater vor Vergnügen auf die Schenkel schlug, und selbst Großmutter zu einem Lächeln bewegt wurde. Als ich geendet hatte, stieß Mama einen Seufzer des Entzückens aus, und wendete sich an alle mit der Frage, ob ich nicht zum Schauspieler geboren sei. Nur Meister Fabian, auf unser aller Wohlergehen bedacht, lächelte nicht, er hielt den Kopf gesenkt und sagte eindringlich: »Höre, Jakob, du darfst so etwas unter keinen Umständen woanders aufführen!«

      Nach