Название | Der Zauber von Regen |
---|---|
Автор произведения | Liliana Dahlberg |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783737534710 |
Zufrieden zückte dieser seine alte Taschenuhr und verkündete voller Stolz: »Wir befinden uns gut in der Zeit! Alles läuft nach Plan!«
Er war mit seiner Garderobe sehr konventionell. Er trug einen dunklen Cordanzug, und darunter glänzte sein seidenes Hemd. Darin verborgen lag jenes Erbstück, auf das Lennart Petri unter keinen Umständen verzichten wollte: seine goldene Taschenuhr. Sie zeigte einst seinem Großvater die Uhrzeit an — und in seinen Augen sogar mehr. Er war davon überzeugt, dass ihm diese auch als wichtiger Orientierungspunkt diente und ihm half, die richtigen Entscheidungen zur rechten Zeit zu treffen. So war sich Lennart Petri sicher, dass man von ihrem Zifferblatt mehr als einfach nur die Uhrzeit ablesen konnte. Es war nur die Kunst, die Stellung der Zeiger richtig zu deuten.
Er erzählte den Menschen, die es interessierte, die Geschichte zu diesem Erbstück.
Es war sein Großvater, der es seinem Sohn zu dessen Volljährigkeit schenkte, ihm tief in die Augen blickte und sagte: »Mein Junge, das, was du hier siehst, ist mehr als nur eine gewöhnliche Uhr. Sie soll ab jetzt dein stetiger Wegbegleiter sein. Ich weiß, wie wichtig in unserer Gesellschaft der richtige Umgang mit der Zeit ist. Aus diesem Grund schenke ich dir diese Taschenuhr, damit du wichtige Momente in deinem Leben nicht versäumst. Lass dich von ihr leiten.« Mit diesen Worten legte er seinem Sohn die Taschenuhr mit ihren goldenen und leicht verschnörkelten Zeigern und ihrem römischen Zifferblatt in die Hand. Das Licht fiel auf die Uhr und ließ sie in einem besonderen Glanz erstrahlen. Lennart Petris Vater glaubte seit diesem Tag und mit dem Eintritt in das Erwachsenenleben, einen wichtigen Schatz von unmessbarem Wert geschenkt bekommen zu haben. Er hütete ihn wie seinen Augapfel. Auch hallte ihm der Satz in den Ohren, den sein Vater bezüglich der Uhr auch noch an ihn gerichtet hatte. »Weißt du einmal nicht mehr weiter, sieh auf mein Geschenk, und dir wird klar, was zu tun ist.« Es mochte übertrieben erscheinen, dass einem bei dem Anblick dieser Uhr auf eine Fülle von Fragen viele Antworten in den Kopf kamen, doch Lennart Petris Vater war davon überzeugt, gab den Glauben an die besondere Bewandtnis seiner Taschenuhr an seinen Sohn, Nadines Chef, weiter und überreichte sie ihm, als er vor seinem Examen im Architekturstudium stand. Lennart Petri bestand die Prüfung mit Auszeichnung und maß seitdem dem Schmuckstück eine große Bedeutung bei. Er betrachtete es aus genau den gleichen Augen wie jene Familienmitglieder, die vor ihm schon die Uhr aus ihrer Tasche zurate gezogen und den besonderen Zauber gespürt hatten, der von ihr ausging. Es steckte wahrlich ein Stück Weisheit in dieser Uhr — und viel Tradition der Familie Petri.
Nadine blickte ebenfalls auf ihre Uhr. Es war gleich sechs und ihr Feierabend so gut wie gekommen. Früher hatte sie sich immer auf ihn gefreut und darauf, ihre Wohnung zu betreten. Doch nun herrschte bei diesem Gedanken eine unsagbare Leere vor. Sie schritt schließlich, als der kleine und der große Zeiger die entsprechende Position eingenommen hatten, aus der Tür und die Friedrichstraße entlang. Nadine verlor sich ein wenig in den Schaufenstern der Geschäfte. Sie beäugte neben ein paar braunen Boots einen sehr dicken Wintermantel, der sich schon in die Boutique, vor der sie stand, verirrt hatte. Nadine überlegte, sich ihn in der weisen Voraussicht zuzulegen, dass ihr wohl der kälteste Winter, den sie seit Langem erlebt hatte, bevorstand. Vielleicht konnte er ihr auch ein wenig das Herz wärmen. Nun betrachtete sie noch ihr eigenes Spiegelbild. Es wirkte traurig. Ihre Gesichtszüge sahen so regungslos aus wie die der Schaufensterpuppen. Diese präsentierten sich ihrem Sylter Publikum in der neuen Herbstkollektion und klärten darüber auf, was Mann und Frau in der kommenden Jahreszeit unbedingt zu tragen hätten. Nadine ermutigte sich zu einem Lächeln. Es war schließlich sonst nicht ihre Art, in Selbstmitleid zu zerfließen.
»Nur Mut!«, sagte sie halblaut und dachte: Du kannst auch anders!
Sie zog ihre Mundwinkel leicht nach oben. Nun reflektierte die Fensterscheibe ein anderes Bild, das viel besser zu ihrem schönen Gesicht und ihren langen blonden Haaren passte.
Noch jemand war Zeuge dieser Veränderung geworden. Plötzlich erklang eine vertraute Stimme hinter ihr: »Gut so, Nadine! So gefällst du mir schon viel besser.«
Sie drehte sich ruckartig um und blickte in das gutmütige Gesicht ihres Vaters.
»Schön, dass ich dich hier finde! Ich wollte dich von der Arbeit abholen. Doch ich war wohl ein wenig zu spät dran. Hab mir aber gedacht, dass ich dich hier auf der Flaniermeile sehe. Aber glaubst du, dass diese Schaufensterpuppen eine gute Gesellschaft sind? Ein bisschen wortkarg, nicht?« Er lächelte sie liebevoll an: »Wie stehen die Aktien, Liebling?«
»Du meinst, nach dem Börsenkrach?«, fragte Nadine. Ihr Gesicht verdüsterte sich erneut ein wenig. »Nun, ich kann dir nur sagen, dass Tom anscheinend eine totale Fehlinvestition war und Veronika eine falsche Spekulantin.«
»Dachte ich mir, aber wie wär’s, wenn du mir bei einer etwas stumpfsinnigen Aufgabe hilfst?«
»Die da wäre?«
»Nun«, begann er schmunzelnd, »Götter soll man doch bekanntlich friedlich stimmen …«
»Du kleiner Witzbold. Du redest von Mama«, erriet Nadine.
»Ja, Engelchen. Ich dachte mir, um sie gütig zu stimmen und eine neue Eiszeit zu verhindern, wenn wir aufeinandertreffen, dass ich ihr den Pelzmantel kaufe, den sie sich schon seit Weihnachten wünscht. Ich habe das bisher aus Prinzip nie gemacht. Aber nun ja …«
»Wir haben nach sechs, Paps, ich glaube nicht, dass ein geeignetes Geschäft noch aufhat«, sagte Nadine überrascht.
»Hab ich’s doch gewusst«, meinte ihr Vater sichtlich erleichtert und sogar erfreut. »Dann muss der Herzenswunsch deiner Mutter noch eine Weile warten. — Übrigens, Nadine …«, es kam zu einer kurzen Pause, »ich weiß schon, dass du ein großes Mädchen bist, aber es ist für mich kein gutes Gefühl, dich jetzt in deiner Wohnung alleine zu wissen.«
Ein Angebot, das sie gestern noch ausgeschlagen hatte, nahm sie jetzt dankend an. Ja, sie würde einige Tage in ihrem alten Kinderzimmer und in ihrem Elternhaus verbringen.
Es war für sie ein großes Glück, dass sich ihre Mutter damals nicht durchsetzen konnte und das Zimmer in keinen begehbaren Kleiderschrank verwandelt hatte. Sie war zwar nur schwer davon abzubringen gewesen, da sie fand, dass all ihre Designerkleider einen gebührenden und vor allem viel Platz benötigten. Ihr Mann konnte ihr jedoch versichern und sie davon überzeugen, dass sie sich in ihrem alten Kleiderschrank im Schlafzimmer genauso wohlfühlen würden und sie keine Platzängste ausstehen müssten.
Nadine verbrachte einen schönen Abend mit ihrem Vater in seiner eindrucksvollen Villa etwas abseits in Kampen. Er sagte seinen Besuchern immer scherzhaft, die ihn dort in seinem Heim aufsuchen wollten und den Weg nicht kannten, sie bräuchten kein Navigationssystem, sondern sollten sich ganz auf ihre Nase verlassen. Sie müssten einfach dem Geruch von Geld folgen. Glaubten sie, seine höchste Konzentration erreicht zu haben, sei es zu ihm nicht mehr weit.
Man sollte sich von dem Äußeren des gigantischen Gebäudes nicht täuschen lassen. Das Reetdach und der etwas kühl anmutende weiße Anstrich ließen nämlich nicht erahnen, dass es im toskanischen Stil eingerichtet war und man wirklich das Gefühl hatte, etwas von der Sonne der Toskana in das Herz hineinzulassen, sobald man es betrat und dieses besondere italienische Flair verspürte. Helle und warme Farben dominierten das Anwesen. Es zog insbesondere Italienliebhaber unweigerlich in seinen Bann, und Wohlbehagen machte sich breit.
Nadine saß mit ihrem Vater beisammen, und sie aßen ihr Leibgericht: Spaghetti mit Pesto. Dazu tranken sie einen Spätburgunder. Sie redeten von früher, als noch ein Mädchen mit lauter Sommersprossen und Zahnlücken durch die Zimmer rannte und die Welt mit großen Augen und viel Neugier erkundete.
Ihr Vater erinnerte sich gut an diese Zeit und stellte fest: »Diese unglaubliche Neugier, die schon aus dir sprach, als du deine ersten Schritte hier unternommen hast, ist dir nie verloren gegangen. Versprich mir, dass du sie dir auch in Zukunft bewahren wirst.«
»Mach