Ein gestörtes Verhältnis. Elisa Scheer

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Название Ein gestörtes Verhältnis
Автор произведения Elisa Scheer
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783737547741



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mal festgestellt, allerdings außer Jessicas Hörweite.

      Die nämlich hielt sich für die beste Mutter auf Gottes weiter Welt, verständnisvoll, loslassend, fördernd, pädagogisch hochtalentiert und selbstverständlich die beste Freundin ihrer Kinder, die ihr auch heute noch alles anvertrauten. So äußerte sie sich wenigstens bei den jährlich fälligen Homestories.

      Natürlich vertraute keines ihrer Kinder ihr irgendetwas an, denn sie hätte es sofort in das nächstbeste Mikro geplappert – oder auf ihrem Facebook-Account gepostet. Der unzutreffende Käse, der dort zu finden war, reichte ihren Kindern schon.

      Manchmal fragte sie sich schon, ob Jessica eigentlich skrupellos war. Oder naiv? Oder einfach nur publicitygeil…

      Sie selbst würde nur sagen Ich liebe meine Kinder eben – warum soll ich das nicht aller Welt erzählen?

      Jerry und Jul sahen das naturgemäß etwas lockerer, denn ihnen nützte das ewige „Sind Sie nicht der Sohn von Jessica Rother?“, ja auch beruflich, Judith aber nicht. Und sie wollte auch nicht gefragt werden, wie toll es denn wohl war, die Tochter einer bekannten Schauspielerin zu sein. Sie war auch noch die Tochter eines erfolgreichen mittelständischen Unternehmers und arbeitete in seiner Firma als – mehr oder weniger – Juniorchefin. Das fand sie bedeutend wichtiger als das bisschen geborgten Glanz von roten Teppichen und Preisverleihungen. Hatte Jessica eigentlich jemals -? Judith konnte sich jedenfalls im Moment nicht daran erinnern.

      Sie lag gemütlich auf dem Sofa und blinzelte in Richtung Fernseher, wo gerade die Lokalnachrichten kamen. Äh, Local One war wirklich ein Krawallsender, aber die Fernbedienung lag immer noch auf dem Display des Fahrrads, und sie hatte gerade so gar keine Lust, aufzustehen. Jetzt waren eben ihre faulen fünf Minuten…

      Toll. In der Altstadt hatten sie ein Lokal geschlossen, wegen allzu schmuddeliger Küche, sagten aber nicht, wie es hieß. Und sie zeigten zwar die Küche von innen, aber nicht die Fassade von außen. Sehr hilfreich! Obwohl, sie ging ohnehin fast nie essen, ab und zu mit Papa oder (noch seltener) mit ihrer Mutter ins Médoc, und das würde ja wohl seine Küche putzen…

      Der Fuggerplatz sollte auf Anwohnerparklizenzen umgestellt werden. Die vielen Anwälte dort würden sich freuen, wenn ihre Mandanten nicht mehr parken konnten…

      Eberhard Schmiedl hatte seine Strafe – elf Jahre wegen Entführung – abgesessen und wollte nach Leisenberg zurückkehren.

      Judith fuhr auf und starrte ungläubig auf den Bildschirm: Schmiedl? Das Schwein war wieder frei?

      In dem kurzen Einspieler sah man ihn mit einer Reisetasche das Gefängnis in München verlassen und unsicher blinzeln, als habe man ihn elf Jahre lang in Dunkelhaft gehalten. Die Off-Stimme erinnerte an die tragische Zeit im Leben der bekannten Schauspielerin Jessica Rother (Einblendung eines älteren, jedenfalls sehr jugendlich wirkenden Porträts), als ihre Tochter entführt worden war. Tagelang hatte die sensible Mutter um das Leben ihres Kindes gebangt, bis es endlich freigelassen worden war…

      Kind? schnaubte Judith im Stillen – sie war siebzehn gewesen, damals vor zwölf Jahren, kein Kind mehr.

      Und gelitten hatte natürlich nur Mama – aber sie selbst verbot es sich ja auch stets, an diese Wochen zurückzudenken. Sie hatte Schmiedls Gesicht in dem Keller nie gesehen, er hatte stets eine Maske getragen, wie dieser andere, der irgendwie umgekommen war… Aber Schmiedl hatte schließlich gestanden – und Mama hatte ihn im Gerichtsaal geohrfeigt und das Ordnungsgeld lächelnd akzeptiert. Schöne Geste. Das war der Tag, an dem sie selbst auch im Gericht gewesen war…

      Eine Aussage hatte sie nicht mehr machen müssen, sie hatte bei der Kripo ausgesagt, und das Geständnis hatte ihr einen Auftritt vor Gericht erspart. Aber diesen Mann zu sehen, zu hören, wie alle seine Verbrechen aufgezählt wurden, wie die Fotos von ihren Verletzungen herumgereicht wurden… da half es auch nichts, dass ihre Mutter ihr tröstend die Hand tätschelte und Papa an diesem Tag sogar neben ihr saß. Extra für sie hatte er an diesem Tag die im Stich gelassen! Auch wenn Jessica gefunden hatte, das sei ja wohl das Mindeste…

      Immerhin hatten sie sich im Gerichtssaal nicht – wie sonst – leise zischelnd streiten können. Das hatte sie damals ganz besonders gehasst.

      In diese Gedanken und Erinnerungen versunken hatte sie den Rest des Beitrags verpasst. Vielleicht war es besser so – ob dieser Schmiedl sich ihr nähern würde? Im Telefonbuch stand sie nicht, in sozialen Netzwerken war sie ebenso wenig vertreten – und wer sollte vermuten, dass sie als Tochter einer prominenten Schauspielerin und eines wohlhabenden Unternehmers in dieser doch arg kleinen und abgelegenen Wohnung hauste?

      Trotzdem stand sie jetzt auf und sah nach, ob sie den schweren Stahlriegel an der Wohnungstür auch wirklich vorgelegt und abgeschlossen hatte. Hatte sie. Und alle Fenster waren geschlossen und abgesperrt, eines Tages würde sie hier noch an Sauerstoffmangel sterben. Nein, es gab ja in der Küche diese winzige Klappe über dem Fenster, zwanzig mal zehn Zentimeter groß und so weit oben, dass man keinesfalls – an der glatten Fassade im dritten Stock klebend – von außen nach dem Fensterriegel greifen konnte.

      Hier war sie sicher, ganz bestimmt. Und den Fassadenkletterer wollte sie erst einmal sehen!

      Ihr Handy klingelte. Sie kannte die Nummer auf dem Display nicht, nahm das Gespräch aber trotzdem an, was sie sofort bereute: Eine freundliche junge Dame stellte sich unter einem ihr unbekannten Namen vor und kam so lange nicht zur Sache, dass Judith sie ungeduldig unterbrach: „Ich abonniere nichts, meine Finanzen gehen Sie nichts an und ich nehme auch nicht an Umfragen teil. Ach ja, und Glückslose möchte ich auch nicht. Sagen Sie mir bitte noch einmal deutlich ihren Namen?“

      „Warum das denn?“

      „Na, unerwünschte Telefonwerbung ist doch verboten. Ohne Namen kann ich Sie schließlich schlecht anzeigen, nicht?“

      „Ich rufe nicht zu Werbezwecken an, ich arbeite bei HOT!. Darf ich Sie etwas fragen, Frau Schottenbach?“

      „Dann hätte ich zuerst eine Frage, Frau Wie-auch-immer: Woher bitte haben Sie meine Nummer?“

      „Wir haben unsere Quellen.“

      „Sie verstoßen also ungeniert gegen den Datenschutz? Sehr, sehr interessant.“

      Gegrummel am anderen Ende. „Eberhard Schmiedl hat seine Strafe abgesessen. Was fühlen Sie dabei?“

      „Wer ist das?“, fragte Judith, in der Hoffnung diese blöde Kuh entweder zu verwirren oder zu ermutigen.

      „Aber Sie müssen doch etwas fühlen!“

      „Im Moment? Desinteresse, leichte Gereiztheit, Hunger. War´s das?“

      „Wieso Gereiztheit?“

      „Weil ich gerade am Telefon von einer aufdringlichen – naja – belästigt werde, obwohl ich gerne zu Abend essen würde.“

      „Eberhard Schmiedl war der Mann, der Sie entführt hat, das können Sie doch nicht vergessen haben?“

      „Daran möchte ich aber nicht erinnert werden.“

      „Aber das müssen Sie! Die Öffentlichkeit hat doch ein Recht darauf, alles -“

      „Hat sie nicht. Mein Leben geht die Öffentlichkeit einen – mal wertschätzend formuliert – Scheißdreck an, ich verdiene mein Geld nämlich nicht damit, blöde in jede Kamera zu grinsen. Und das war´s dann auch. Wenn Sie mich noch einmal belästigen, verklage ich HOT! Und das wird Ihre Redaktion hoffentlich so freuen, dass sie Sie fristlos feuern.“

      Damit schaltete sie ab, leicht erstaunt über ihre eigene Aggressivität. Sie zitterte regelrecht vor Wut. Damit hatte sie vorhin nicht gerechnet, dass die Entlassung Schmiedls den ganzen Mist wieder auf die Tagesordnung bringen würde! So dumm, sie hätte damit rechnen sollen – aber gab es denn wirklich nichts Wichtigeres? Für HOT! bestimmt nicht, die hatten an dem Krieg in Syrien, der Situation der Flüchtlinge und den rechten Umtrieben vor allem in Sachsen gar kein Interesse – magersüchtige Models, Kokainfunde in angesagten Altstadtkneipen