Am Rande. Eine Bemerkung. Anna Lohg

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Название Am Rande. Eine Bemerkung
Автор произведения Anna Lohg
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783742722935



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Erwin, der mürrische Bruder, dessen Ehefrau und deren vier Kinder wohnten. Und natürlich sollte Mia sich die Holzschuhe anziehen und sich eine Schürze überwerfen, putzen, kochen und seine Socken schrubben und dazu die zu lang getragenen Unterhosen seiner Mutter. Aber für ihren Weg zum Bäcker, zum Metzger einmal quer durch das Dorf, richtete sich Mia immer noch her. In reichlich befranster Klamotte machte sie die Besorgungen, auch weil Edmund sie dafür liebte.

      Doch Mia nähte nicht mehr, sie benutzte nicht einmal die alte Nähmaschine bei ihrer Mutter im Haus, als gehöre sie dort nicht mehr hin, schüttelte die schwarze Witwe auch darüber schweigend den Kopf. Aber Edmund sparte stillschweigend Geld, überraschte er sie schon bald mit einer nagelneuen Nähmaschine. Mias erste eigene Nähmaschine, ein richtig tolles Ding, das noch heute funktioniert. Ein schmaler hölzerner Tisch unter dem sich ein Pedal befindet, mit dem über eine Schnur ein seitlich angebrachtes gußeisernes Rad in Schwung gesetzt werden kann, welches schließlich die Nadel an der Nähmaschine ihre klopfenden Bewegungen vollführen lässt. Wenn die Nähmaschine nicht gebraucht wird, kann sie durch eine Klappe zum verschwinden gebracht werden, dann hängt sie in einem Gehäuse versteckt unter dem Tisch. Ein Deckchen drauf und eine Vase und das mechanische Gerät sieht aus wie ein harmloses Tischchen. Da stand sie nun mit einem Stuhl davor in diesem kleinen Schlafzimmer direkt am Fenster, förmlich eingequetscht zwischen dem klobigen Schrank und dem ebenso riesigen Ehebett. Diesen eingekeilten Quadratmeter machte Mia zu ihrem Himmelreich, in dem sie jede freie Minute verbrachte und nähte, auch das Alltägliche. Dort sitzend war sie sogar glücklich.

      Dem Lauf folgend kam es, wie es in der Regel eben kommt und Mia gebar ein Kind, dessen Wiege nur knapp zwischen dem riesigen Ehebett und der Wand einen Platz gefunden hätte. An dem Kindchen war alles dran, ein winziger Körper mit Armen und Beinen, nur essen konnte es nicht. Mia stillte es und stillte es, aber es behielt nichts für sich, auch nicht die Milch der Ziegen, der Kühe, nichts, alles kam oben wieder raus. Eine Mutation, die wie ein Versuch daher kam, es mit einem Lebewesen zu probieren, das gänzlich auf die Nahrungsaufnahme verzichten kann. Das Kind aber verhungerte kurz nach der Geburt, wie ein Beweis dafür, dass die Evolution nicht einem verständigen, zielgerichteten Plan folgt, sondern eher einem Prozess zwischen Versuch und Irrtum gleicht, bei dem sich mitunter der Irrtum als lebensfähig erweist. Heute ist es ein erprobter operativer Eingriff, nur ein Jungfernhäutchen am Mageneingang zu entfernen, aber damals kannte niemand den Grund und so nahm Mia die kleinen Hemdchen, die sie in Erwartung genäht hatte und legte sie in eine Truhe, ganz zu unters, und verlor keine Träne, einfach weil es so war. Kindchen sterben eben manchmal. Aber vielleicht, nur ganz vielleicht wollte dieses Kindchen nichts essen, wollte nicht leben auf dieser Welt, in dieser Gegend, in einer Zeit, in welcher der Wahnsinn allmählich normal wurde.

      Es war kaum so, dass sie eines Morgens aufwachten, aus dem kleinen Dachfenster schauten und verdutzt feststellten: "Oh, Jesses, Maria, wir sind ja alle verrückt geworden." Der Wahnsinn war gedeihlich jeden Tag ein Stück häufiger geworden und als sie längst mittendrin steckten, hielten sie es für völlig normal. Alles schien soweit gewöhnlich, nur einen belanglosen Nachweis erbringen, der sie als Arier auswies, obschon sie nicht einmal wussen, wer genau das sein sollte. Aber daran und besonders an allem anderen waren jetzt, mehr denn je, die Juden schuld. Das war nun überall zu hören, immer öfter, immer eindringlicher vermittelt durch die Röhren eines Radios, gehörte der Volksempfänger nicht einmal ihnen. So drang es von ganz weit her zu ihnen vor, von jenseits der Hügel und Wälder konnte das eigentlich nichts mit ihnen zu tun haben. Das musste Staatsräson sein, also die Angelegenheit von jenen sehr entfernten Herrschaften, die regieren, als seien sie erleuchtet, dabei bleibt die Erleuchtung das untrügliche Zeichen einer gravierenden geistigen Verwirrung. Und so dröhnte es ganz ungeniert durch den Lautsprecher, während sie sich weiter ungetrübt in ihrem Alltag verstrickten, liessen sie den Irrsinn immer näher kommen, bis er schließlich mitten im Dorf stand.

      Anfänglich waren es lediglich ein paar unübersehbare Kleinigkeiten, Wimpelchen an Fenstern, als Tischdekoration, als Wandschmuck, harmlose kleine Abzeichen vor denen sich niemand zu fürchten brauchte. Daran fanden so viele Gefallen, dass schon bald neben den Wimpelchen imposante Fahnen zur Geltung gebracht wurden, rote Stoffbahnen mit einem weißen Kreis in der Mitte, in dem ein verdrehtes schwarzes Kreuz prangte. Ein Hackenkreuz als Erkennungszeichen. Damit wurde jetzt bei all den frommen Festen das gesamte Dorf zugedeckt, an jedem Pfosten, jeder Laterne, jeder Tür, jedem Fenster hing eine Fahne, nichts wurde ausgelassen, als gelte es sich gegenseitig zu überbieten oder wenigstens nicht hinten anzustehen, bei diesem Rausch das Dorf in einem roten Meer voller schwarzer Hackenkreuze zu ertränken. Das Kunterbunte erstickte unweigerlich im Keim, als sich so viele dem Diktat eines einzigen Musters beugten und eine überwältigende Einheitlichkeit erschufen, war auch Mia ganz entzückt von diesem Dekor. Auch sie war ergriffen von dieser Ästhetik einer uniformen Geisteshaltung, die nur das eigene Motiv duldet, hätten sich davor eigentlich alle fürchten müssen, ganz besonders weil die erdrückende Gleichförmigkeit von einem erbarmungslosen Gebrüll begleitet wurde. Aber sie fürchteten sich nicht.

      Anderenorts wurde die Gleichschaltung auch mit Gewalt durchgesetzt, die bewährteste und simpleste Methode so gut wie jeden zu überzeugen: "Du glaubst jetzt sofort an das, was ich dir sage und hängst diese Fahne auf oder … ." Ich würde wohlwollend zur Kenntnis nehmen, dass ich immerhin vorher gebeten wurde, sodann meine Eingeweide und meine dumme Visage schonen, anstandslos gläubig werden und jederzeit bereit sein, alles mögliche aufzuhängen, Fahnen, …

      Aber so ganz allgemein musste nicht viel Gewalt angewendet werden, auch Mia und Edmund wurden nicht bedroht, das war im Dorf kaum nötig, die Einheitlichkeit wurde hier nachbarschaftlich organisiert, unter Freunden und Verwandten. Bis auf den Einen, der wollte partout nicht daran glauben, auch nicht als ihm auf den Eingeweiden rum getrampelt wurde. Gleich mehrere Mann sind mit Mistgabeln auf ihn los, macht das Prügeln im Schatten einer Gruppe stets sehr viel mehr Spaß, besonders weil es dadurch so unheimlich leicht wird, jemanden zu überzeugen. Aber dieser Eine ließ sich selbst mit heftiger Prügel nicht von seiner Meinung abbringen, er blieb bei seinem Glauben, hütete ein paar Tage schwer verletzt das Bett und verschwand schließlich auf Nimmerwiedersehen. Im Dorf gab es danach keinen Kommunisten mehr. Der eine von der Gewerkschaft war vorher schon weg gelaufen, tickten im Dorf nun alle gleich.

      Diese Geschichte verläuft mehr oder weniger fast immer und überall gleich: irgendein Typ hört Stimmen, vielfach vom vermeintlich ersten Beweger, der würde ihm sagen, wo es lang geht und gleichsam zuflüstern, er sei der auserwählte Führer. Irrt so ein Typ nun lange genug unbehelligt durch die Gegend, befedert der sich zwangsläufig mit irgendeinem Erkennungszeichen und verkündet lauthals seine fiebrigen Gewissheiten, planlose Beschwörungsformeln mit denen er Erlösung verspricht, vom baldigen Untergang oder was auch immer. Wenn nun gleichzeitig eine wuchernde Verelendung grassiert, reicht meist schon eine wachsende Verunsicherung, dann steigt unweigerlich die Sehnsucht nach irgendeinem Heilsbringer und so ein bekloppter Typ kommt da gerade recht. Um ihn schart sich schon bald ein immer größeres Gefolge, welches begierig die nebulösen Heilsbotschaften aufsaugt, um damit die eigene lähmende Hilflosigkeit zu betäuben. Und da der Wahn stets nach absolutem Gehorsam verlangt, unterwirft sich die Gefolgschaft bedingungslos den allerlei Ausscheidungen des selbsternannten Führers und wähnt sich endlich ebenfalls im Besitz der einen einzig wahren Wahrheit, die zur einen einzig wahren Ordnung führe. Trunken von den eigenen Hirngespinsten wird nun für die unerlässlich gerechte Sache gekämpft, Mistgabeln und Knüppel sind dazu nur der Anfang. Soweit hätte der Typ eigentlich nur dringend in psychatrische Behandlung gemusst, dort wäre er nicht weiter aufgefallen: "Ich bin der großartige Führer eines tausendjährigen Reiches." "Ja, ja. Ganz ruhig. Das wird schon wieder. Bald gibt es Abendbrot und die Medikamente." Aber den wahnwitzigen Anhängern ist nicht mehr zu helfen, lassen sie sich nicht davon abhalten, mit ihrem geliehenen Wahnsinn andere bestenfalls verrückt zu machen, hinterher, wenn alles in Schutt und Asche liegt, können sie sich an nichts mehr erinnern: "Ich hab von alledem nichts gewusst. Ich hab nur Befehle befolgt." Sobald Gewalt zum annehmbaren Mittel der Überzeugung wird, enden diese Geschichten immer gleich: für mindestens einen mit dem Tod. Da mag so ein Verrückter irgendwie ansteckend wirken, doch dass Ungerechtigkeit und Elend einen Irrsinn buchstäblich beflügeln können, zumindest dem Ekel und dem Hass als Nährboden dienen, wird oft übersehen, würden haltlose Zustände ansonsten tunlichst vermieden und nicht andauernd gedankenlos