Am Rande. Eine Bemerkung. Anna Lohg

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Название Am Rande. Eine Bemerkung
Автор произведения Anna Lohg
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783742722935



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Ganz zu unterst Eva, aus Adams Rippe. So bleibt alles hübsch geschichtet und jeder bekommt ein genau abgemessenes Stückchen vom Kuchen, solle da bloß nichts durcheinander geraten, damit die köstliche Ordnung gewahrt bliebe.

      Und mein Großvater mittendrin, irgendwo auf den unteren Plätzen. Die Sippschaft im Haus schlug sich so durch, machte so dies und das, zu jeder sich bietenden Gelegenheit. Es war der Garten, der sie allesamt am Leben hielt, für eine Zierde aus prächtigen Blumen gab es hier keinen Platz. Manchmal glaubte auch ein altes Huhn dran, zu irgendwelchen Festen ein alter Bock, Wildtiere konnten dagegen nur wenige ungestraft essen. Wenn es mal insgesamt wieder knapp wurde, noch enger als sonst, suchte der nächste an der Reihe das Weite, bis auf einen Onkel, der zog mit einer Ziege in den nahen Wald. Schon bald sah er mit seinen zottelig langen Haaren wie die Ziege aus und er roch auch so. Aus dem Wald kam er nur raus, wenn ihm zu kalt wurde, dann suchte er mit dem Tier irgendeine Scheune auf. Klar, ihm wurde eine Menge nachgesagt: er würde Brot klauen, wenn Laiber draussen im Hof auf der Bank zum abkühlen lagen oder sich heimlich was von einem heimlich gebrannten Fusel abfüllen, aber das ließ sich nie beweisen. Natürlich hielten ihn alle für verrückt, aber auch das konnte nie bewiesen werden. Doch ohnehin gelten stets jene Lebensweisen als verrückt, die sich bislang noch nicht durchgesetzt haben, aber immerhin konnten diese damals noch ungestört im Wald ausprobiert werden.

      

      Das war die Welt meines Großvaters und sie erschien ihm groß und weit, voll mit ungeheuer vielen Sachen zum entdecken, aufregend, spannend. So kam da mal ein Automobil vorbei gefahren, so ein Fuhrwerk auf vier Rädern ohne Ochsen vorweg. Motorisiert! Davon hat er mir erzählt, seinem Enkelkind, derweil ich seine Aufregung nicht verstand, hätte ich doch gerne mal ein Fuhrwerk mit Ochsen vorweg gesehen!

      Ganz abenteuerlich wurde es meinem Großvater im Großen Krieg, so wurde es genannt, wie ein fernab veranstaltetes großes Spektakel zu dem fast alle Männer aus dem Dorf geeilt waren, sogar sein alter Vater, die Onkels und die weit älteren Brüder. Sein Vater sei da gleich am ersten Tag gefallen, sagte seine Mutter, meinte mein Großvater, er wäre gestolpert. Nicht so tragisch. Zu jener Zeit waren fast nur Frauen im Dorf, wenigstens bei ihm zu Hause und das erschien ihm angenehm friedlich. Nur sein Onkel, der der nach Ziege roch, kam jetzt öfter aus dem Wald und half im Haus oder im Garten. Bevor seine Mutter ihren Schwager, diesen Waldmenschen, ins Haus gelassen hatte, musste der erst in den Zuber, sich gründlich schrubben, Haare schneiden, Bart kürzen. Danach sollte mein Großvater seinen Onkel gar nicht wieder erkennen, gekämmt sah der kein bißchen verrückt aus, doch manchmal gab er sich so, damit er nicht an die Front muss, sagte seine Mutter. Ein ganz normaler Kriegsdienstverweigerer, der den Krieg für verrückt hielt und mein Großvater mochte seinen Onkel. Eine wunderbare Zeit, ihm wollte scheinen, für alle.

      Allmählich, wie der Reihe nach, kamen ein paar der Männer zurück, die meisten auch nicht wieder zu erkennen. Ganz harmlos waren jene, die völlig gestört drein blickten oder jene, denen ein Arm fehlte oder ein Bein, gar beide Arme, beide Beine. Die Alpträume bekam mein Großvater nur von diesen Entstellten, wie dem Nachbarn, der zum Glück kaum das Haus verließ. Dem fehlte ein Auge. Und irgendwie auch der Wangenknochen. Eingehend hatte mein Großvater dieses Trümmerfeld nicht betrachtet, vielmehr schnell weg geschaut, aber es fehlte ganz bestimmt auch ein Ohr. Und diese gematschte Hälfte vom Gesicht war wie geknittert, den Hals runter, vermutlich bis zum Armstummel. Solch Ungestaltete gab es einige und dort mitten im Frieden des Dorfes sollte mein Großvater das Gesicht des Krieges sehen. Der Schrecken war an diesen Heimkehrern deutlich zu erkennen, manche zitterten noch, schüttelten sich, Krieg, das war nichts, wo irgendjemand hingehen sollte.

      Noch während dieses ruhigen Friedens, früh am Morgen eines sonnigen Tages, mein Großvater saß in diesem großen, dunkeln Gemäuer vor der Tafel, da hörten sie es kommen, zuerst noch leise, dann lauter werdenden. Ein donnerndes Grollen näherte sich dem Dorf. Die Kinder wussten es sofort, auf ihren Stühlen waren sie nicht mehr zu halten, noch nie zuvor hatten sie eines gesehen, aber längst davon gehört und jetzt sollte es kommen, von den Hügel her über das Dorf sausen. Da standen sie dort unten, die ganze Schule war auf den Schulhof gelaufen und alle starrten gebannt in den blauen Himmel. Das stille Staunen sollte schallendem Jubel weichen, als dieses Flugzeug im Tiefflug über den Hof donnerte. Die Kinder winkten und winkten ihm nach und es schien als strecke jemand dort oben am Himmel die Hand aus, zum Gruß. Das, so dachte mein Großvater, nachgerade davon war er überzeugt und mit ihm vermutlich all die anderen Kinder, das sei die Zukunft. Eine blendende Zukunft, die ihnen aus einem Flugzeug zu winkte! Was für eine großartige Welt würden die Erwachsenen ihnen noch bereiten? Mit was für wunderbaren Sachen würden sie die Kinder noch überraschen? Im Grunde waren es doch herrliche Spielsachen, diese Radios, diese Automobile, nun Flugzeuge. Was wäre als nächstes dran? Vielleicht ein Flug zum Mond, der Sonne, den Sternen?

      Damals, dort auf diesem Schulhof, hatte mein Großvater keinen blaßen Schimmer, dass dies wunderbare Flugzeug irgendwo in der Ferne krachend eine Bombe abwerfen würde, damit die da unten alle stolpern oder so aussehen wie der Nachbar. Erwachsene basteln sich eben ganz herzergreifende Spielsachen, denken sich ganz possierliche Spielchen aus und ziehen sogleich in die nächste Schlacht, in den Kampf um die Ehre, Stolz, weiß der Kuckuck. Dabei versteht kaum ein Krieger dasselbe unter Ehre und jeder Krieger hat seinen ganz eigenen Stolz. Wenn wie zum Trotz endlich etliche massakriert wurden, Frauen und Kinder vergewaltigt sind, Dörfer dem Erdboden gleichgemacht und Städte niedergebrannt, dann, ein paar Jahre später, ruht friedlich auf dem einst blutverschmierten Schlachtfeld ein Parkplatz. Für Autos zum Stehen.

      Kurz nach dem Flugzeug kamen die Feinde ins Dorf. Feinde, das sind immer diesselben Leute, letztlich kaum voneinander zu unterscheiden, kann ausnahmslos jeder damit gemeint sein. Feinde, wenn nicht im Spiegel, machen sich vornehmlich dadurch bemerkbar, dass die ohne Rücksicht auf Verluste durch die Rabatten marschieren. Das ist denen ja sowas von scheißegal, ob die den jungen Kohl platttreten oder die Kartoffeln zertrampeln. Und die kamen wie immer, auch diese Feinde waren über denselben Hügel gekommen: vom Friedhof aus betrachtet, die Kathedrale im Rücken, links.

      Mein Großvater hatte noch nie einen Feind gesehen und tatsächlich, ohne Vorbehalte, räumte er schnell, sehr schnell ein, wie sehr ihm dieser Feind imponierte. Gleich beim ersten Mal hatte nur hingucken gereicht. Da stand der Feind, gänzlich unerwartet, im Garten, als mein Großvater von der Schule nach Hause kam. Fröhlich pfeifend, vermutlich die Hymne seines siegreichen Landes, stand er am Zuber mit nacktem Oberkörper und wusch sich. Meinem kleinen Großvater fiel die Kinnlade runter, so dermaßen verblüfft war er. Der wusch sich, der Kerl, ganz ungeniert, den Bauch, immer noch pfeifend unter den Achseln, die Arme, schließlich das Gesicht. Mit Wasser. Endlich fand mein Großvater seine Sprache wieder.

      "Bat öhs dat dann?", schrie er.

      "N' Neja.", sagte seine Mutter, die neben ihm gestanden hatte und mindestens genauso erstaunt diesem Schauspiel gefolgt war. Sie hatte schon öfter so einen gesehen, wenn mal wieder die drei heiligen Könige durch das Dorf gezogen waren, aber der schwarze König wusch seine Farbe nach der Aufführung stets wieder ab. Doch die Farbe da, die ging nicht ab. Ganz zaghaft näherte sich mein Großvater dem Feind, vorsichtig, fast zärtlich strich er über dessen Arm.

      "Hey, boy.", lächelte der schwarze Mann und beachtlich schnell wurden aus Feinde Freunde, eben wie umgekehrt.

      Keine Ahnung, warum dieser Feind unter dem Banner der Streifchen und Sternchen in den Krieg gezogen war, was sollte es ihn kümmern, wenn die Barbaren Europa verwüsteten? Es hätte ihm eigentlich nur recht sein können, wenn sich in Europa die Weißen gegenseitig die Köpfe einschlugen: sollen die doch, bis keiner mehr von denen übrig ist. Wie meist in solchen Fällen wird es das Geld gewesen sein, stolzer Ehrenkram spielt dabei keine Rolle. Für Geld sind viele bereit, sich den Kopf einschlagen zu lassen, um sich anschließend vielleicht ein Stück Land zu kaufen, ein Haus drauf zu bauen, um darin eine Familie zu gründen, in Frieden Kinder groß zu ziehen, auf das jene es dann besser haben, was so viel meint, wie: die Kinder sollten es nicht nötig haben, sich für Geld den Kopf einschlagen zu lassen.

      Jedenfalls wurden der große schwarze Mann und der kleine weiße Großvater Freunde, für die Zeit, in welcher der Soldat im Ziegenstall des