Am Rande. Eine Bemerkung. Anna Lohg

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Название Am Rande. Eine Bemerkung
Автор произведения Anna Lohg
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783742722935



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Gegend, glücklicherweise, großräumig gemieden. Im Schatten anderer Orte mit weniger Glück, weil weniger Hügeln, dort wo die Macht mit Pracht entfaltet werden konnte und famöse Reiche ausgerufen wurden, um frohgemut Krieg zu veranstalten, da hätten die Bewohner von Zweiburgen eigentlich vieles möglich machen können. Unbehelligt zwischen Hügeln hinter dichten Wäldern hätte Utopia einen Ort haben können, Muscheln wären zu Bargeld erklärt worden oder man hätte wenigstens die Selbstbestimmung ausprobieren können oder man hätte das Dorf der freien Liebe ausgerufen, das Strafrecht abgeschafft, das Matriarchat gelebt, zumindest die Gleichberechtigung, in Zweiburgen hätte man es mit Humor angehen können. Aber schon meine Ururururgroßmutter fragte andauernd: "Wo kommen wir denn hin, wenn hier jeder macht, was er will?" Und so macht auch in Zweiburgen, jeder was ein anderer will. Versteckt hinter Wäldern zwischen Hügeln ist der gesamte Kladderadatsch todernst gemeint und die ungeheure Kathedrale mittendrin ist dafür das beredtste Zeichen, sie wirft ihren langen Schatten, auf jeden Versuch es mal anders zu machen.

      In der Mitte des Dorfes, quasi dem Zentrum der Macht, finden sich auch in Zweiburgen all die nötigen Utensilien mit denen gemeinhin Staat gemacht wird: so gibt es hier neben dem Bethaus ein Rathaus, angrenzend hat der Wachtmeister seinen Posten bezogen, während das Wirtshaus nebenan als Handelskammer dient, kam später eine Bank dazu, weshalb bald eine Schule her musste, damit auch der allerletzte Tölpel auf einem Kreditvertrag ein Kreuzchen machen konnte, machte erst jetzt das Postamt Sinn und als die Kräutersammlerin zur Giftmischerin erklärt wurde, konnte eine Apotheke Gewinn abwerfen und gleich gegenüber der Herr Doktor eine Praxis eröffnen. Zusammen genommen bildet dies den inneren Kreis des Dorfes und wer hier dazu gehört, zählt zu den besseren Kreisen, die sich selbst als erlauchte Herrschaften verstehen.

      Dahinter, also außerhalb des Zentrums, quasi der Macht, findet sich schnell die Bäckerei von Johann, gleich neben dem Friseursalon schustert Wilhelm und hier gibt es noch diesen gewissen Laden in dem es restlos Alles gibt. Tante Erna hat ihren Laden an der Ecke nah der Schule und was dort nicht auf den Regalen steht, liegt entweder darunter oder dazwischen. Allerdings liegt Tante Erna inzwischen selbst schwer vermodert auf dem höchsten Hügel, wegen einem Herzinfarkt, der sie ereilte, kurz nachdem ein Supermarkt eröffnet wurde, in dem es noch sehr viel mehr von Allem gibt. Die Bäckerei musste wenig später ebenfalls dicht machen, Wilhem, der letzte Schuster ist dann auch bald gestorben, der Friseur braucht mindestens eine neue Brille und die Briefmarken gibt es jetzt auch im Supermarkt, weil doch das Postamt geschlossen wurde. Und dort wo einst das Bankhaus stand, plätschert heute ein niedliches Wasserspiel. Einzig die Apotheke gibt es noch, wegen dem Altenheim, dort ist jetzt auch der letzte Doktor zu finden, ein Spezialist für die Gebrechen der reiferen Jahrgänge. Weit abgelegen ist nur noch eine Metzgerei übrig geblieben, dort schlachtet der Erich einmal im Jahr eine einzige Kuh, aus Liebhaberei. Alois, der Schreiner, macht inzwischen nur noch Särge und besorgt gleichtzeitig die gesamte feierliche Abwicklung. Und so ist auch Zweiburgen befriedet, halten sich hier alle gewissenhaft an die Hausordnung, das seien die Gesetzte des Staates, weswegen der Wachtmeister endgültig seinen Posten räumen konnte.

      Am Rand des Dorfes hausen entsprechend die ganz einfachen Leute, kaum der Rede wert, es sind meist nur Bauern, müssen die inneren Kreise ja irgendwie genährt werden, die besseren Leuten sich von irgendwas abheben können. Und all die Bauern, sozusagen das niedere Volk, verrichtet die schwere und dreckige Arbeit, pflügt Äcker, melkt Ziegen, baut Burgen, hört sich erschöpft die Moritaten über heldenhafte Figuren an, lässt sich über die feinen Sitten belehren, welche ihm nicht zu eigen wären, hätte es doch sonst nicht so viel Dung an den Schuhen. Und somit gilt: je niedriger das Volk desto höher die Kultur. Eine bessere Gesellschaft gibt es in Zweiburgen soweit auch nicht.

      So bleibt am Ende selbst das größte Nest bloß ein Abklatsch des kleinsten, weil die Begierden sich nicht unterscheiden. Es fängt doch stets gleich an, wenn irgendwo irgendwer hoch hinaus will und dafür erst einmal Steine aufeinander legt, andere dem Beispiel folgen und Generation um Generation, Flurbereinigung um Flurbereinigung die Angelegenheit in die Landschaft wuchert. Um jenen ersten Grundstein herum stehen somit die ältesten Häuser, manche davon sind sogar aus den gleichen Quadern wie das Haus Gottes gemauert, also auch mit viel Geld gesegnet. Die meisten Häuser aber sind aus Balken gezimmert, das hölzerne Gerippe vornehmlich mit Lehm gefüllt, ergeben es beengte Behausungen manchmal noch von brüchigen Scheunen umgeben, in denen mittlerweile jedoch keine Ziegen mehr parken. Daher lässt sich das Alter der Häuser an der Entfernung zur Mitte bestimmen und wer die je neuste Straße sucht, der wage einen kurzen Blick in die Gärten, denn bei der jüngsten Bebauung ist gerade mal soeben der Rasen angelegt und die Sträucher sind noch unscheinbare Setzlinge. Entsprechend kann an der Höhe der Gewächse das Alter des Nachwuchses in den Häusern abgeschätzt werden, wenn in den Gärten allerdings der Wildwuchs überwiegt, weil niemand mehr da wäre der sich noch redlich kümmert, dann wohnt dort jene Generation die bald abtritt. Folglich werden in dieser Straße die Häuser alsbald verwaisen, die Gärten veröden oder es kommen andere nach, als würden sie alles durcheinander bringen, am Ende dort gar nicht hingehören, sind es womöglich Städter auf der Suche nach der Ursprünglichkeit. Jedenfalls wird auf diese Weise auch in Zweiburgen die historische Entwicklung erfahrbar, wenn Formen, Größen, Materialien, wie die Jahresringe eines Baumes, eine Auskunft geben über die jeweilig herrschenden wirtschaftlichen Witterungen. Da sind manche Straßen lang, gesäumt von wuchtigen Häusern aus Zeiten eines langen Friedens und üppigen Vorräten. Die meisten Straßen aber sind kurz, die Häuser dürftig, vermutlich kam ein Krieg dazwischen, gefolgt von einer Hungersnot, mitunter scheint eine Straße zu fehlen. Hier findet sich alles, was so passieren kann und sich baulich materialisieren lässt, Moden, Entbehrungen, Auswüchse, Zerstörungen, nur eine geradlinige Entwicklung ist nirgends zu erkennen.

      Nach so einem eindrücklichen Rundgang durch die gelebte Geschichte drängt sich allerdings die Frage auf, worin genau der Wandel, letztlich der Fortschritt eigentlich bestehe. Es will scheinen, als stecke er bloß in sowas wie einer Fernbedienung fest, meinetwegen zum Öffnen eines Garagentors. Das angeblich Moderne bleibt stets umgeben vom angeblich Überholtem und wird mitunter sogar davon überdeckt. So wie die Kathedrale, mittendrin und alles überragend, ihren langen Schatten wirft oder die Großmutter in der Dachkammer, welche den Enkelkindern unbeirrt ihre antiquierten Ansichten aufschwatzt. Trotzdem wird nach so einem Rundgang ein Wandel irgendwie sichtbar, als ein undefinierbarer Kuddelmuddel, muss wohl auch Fortschritt so verstanden werden.

      Früher, als noch alles ganz anderes war und doch ganz genauso, ist das Dorf erkennbar langsamer in die Landschaft gewachsen, gewissermaßen entschleunigt, und das trotz einer entfesselten Geburtenrate. Während inzwischen um die nationale Bestandserhaltung gebangt wird, sollte ehedem der reiche Vorrat an Kindern nie sonderlich lange halten: vor dem Penicillin sorgten Bazillen für ein natürliches Gleichgewicht zwischen den Arten, Ernteausfälle hatten ihren Anteil an der Dezimierung und nicht zuletzt trugen die regelmäßig veranstalteten Massaker erheblich zum Schwund bei, während die, die dennoch am Leben blieben, meist überzählig waren. So schrumpfte der Bestand in jener Gegend zwischen Hügeln hinter Wäldern vor allem, weil beträchtlich viele flohen, gab es dort nämlich nicht einmal von der Erbärmlichkeit für alle genug. Woanders das Glück schmieden, hieß das beschönigend, klang das nach beschwingter Auswanderung, leichtem Gepäck und Erholung auf dem Sonnendeck, indes die Flüchtlinge mit Dürftigkeit vollbeladen quasi abdampften, mit dem Schiff auf in die so genannte neue Welt. Was sich in der Abgeschiedenheit von Zweiburgen niemand getraut hatte, wollten sie auf einem anderen Kontinent wagen, dort läge das verheißungsvolle Land der unbegrenzten Möglichkeiten, dort gäbe es Freiheit für alle, selbstverständlich erst nachdem es vorher von Indianern befreit worden war. Auch in diesem gelobten Land floss nicht Milch und Honig, vielmehr teilten alle bloß einen großen Traum, in dem Jedermann, meint jeder weiße Mann, vom Untertan zum König werden könnte. Für diesen Traum ist die bittere Armut allerdings unerlässlich, bräuchte doch sonst niemand davon zu träumen, sich durch bedingungslos harte Arbeit aus dem Elend zu befreien. Das seien gepriesene Verhältnisse, in denen durch die eigene Unterjochung jeder ein König werden könne, wenngleich nur eventuell, vielleicht, eher nicht. Letztlich war von den bleichen Gesichtern mit ihren fahlen Geschichten nichts anderes zu erwarten gewesen, gleichwohl haben sie es weit gebracht, von hier aus einmal quer über den Atlantik.

      Unterdessen mühten sich jene die zurück blieben waren,