Sie las in einem dicken Wälzer. Gwyn stand auf dem Balkon und beobachtete die Klasse. Ein eiskalter Tropfen fiel ihr in den Nacken und sie zuckte zusammen. Der Wind trieb das Unwetter genau auf die Burg zu. Mit wachsender Beunruhigung sah sie einen Blitz über den nachtschwarzen Himmel zucken. In einiger Entfernung grollte dunkler Donner. Eine böse Ahnung stieg in ihr auf. Fräulein Rudin würde erst das Unwetter abwarten, bevor sie die Bestrafung beendete. Sie würde sich hier draußen den Tod holen! Die Zeit wollte scheinbar nicht vergehen. Die Mädchen im Klassenraum bewegten sich nicht und Fräulein Rudin schien nicht einmal zu atmen. Wie tot lag der Raum vor ihr und sie fühlte sich wie eine Ausgestoßene. Immer mehr Tropfen fielen nun vom Himmel herab. Der Türsturz, unter den sie sich gestellt hatte, war nicht annähernd breit genug, um sie zu schützen. Ihr Kleid war nach kurzer Zeit nass und der Boden wurde schlüpfrig. In dem kalten Wind begann sie zu frieren. Sie schlang die Arme um den Leib um sich warm zu halten. Sie würde diese Frau umbringen, wenn sie das hier überlebte. Ihre Zähne klapperten. Das Donnergrollen kam immer näher. Im Zimmer herrschte eine ähnliche Kälte wie draußen. Doch diese schien sich nicht auf den Körper, sondern auf den Geist auszuwirken. Anna zitterte vor unterdrückter Wut und Bestürzung. Aus den Augenwinkeln beobachtete sie Gwyn. Als sie bemerkte, dass es auch noch zu hageln begann, brach der rasende Zorn aus ihr hervor. Wütend ergriff sie das Buch auf ihrem Kopf, sprang auf und in einer blitzschnellen Bewegung warf sie es nach der Bibliothekarin. Doch die so plump wirkende Frau musste dem Geschoss mit einer so schnellen Bewegung ausgewichen sein, dass Anna sie nicht gesehen hatte. Das Buch klatschte direkt hinter ihr an die Wand und blieb auf dem Boden liegen. Es hätte sie am Kopf treffen müssen, aber es war scheinbar durch sie hindurchgegangen. Die Mädchen waren vor Schreck zu Salzsäulen erstarrt. Fräulein Rudin lächelte nur. „Ungehöriges Verhalten muss bestraft werden.“ Sie stand auf, kam auf Anna zu und packte mit so festem Griff ihr Handgelenk, dass Anna scharf die Luft einzog. Dann zerrte sie sie hinter sich her zum Fenster. „Ihr könnt eurer Freundin nun Gesellschaft leisten. Ihr anderen macht weiter. Habe ich euch gesagt, dass ihr aufhören sollt?“ Erschrocken griffen die Mädchen wieder nach den Büchern. Sie waren völlig eingeschüchtert. Das Fräulein schubste Anna auf den Balkon. Sie rutschte auf dem nassen Boden aus und wenn Gwyn sie nicht festgehalten hätte, wäre sie über die niedrige Brüstung gefallen. Mit einem Knall warf die Bibliothekarin die Flügeltüren zu und begab sich ungerührt wieder auf ihren Platz. Das Unwetter fing an immer schlimmer zu wüten. Nach einer Weile begann Fräulein Rudin zu sprechen und die Mädchen nahmen die Bücher vom Kopf. Es musste jetzt weit über Mittag sein. Anna und Gwyn drängten sich zusammen. Nacheinander verließen die Mädchen die Bibliothek. Doch das Fräulein schien das Fenster nicht öffnen zu wollen, obwohl die Stunde scheinbar beendet war. Sie beugte sich über ihren Schreibtisch und machte sich eine Weile an den Schubfächern zu schaffen. Dann verließ sie den Raum und ging in ihr Büro. Die Minuten verstrichen. „Was macht die nur so lange da drin? Will sie uns nicht reinlassen?“ Anna hämmerte wütend gegen die Scheiben. „Machen Sie endlich auf!“ schrie sie wütend. „Lass das doch.“ Gwyns Zähne klapperten. „Wenn du ihr zeigst, wie wütend du bist, dann hat sie erreicht, was sie will.“ „Wie kannst du dir nur so sicher darüber sein, was sie will? Vielleicht möchte sie uns umbringen? Der Stoß vorhin hätte mich beinahe über die Brüstung geschleudert! Sie hat unglaublich viel Kraft für so eine alte Schabracke.“ Wieder hämmerte Anna wütend gegen die Scheibe. „Diese Frau ist doch kein menschliches Wesen! Das Buch hätte sie eigentlich treffen müssen. Ich weiß gar nicht, wie ich daneben werfen konnte.“ Gwyn schüttelte den Kopf, dass die Tropfen nur so flogen. „Du hast nicht daneben geworfen. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich schwören, dass sie kurz verschwunden war und sofort wiederaufgetaucht ist. Das Buch ist durch sie hindurchgegangen. Aber das kann nicht sein! Es ist völlig unmöglich!“ Anna starrte sie verwundert an. „Sie ist aus Fleisch und Blut. Man kann immer noch sehen, wo sich ihre Fingernägel in mein Handgelenk gebohrt haben.“ Wütend betrachtete sie die Stelle, wo sich die hässlichen roten Kratzspuren von der hellen Haut abhoben. Ganz in der Nähe schlug ein Blitz ein und darauf folgte unmittelbar ein Donnergrollen, dass die Fensterscheiben zitterten. Gwyn zuckte zusammen. Anna musste niesen. „Wir erkälten uns hier draußen. Sie muss uns jetzt reinlassen.“ Gwyn nickte nur matt. Sie merkte, wie ihre Kräfte schwanden. Sie würde ernsthaft krank werden, wenn sie nicht bald ins Warme kam. Müde ließ sie sich auf den Boden sinken. Anna setzte sich neben sie.
Tristan hatte sich nach dem Essen für die vorgeschriebene Mittagsruhe auf sein Zimmer zurückgezogen. Nach dem Ende der Prüfungen begann nun ein äußerst hartes Training zusammen mit den einfachen Soldaten. Während er dem wachsenden Unwetter zusah, versuchte er mit einer Entspannungsübung seine von den Verletzungen immer noch verkrampften Muskeln zu lockern. Die Wunde im Nacken hatte sich zwar geschlossen, aber er spürte, wie sie pulsierte und pochte. Dreimal war er schon beim Wundarzt der Ehrengarde gewesen. Dem höfischen Leibarzt vertraute er nicht. Aber auch der mit Kampfverletzungen erfahrene Kommandant hatte ihm nicht helfen können. Er behauptete, die Wunde sei vollständig verheilt. Wütend knirschte Tristan mit den Zähnen und versuchte sich wieder auf die Übung zu konzentrieren. Für einen Moment gelang es ihm auch, die Muskeln im Rücken zu lockern. Dann schweiften seine Gedanken wieder ab. Geistesabwesend strich er sich mit der Hand über den Nacken. Dann war er plötzlich höchst konzentriert. Er hatte Stimmen gehört. Aber sie schienen nicht vom Flur, sondern von draußen zu kommen. Aber da waren nur der steile Abhang und der Ausblick über das Tal und die Stadt. Es konnte niemand unter seinem Fenster sein. Er wartete eine ganze Weile und lauschte. Nach dem Angriff war er vorsichtig geworden. Da hörte er es wieder! Das waren eindeutig Stimmen. Verwundert stand er auf und öffnete das Fenster. „Ich fühl mich gar nicht gut.“ schniefte Gwyn. Wasser rann ihr aus den Haaren über die Stirn und in die Augen. Mit einer fahrigen Geste wischte sie sich über die Wangen. Anna rückte näher und legte den Arm um sie. Die Prinzessin glühte bereits vor Fieber. Sie war eine sehr zarte Person und ein solches Wetter nicht gewohnt. „Weißt du, in Kaltbach haben wir laufend solches Wetter. Wenn die Stürme von den Bergen ins Tal rollen, bleibt manchmal nicht ein Halm auf dem Acker stehen. Aber jedes Unwetter geht einmal vorbei.“ Anna versuchte sie zu beruhigen. Aber je länger sie hier saßen, desto unruhiger wurde sie selbst. Schließlich stand sie wieder auf und klopfte erneut gegen die Scheibe. „Fräulein, öffnen Sie!“ schrie sie so laut sie konnte. „Öffnen Sie die Tür!“ Doch der Wind zerriss ihre Stimme und der Ruf ging im Heulen des Sturms unter. Gerade als sie sich überlegte, ob sie die Tür aufbrechen sollte, hörte sie aus dem oberen Stockwerk eine Stimme. „Hey!“ Zu seiner Überraschung waren Anna und die Prinzessin auf dem kleinen Balkon im Stockwerk unter ihm. „Wie kommt ihr denn dorthin?“ Anna winkte zu Tristan rauf und zog Gwyn auf die Füße. „Wir wurden ausgesperrt. Komm runter und hilf uns!“ In dem Sturm konnte er ihre Worte kaum verstehen. „Wo seid ihr?“ „Auf dem Balkon in der Bibliothek!“ Gwyn winkte nun ebenfalls. „Seid vorsichtig.“ Er wandte sich um, schloss das Fenster und rannte hinunter in den ersten Stock. Den Weg zur Bibliothek legte er in Rekordzeit zurück. Doch an der Tür zögerte er kurz, atmete tief durch und drücke dann vorsichtig die Klinke nach unten. Er konnte sofort das Fenster und die beiden Mädchen sehen. Anna hatte den Finger auf die Lippen gelegt und deutete nach rechts. Er öffnete die Tür ein Stück weiter und betrat langsam den Raum. Die Tür zur Schreibstube stand angelehnt und er konnte jemanden darin herumgehen hören. Er schlich an der Tür vorbei. Was für ein Unmensch sperrte andere Leute bei dem Wetter auf den Balkon? Schon war er bei dem Flügelfenster angekommen und öffnete den Hebel. Nass und erschöpft kamen ihm die Mädchen entgegen. Die Prinzessin konnte kaum noch stehen und stützte sich auf Anna. Diese musste ein Niesen unterdrücken. Kalte Luft wehte von draußen herein und bauschte die Vorhänge. Tristan nahm Anna die erschöpfte Prinzessin ab und hob sie kurzerhand auf die Arme. Anna schloss das Fenster und sie durchquerten leise die Bibliothek, immer mit den Augen auf der angelehnten Tür. Annas Füße patschten leise und hinterließen dunkle Wasserflecken auf den alten Holzdielen. Dann hatten sie es geschafft und standen im Flur. Gwyn war es unangenehm, Tristan so nahe zu sein. Sie fühlte sich elend und armselig. Dem Schwindel in ihrem Kopf zum Trotz bedeutete sie ihm, sie runter zu lassen. Sie schniefte noch immer. „Wir müssen uns umziehen gehen. Und dann müssen wir mit den anderen sprechen. Keine Minute länger ertrage ich diese Person!“ Sie bemühte sich um eine gerade Haltung und machte sich daran, die Treppen hinaufzusteigen. Ihr nasses Kleid war unglaublich schwer und hing an ihr wie nasse Erde. Auf dem Absatz wandte sie