Название | Krieg und König |
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Автор произведения | Anja Von Ork |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783738064384 |
Jeden Morgen ging sie nun mit Bauchschmerzen hinunter in die Bibliothek. Seit zwei Wochen beobachteten Gwyn und Anna Fräulein Rudin nun, und die Frau hatte sich keine einzige Verfehlung seitdem geleistet. Dafür war sie unangebracht streng, aber das genügte nicht, um bei ihrem Vater ihre Entlassung zu bewirken. Besser sie beeilte sich. In ihrer Hast wäre Gwynevra beinahe die Treppe hinuntergestürzt. Sie konnte sich gerade noch abfangen, trat aber auf den Saum ihres Kleides und mit einem scharfen Geräusch riss der feine Stoff. Schnell biss sie sich auf die Zunge, um nicht zu fluchen. Sie hatte keine Zeit mehr, um sich umzuziehen. Also hastete sie weiter und hoffte, vor Fräulein Rudin in der Bibliothek zu sein, damit sie bereits hinter ihrem Pult saß und diese folglich den lädierten Saum nicht bemerkte. Doch zu ihrem Pech hatte die Stunde scheinbar bereits begonnen. Fräulein Rudin maß sie mit abschätzigem Blick. Gwyn erkannte mit Schrecken, dass rund die Hälfte der Mädchen noch nicht da war. „Guten Morgen, Fräulein!“ grüßte sie artig und versuchte nicht an den Saum zu denken, als ob sie das vor einer Entdeckung bewahren könnte. Weit gefehlt. „Euer Saum ist in Unordnung, Hoheit.“ Das Fräulein rümpfte die Nase, als ob es nichts Abstoßenderes geben könnte als ein Stück ausgerissenen Stoffes. Gwyn bemühte sich um einen überraschten Gesichtsausdruck. „Oh!“ dann begutachtete sie eingehend die beschädigte Stelle. Ein paar Stiche würde das schnell wieder in Ordnung bringen. „Vielen Dank für den Hinweis. Erlaubt ihr, dass ich mich umziehen gehe?“ Fräulein Rudins Augen funkelten. „Nein, ich erlaube nicht. Setzt euch.“ In diesem Moment ging die Tür auf und Anna kam herein. Normalerweise wäre sie pünktlich gewesen, doch heute schien der Unterricht ausnahmsweise zehn Minuten eher zu beginnen als gewöhnlich. Nach ihr folgte der Rest der Klasse und auch sie wurden mit bitterbösen Blicken auf ihre Plätze geschickt. Die Bibliothekarin nahm ebenfalls hinter dem Pult Platz und saß dort kerzengerade mehrere Minuten lang ohne zu sprechen. Als die große Standuhr im Flur neun Uhr schlug und die eigentliche Stunde beginnen sollte, stand sie auf und trat vor die Klasse. „Zu meinem Missfallen sind heute mehr als die Hälfte von euch zu spät erschienen.“ Die aufkommenden Proteste erstickte sie mit einer wedelnden Handbewegung im Keim. „Ich werde derlei nicht durchgehen lassen. Zu lange schon habt ihr hier gehockt und diese albernen Texte abgeschrieben.“ Das letzte Wort betonte sie überdeutlich. „Das einzige Ziel dieses sinnlosen Schreibens ist es, Zeit totzuschlagen.“ Jetzt wandte sie sich mit unverhohlener Häme Anna zu. „Ich wurde herberufen, euch zu wohlerzogenen jungen Damen zu erziehen. Wie es das Schicksal will, lässt mir der Großherzog in seiner Gnade bei der Gestaltung des Unterrichtes fortan völlig freie Hand.“ Anna und Gwyn tauschten schnell einen entsetzten Blick, der dem Fräulein nicht entgangen war. „Ich weiß, dass einige von euch nicht mit mir einverstanden sind. Ihr werdet schon lernen mich zu respektieren. Von nun an wird jedwede Überschreitung jedes einzelnen von euch mit der Bestrafung der gesamten Klasse geahndet.“ Sie blickte nun Gwyn direkt an und die dachte voller Schrecken an den ruinierten Saum. „Euer Kleid ist ein einziges Desaster. Eine Katastrophe, dass ihr euch so in meinen Unterricht traut.“ Gwyn musste ihr in diesem Punkt zustimmen, wenn auch aus anderen Motiven. Das Fräulein trat an ihr Pult und lächelte. „Ich muss euch beibringen, das eine Dame ihr Äußeres immer untadelig zu halten hat, genau wie ihren Ruf.“ Die Klasse saß angespannt da und wartete. „Wir beginnen mit der richtigen Haltung. Also los meine Damen. In Zweierreihen aufstellen. Und nicht schwätzen.“ Stühle wurden gerückt und die Mädchen reihten sich stumm hintereinander auf. Gwyn stellte sich an den Anfang der Reihe. Plötzlich spürte sie flüchtig eine Hand in ihrem Rücken und als sie rasch den Blick zur Seite wandte, merkte sie, dass Anna sich neben sie gestellt hatte. „Also los meine Damen, nicht drängeln.“ Dann drückte sie jedem Mädchen ein Buch in die Hand. „Diese Bücher müssen auch zu etwas nütze sein. Ihr legt jetzt das Buch auf den Kopf und durchschreitet solange die Bibliothek, bis ihr gelernt habt, nicht mehr wie die Bauerntrampel zu laufen. Die Hände dabei bitte auf den Rücken legen, wir wollen doch nicht schummeln! Wem das Buch herunterfällt, der wird selbstverständlich bestraft.“ Gwyn griff nach dem besonders dicken Buch, dass ihr die Bibliothekarin reichte. Sie würde sich ihre Frisur zerknautschen. Am Ende des Tages könnte sie dann zwar wie ein Engel einherschreiten, aber sie sah sicherlich nicht mehr aus wie einer. Nur zögerlich legte sie das schwere Buch auf ihrem Kopf zurecht. Es begann sofort zu rutschen. Wie sollte sie damit schreiten, wenn sie die Hände auf dem Rücken tragen sollte? Anna hatte ebenfalls ein sehr dickes Buch erhalten und Fräulein Rudin trieb sie zur Eile an. Sie sollten beginnen. Ein paar der Mädchen hatten das Buch bereits auf dem Kopf, bei einigen rutschte es wie bei Gwyn ständig wieder herunter. Anna trug das Buch tatsächlich wie eine Krone. Es schien zu ihrem Kopf zu gehören, so frei konnte sie sich damit bewegen. Gwyn neidete ihrer neuen Freundin diese Geschicklichkeit. Sie fühlte sich mit dem zerrissenen Kleid und der zerstörten Frisur unwohl und das Buch rutschte beständig herunter. Als sie sich in einer merkwürdigen Prozession durch die Bibliothek in Bewegung setzten, griff Gwyn erneut danach, damit es nicht zu Boden fiel. Fräulein Rudin hatte es gesehen und versetzte ihr mit einem hölzernen Lineal einen Schlag auf die Finger. Gwyn schrie auf vor Schmerz. Das Buch fiel polternd zu Boden. Ein paar der Mädchen fuhren erschrocken zurück. Auch ihre Bücher klatschten auf den Boden. Was fiel dieser Person nur ein? „Die Hände auf den Rücken, meine Liebe.“. Zähneknirschend bückte Gwyn sich nach dem Buch und drückte es wieder auf ihre blonden Locken. Nie würde sie dieser Person eine derartige Behandlung verzeihen!
Eine Weile ging es ganz gut. Doch bald wurden die Mädchen müde und immer öfter griffen sie nun nach den Büchern, damit sie nicht herunterfielen. Fräulein Rudin verteilte schmerzhafte Hiebe mit dem Lineal und konnte sich ein schadenfrohes Lächeln nicht verkneifen. Gwyn hatte schon ganz blaue Finger. Sie wunderte sich, wie ihr Vater eine derartige Behandlung zulassen konnte. Sicherlich wusste er nichts von den Methoden, die das Fräulein bei der Erziehung anwandte. Erneut kam das Buch ins Rutschen, doch Gwyn konnte nicht mehr schnell genug danach greifen. Krachend fiel es zu Boden. In den kalten Augen der Bibliothekarin blitzte es erfreut auf. „So meine Damen, es ist genug. Wir werden das morgen noch einmal wiederholen, und von nun an jeden Tag, bis es geht. Setzen!“ Gehorsam gingen die Mädchen zu ihrem Platz. Fräulein Rudin stand vor Gwyn und betrachtete stirnrunzelnd das Buch auf dem Boden. Es war mit dem Buchrücken aufgeschlagen und der Einband war dabei zu Bruch gegangen. Ganz schief und armselig lag es mit aufgeschlagenen Seiten da wie ein großer dunkler Vogel, der sich das Genick gebrochen hatte. „Ihr habt das Buch fallengelassen.“ Stellte Fräulein Rudin nüchtern fest. „Es ist beschädigt.“ Gwyn verknotete nervös die Finger. „Das war ein Versehen!“ stieß sie hervor. Was würde die böse Frau nun anstellen? Das Fräulein fasste Gwyn am Arm und zerrte sie zu dem großen Flügelfenster und auf den Balkon. Draußen hatten sich die Wolken zu wütenden Bergen aufgehäuft und ein paar einzelne Tropfen fielen gegen das Glas. „Wem das Buch herunterfällt, der gehört bestraft. Ihr seid vom Unterricht ausgeschlossen, bis ich euch wieder dazu rufe.“ Mit diesen Worten öffnete sie das Fenster und stieß Gwyn auf den kleinen Balkon. „Was soll ich denn hier?“ rief sie und starrte auf das drohende Unwetter. Fräulein Rudin machte sich daran, dass Fenster zu schließen. „Ihr wartet, bis ich wieder geneigt bin, euch zu unterrichten, meine Liebe.“ Damit verschloss sie das Fenster und fuhr mit dem Unterricht fort.
Anna saß auf ihrem Platz und starrte Gwyn an, unschlüssig, ob sie nicht einschreiten sollte. Doch Gwyn schien ihre Gedanken zu ahnen und schüttelte unmerklich den Kopf. Das Fräulein hatte Platz genommen und wies die Mädchen nun an, gerade zu sitzen und das Buch wieder auf den Kopf zu legen. Anna hasste diese